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Arnold Künzli: Über Marx hinaus - Beiträge zur Ideologiekritik. Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau, 1969.

 

 

Endlich wieder ein lesbar und gepflegt geschriebenes wissenschaftliches Werk. Ob es daran liegt, dass der Autor ein Schweizer ist, der der Sprache noch Sorgfalt angedeihen lässt und ganze Sätze macht?

 

PD Arnold Künzli dissertierte in Zürich über Kierkegaard, war lange Jahre Auslandkorrespondent und Redaktor, habilitierte sich 1964 für Philosophie der Politik an der Basler Universität und schrieb Bücher über den Kommunismus, Vietnam und Marx. Seine nun gesammelten "Beiträge zur Ideologiekritik" - elf Vorträge und Aufsätze - liest man auch als Nichtfachmann mit Genuss und Gewinn. [Arnold Künzli lebte von 1919 bis 2008.]

 

Ideologiekritik heisst Kritik an "falschem Bewusst sein" und Befangenheit hüben und drüben, Durchleuchtung von Theorien und Geschehnissen auf ihren Gehalt an Rechtfertigung von Machtinteressen. Denn ein "radikaler Realismus in der Analyse und Darstellung unserer Situation" tut not. Ausserordentlich klug, sehr verständlich, referierend und doch Stellung beziehend, löst Künzli diese Aufgabe mit bestechender Eleganz und Sachkenntnis, macht mit einfachen Worten vieles klar.

Er bringt Positives, aber verschweigt auch nicht Unerfreuliches. Verblüffend einheitlich und flüssig präsentiert er seine kritische Auseinandersetzung mit einer Thematik, vor der man sonst oft in ängstliches oder gereiztes Nichtwissenwollen verfällt.

Mit solchem Jargon und Politisieren will man nichts zu tun haben …

 

Doch Künzli zeigt, dass es jeden Einzelnen angeht.

 

Geschichte und Ethik

 

Der "Marxismus" steckt heute in einer fundamentalen Krise, sosehr, dass es ihn heute als einheitliche Theorie gar nicht mehr gibt.

Erstens:

"Die Theorie von Marx hat weder im Osten noch im Westen den Sozialismus gebracht, und es spricht ... wenig dafür, dass sie ihn noch bringen könnte ... Die Marxsche Theorie als Totaltheorie des Sozialismus ist heute eine reaktionäre Theorie, da sie ... gezwungen ist, die Entwicklung hinter den von ihr erreichten Stand auf Positionen des vergangenen Jahrhunderts zurückzuschrauben.“

 

Karl Marx darf also heute kein Tabu mehr sein, sondern muss als eine geschichtliche, das heisst relative, zeitbedingte Grösse gesehen werden. Seit Marx hat sich die Welt enorm geändert, mehr als in den 2000 Jahren davor. Deshalb trifft lange nicht alles zu, was er geschrieben und vorausgesagt hat. "Der Sozialismus muss sich etwas Neues einfallen lassen".

 

Zweitens

"Letztlich reduziert sich die Frage nach Wahrheit und Gültigkeit der Marxschen Theorie auf die Frage nach seiner Anthropologie. Geschichte ist Geschichte des Menschen, und jede Geschichtstheorie ist genau so wahr oder so falsch wie das Bild vom Menschen, von dem sie ausgeht. Heute entdecken wir auf Grund der die Theorie in Ost und West dementierenden Praxis, dass Marx nicht von einem empirischen, sondern von einem spekulativen Menschenbild ausgegangen ist."

 

Marx hat den partikularen Bereich des Sozioökonomischen metaphysisch verabsolutiert. Doch der Mensch ist unendlich viel mehr als nur ein "durch seine Bedürfnisse bestimmter 'homo oeconomicus"'. Das "gesellschaftliche Sein" ist nicht allein determinierend. So lässt der Marxismus auch keine Ethik zu, wenn es ja allein um die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, also um die revolutionäre Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse geht.

 

Das marxsche Menschenbild, an Rousseau angelehnt, entspricht nicht der Wirklichkeit.

"Ein Sozialismus ..., der ohne eine eigene Ethik auszukommen glaubt, wird immer wieder eine Beute des 'alten Adam' mit seinem von Marx so vehement denunzierten Habenwollen und dessen Begleiterscheinungen werden".

 

Deshalb kommen auch im Osten aufklärerische, aufgeschlossene Marxisten (=Revisionisten) zum Bekenntnis, dass die Ethik und der einzelne Mensch in seinen Rechten und seiner Würde vermehrt zu beachten und untersuchen sei. Besonders die um die Zeitschrift "Praxis" gruppierten Jugoslawen ringen darum, wie die personale, individuelle Verantwortung mit derjenigen gegenüber der Geschichte als heilsgeschichtlichem Prozess vereinbart werden kann.

Die westlichen Marxisten sind bereits dazu gekommen, die bürgerlichen Freiheiten und die Prinzipien Demokratie, Parlamentarismus und Mehrparteiensystem anzuerkennen.

 

Was neben der Ethik bis heute noch fehlt, ist eine praxisbezogene "kritisch-revolutionäre Theorie des Sozialismus der Gegenwart ", eine flexible sozialistische Staats- und Gesellschaftstheorie für die technisch hochentwickelte, moderne Gesellschaft. Die wäre umso dringlicher, weil beispielsweise in Westeuropa ein Absterben der Arbeiterbewegung festzustellen ist. Die Marxsche Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit ist heute kaum mehr spürbar, dafür traten neue und weit bedrückendere Entfremdungen auf. Der westeuropäische Arbeiter ist deshalb wenig geneigt, Verantwortung und Mitbestimmung in einer (zum Beispiel betrieblichen) Selbstverwaltung zu übernehmen; er ist mit dem Status quo zufrieden und würde jede Änderung als neue Entfremdung ansehen.

 

Die Sowjetunion ist nicht marxistisch

 

Anlässlich der "Fünfzig Jahre Sowjetunion" reflektiert Künzli über die Oktoberrevolution und kommt zum Schluss:

1. "Das zaristische Russland war 1917 am Zusammenbrechen, Russland war reif für eine Revolution, und eine solche wäre ... auch ohne Marx und Lenin erfolgt".

2. "Die Oktoberrevolution und ihre Entwicklung befanden sich im Widerspruch zu mindestens drei fundamentalen Thesen der Theorie von Marx." (a) Denn es gab keinen Kapitalismus - sondern die rückständigen Produktivkräfte und Verkehrsformen eines Agrarlandes - und damit fast keine Proletarier; (b) Lenin herrschte mit der Diktatur einer Kader- und Funktionärs-Partei über die Bauern und das Proletariat; (c) und die Revolution blieb auf Russland beschränkt. Auch der Stalinismus als Neo-Cäsaropapismus war in der Theorie von Marx nicht vorgesehen.

 

Nach dem 21. August 1968 wiederholt Künzli, "dass die Sowjetunion nicht als marxistisch bezeichnet werden kann". Denn eine Revolution nach den Vorstellungen von Marx hat es überhaupt noch nirgends gegeben. Mit der Okkupation der Tschechoslowakei wurde nur drastisch auf das  hingewiesen, was Künzli vorher schon klar und deutlich formulierte. Er gibt nun noch eine tiefere historische Dimension:

"Die heutige Auseinandersetzung zwischen Russland und Europa über den 'wahren Sozialismus' ist nur ein zeitbedingter Aspekt einer weit älteren Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident",

die mit Konstantin dem Grossen (330 n. Chr.), dem kirchlichen Schisma zwischen Rom und Byzanz und der Mongolenherrschaft begann.

 

Der Maoismus

 

Mao hat den Marxismus-Leninismus übernommen, weiterentwickelt und auf eine völlig neue Stufe gehoben. Er ist Nationalist, aber nicht Chauvinist oder Rassist. Was Mao von Marx übernimmt, ist das "Prinzip des dialektischen Widerspruchs", das das Grundgesetz der Welt dar stellt und absolut, ewig ist - gemäss dem Konfuzianismus spiralförmig ins Unendliche. "Eine Welt ohne Widerspruch wäre ein Friedhof von Lebendigen." Leben aber ist revolutionäre Bewegung. Deshalb fordert Mao die "permanente Revolution" als Praxis des Widerspruchs, getragen von der Masse, denn das Volk als solches ist "Subjekt der Geschichte".

 

Diese Revolution als proletarische Kulturrevolution und solche des Einzelmenschen spielt sich mit Hilfe der "Umgestaltung der Gedanken" oder eines "Gehirnwaschens" ab. Das ist unmarxistisch, weil die sozioökonomische Basis bei Mao ohne unmittelbare Einwirkung ist. Zudem bringt dieser Voluntarismus ein utopisches Element in die Sache, womit die Eschatologie eingebüsst wird. Der "Mensch" ist wichtiger als das Ding, die Ökonomie und die Waffen; und dieser Mensch ist der chinesische Bauer, nicht der Proletarier.

"So könnte man Maos Bauernrevolution beinahe als eine Naturrevolution charakterisieren, die der Marxschen Offenbarungsrevolution entgegenzustellen wäre."

 

Dass sich dabei dennoch die Frage der Industrialisierung, das heisst der Europäisierung stellt, ist klar.

 

Zu beachten ist: Maos Weltrevolution ist kein Hitlerscher Eroberungsfeldzug, sondern ein Klassenkampf in Weltformat, der sich in nationalen Befreiungskriegen aus je eigener Kraft äussern soll.

 

Ernst machen mit dem Möglichen

 

Der Überanstrengung des "Prinzips Hoffnung" und dessen Ausbalancierung durch Gegenutopien, die vom Prinzip der Verzweiflung getragen sind, widmet Künzli einen farbig nacherzählenden Vortrag. Äusserst genau untersucht er dann das "Opium Nationalismus" in seinen gegensätzlichen Ausprägungen links und rechts des Rheins. Der "Nationalismus ist einer der verzweifeltsten Versuche des Menschen, das Leiden an der Entfremdung mit dem Mittel der Ideologie zu heilen."

In den "Gedanken zum Dialog" fordert er von den Dialogpartnern:

Die "Anerkennung einer gemeinsamen Schuld an der Vergangenheit scheint mir das unerlässliche Kriterium zu sein für die Glaubwürdigkeit jener Umkehr, die im Dialog ihre Bereitschaft zur Übernahme einer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft bezeugt."

 

Mehrfach weist Künzli auf den unberechtigten Wunderglauben an die alleinseligmachende, selbsttätige, schöpferische Kraft oder Potenz der Negation hin, der meint, je kräftiger vorher negiert worden sein, desto eher komme das Neue, Positive, Bessere - "im Verein mit der der Geschichte immanenten Dialektik" - in Gang. Gerade die Geschichte selbst hat das immer wieder schaurig dementiert. Dass heute nun auch die "Neue Linke", das heisst die antiautoritäre bis anarchistische Jugend, sich der gewaltsamen Negation, der "absoluten Weigerung" bedient, ist verständlich„ wenn auch bedauerlich, "unsinnig, unverantwortlich und gefährlich". Aus den vielfältigen Frustrationen heraus erhält das Prinzip Negation "den Charakter einer Ideologie zur Rechtfertigung des Unvermögens, das bestehende konstruktiv von innen heraus zu verändern". Diese Ideologie ohne Alternativen wird zur Neurose, ist Mythos und Utopie. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit fehlt.

 

Es geht heute nicht darum, das Unmögliche zu fordern, sondern wir müssen endlich einmal, aber radikal, Ernst machen mit dem Möglichen.

 

Künzlis Buch erfüllt hierbei eine ungemein wichtige Aufgabe. Bitter notwendig ist derartige Information und Gewichtung, auch wenn man sich über manche Verhältnismässigkeit streiten könnte. Ist sie überdies fundiert und einleuchtend, weil sehr unkompliziert - deshalb aber vielleicht doch etwas zu vereinfachend, immer noch zu wenig differenziert, detailliert und umfassend -, so kann sie jedermann lesen - und sollte es auch.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 23. Oktober 1969

 


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