HomeWas gilt als Lebensphilosophie?

 

 

Was im allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch "Lebensphilosophie" genannt wird, bewegt sich auf zwei Bahnen. Entweder schreitet sie das Geleise der Geschichte oder dasjenige der Biologie ab.

Im ersteren Fall gelangt sie über die Stationen Kultur- und Gesellschaftsphilosophie zur Philosophie der Technik, im letzteren von der Metaphysik der Natur über die Naturphilosophie zur Philosophie der Naturwissenschaften.

Im Bereich Technik und exakte Wissenschaft kommen beide Geleise aber schon fast zusammen, zumal sich da eine dritte Linie einschiebt, nämlich diejenige, die von der Erkenntnistheorie über die Lehren vom richtigen Schliessen und der Wahrheit zur Philosophie des Geistes vorgedrungen ist.

Doch der Abschlussbahnhof wäre nicht vollständig ohne die Verbindung, welche in der Doppelspur Ethik und Metaphysik der Seele zur Anthropologie und Wertphilosophie und von da zur Psychologie und Existenzphilosophie geführt hat.

 

In grosszügiger, aber bei genauerer Betrachtung der Fahrpläne zutreffender Interpretation, sind demnach auf dem "Terminal Lebensphilosophie" alle Linien der philosophischen Eisenbahnen vereinigt, und da sogar ein Kopfbahnhof wieder Ausgangspunkt für neue Richtungen bildet, lassen sich von dieser "Stazione Termini" durchaus die Züge in die Zukunft besteigen.

 

Wer zählt zur Lebensphilosophie?

 

Fasst man einiges zusammen, was in Wörterbüchern und dergleichen unter Lebensphilosophie steht, so fallen meist die Ausdrücke Irrationalismus, Mystik oder Gefühl und Schöpfung. Meist wird auch auf den Vitalismus hingewiesen, der als Reaktion auf die mechanistische Betrachtung und - in der Form des Neuvitalismus - als Reaktion auf die Darwinsche Deszendenztheorie verstanden wird.

Zur Lebensphilosophie werden im einzelnen folgende Richtungen und Persönlichkeiten gezählt:

·        viele Vorsokratiker (besonders Empedokles) und Stoiker, auch Epikuräer

·        nachreformatorische deutsche Naturphilosophen seit Paracelsus, besonders der ältere van Helmont

·        die "Moralisten", hauptsächlich die französischen; es gibt aber auch englische

·        Vertreter des Irrationalismus - besonders Hamann, Herder und Goethe - des 18. Jh., aber auch Rousseau und Jacobi

·        Vertreter des deutschen Idealismus, besonders Schelling, aber auch  Fichte und Hegel

·        die Romantiker, besonders Schlegel, Carus und Novalis

·        Schleiermacher, Schopenhauer, Kierkegaard

·        Nietzsche

·        Dilthey

·        Bergson

·        Klages, Kayserling, Spengler

·        Simmel, Scheler, Eucken, Theodor Lessing, Troeltsch, Blondel, Ortega y Gasset.

 

Vitalismus und Neovitalismus

 

Zum Vitalismus (18. Jh.) zählen Louis Dumas, K. F. Wolff und J. F. Blumenbach, zu den Neuvitalisten zählen G. von Bunge, Reinke, Driesch, v. Uexküll, u. v. a.

 

"Eislers Handwörterbuch der Philosophie" hat für den Vitalismus (etwa von 1750-1880):

  • Albrecht von Haller, Blumenbach, Bichat, Reil, Goethe, A. v. Humboldt, Treviranus, Oken, Autenrieth, Steffens, Joh. Müller, Rudolf Wagner, Bischof, A. Wigand, Flourens und Ulrici
  • Kommentare dazu von Schopenhauer (1851), Liebig (1844), Claude Bernard (1878) und O. Liebmann (1876)
  • Den alten vom neuen Vitalismus unterschied zuerst Rudolf Virchow 1856.

Zum Neovitalismus (ab 1880) zählen hier:

·        J. v. Hanstein, Neumeister, Rindfleisch, G. Bunge, Crato, G. Wolff, O. Hertwig, J. v. Uexküll, Cossmann, E. v. Hartmann,  H. v. Keyserling, Reinke und Driesch.

 

Holismus

 

Oft fällt beim "Vitalismus" der Hinweis auf den Holismus, dem J. C. Smuts, J. S. Haldane und A. Meyer-Abich zugerechnet werden.

C. L. Morgan gilt einerseits als Vertreter dieses Holismus, anderseits aber auch der Emergenzphilosophie, die durch S. Alexander, A. N. Whitehead und W. M. Wheeler repräsentiert wird.

Für den Holismus werden auch Aristoteles, Thomas von Aquin, Leibniz, Schelling und Hegel namhaft gemacht.

Eine Spezifität des Vitalismus ist der Psychovitalismus (August Pauly, Raoul H. Francé, Karl Camillo Schneider, Adolf Wagner), der statt einer vis vitalis oder Entelechie überindividuelle seelische Kräfte als Regulatoren am Werk sieht. (Zusätzliche Namen hat hier erneut "Eislers Handwörterbuch der Philosophie".)

 

Die Begriffe Psychologismus, Biologismus, Naturphilosophie und "Monismus" sind - trotz dem 1906 gegründeten "Deutschen Monistenbund" um Haeckel und Ostwald - zu weit und zu beliebig, als dann sie in diesem Zusammenhang verwendet werden könnten.

Dann gehörten schon eher die Bemühungen um Ganzheit wie sie etwa in der Gestalt-, Ganzheits- und Strukturpsychologie, in der Biologie und Medizin (H. Friedmann, V. von Weizsäcker) sowie Nationalökonomie (O. Spann) gepflegt werden, in diesen Umkreis.

 

Vielerlei Parallelen

 

Häufig betont werden Parallelen im angelsächsischen Pragmatismus (Peirce, James, Dewey, F. C. S. Schiller) sowie die Verbindung zur Existenzphilosophie und Phänomenologie (Husserl, Scheler, Heidegger, Sartre).

Selbstverständlich werden da und dort noch zahlreiche andere Namen unter "Lebensphilosophie" genannt. So beispielsweise Leibniz, Kant und Pestalozzi, J. M. Guyau, Richard Wagner, E. v. Hartmann, M, Palágyi, H. André und E. Dacqué sowie H. Nohl, G. Misch, W. Stern und Eduard Spranger, ferner die Amerikaner Henry Adams und George Santayana.

Richard Müller-Freienfels entwickelte schliesslich eine eigentliche "Lebenspsychologie".

 

"Philosophie de Lebens" - "Lebensphilosophie"

 

Interessant ist es auch, die Geschichte der Bezeichnung und Zuteilung zu untersuchen.

 

Der Begriff "Philosophie des Lebens" taucht zuerst bei Gottlob Benedikt Schirach 1772 auf und findet sich hernach bei Erdmann Gotthelf Neumeister (1776), Karl Philipp Moritz (1780), Friedrich Burchard Beneken (1788-91), Georg Forster (1789), Leopold Alois Hoffmann (1791), Herder (1797), Karl Heinrich Heydenreich und Friedrich Bouterwek („Vesta“ 1798-1811), Wilhelm Traugott Krug (1800), Schlegel (1827), Gustav Friedrich Gärtner (1839) und Heinrich Vogel (1845).

Er wurde wieder aufgenommen von Dilthey, O. Ewald (1909), J. Bürde (1910), A. Kellner (1914), Scheler (1915), P. Oldendorff (1916), Eucken (1918) und Rickert in seiner "Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit" (1920), dann von R. Müller-Freienfels (1923), B. Bauch (1927), H. Pfeil (1928), H. Kern (1929), O. Spengler (1931) usw.

 

Der Begriff "Lebensphilosophie" taucht fast zur gleiche Zeit auf. Zuerst bei Aphorismen von LaRochefoucauld (1793-95), dann rasch bei manchen andern Schriften. Eine betont christliche Lebensphilosophie vertraten Louis Veuillot (1861), Sperling (1870), Grau (1881), Ernst Siedel (1894), Tilmann Pesch (1895) und Emil Pfennigsdorf (1906).

Im 20. Jahrhundert finden wir die spezifisch philosophische Bedeutung bei  Richard Münzer (1905), Otto Spielberg (1908), Robert Saitschick (1914), W. Koppelmann (1920), F. Thor (1921), G. Misch (1924) und F. Adler (1926).

Er findet sich 1922 bereits als Stichwort in "Eislers Handwörterbuch der Philosophie", 1927 dann in "Meyers Lexikon" (VII), wo steht: "E. Barthel, Verfasser des Buches 'Lebensphilosophie' (1923), gründete 1924 in Köln eine 'Gesellschaft für Lebensphilosophie'."

Carl Joel schrieb 1924 ein Buch unter dem Titel "Die lebendige Philosophie".

1929 taucht der Begriff Lebensphilosophie auf in "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (III) sowie in Rudolf Eislers "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" (II), 1930 im "Pädagogischen Lexikon" (III) und 1932 im "Grossen Brockhaus" (XI).

 

"Metaphysik des Geistes"

 

Bemerkenswert ist, dass in Max Dessoirs "Lehrbuch der Philosophie" (Band I, Die Geschichte der Philosophie, 1925, 597-627) Max Frischeisen-Köhler z. B. Nietzsche, Dilthey, Simmel und Spengler unter "die Geistesphilosophie" und Guyau, E. v. Hartmann, Bergson und Driesch unter "Metaphysik" behandelt. Ähnlich werden auch noch zwei Jahre später in Baeumler/ Schröters "Handbuch der Philosophie" (I) von Heinz Heimsoeth im Teil "Metaphysik der Neuzeit" Dilthey, Eucken, Simmel, Troeltsch, Spengler, Scheler und Klages unter "die Metaphysik des Geistes" besprochen.

Das mag daran liegen, dass, wie etwa Fritz Heinemanns "Neue Wege der Philosophie" (1929) dokumentiert, die Lebensphilosophie oft als mittleres Glied einer von der Geistphilosophie zur Existenzphilosophie hinüberführenden Entwicklung angesehen wird.

 

Die Wurzeln der Lebensphilosophie

 

Mit den Heimatbahnhöfen (oder "Wurzeln") der Lebensphilosophie ist es so eine Sache. Die Namen Aristoteles und Thomas von Aquin sind schon gefallen, ebenso wurden die Vorsokratiker und Stoiker erwähnt.

In "Eislers Handwörterbuch der Philosophie" (1922) tauchen einige neue Namen auf:

·        Seneca, Epiktet, Mark Aurel

·        Montaigne, Spinoza, B. Gracian ("Handorakel" 1647)

 

Gegen das Ende der Aufklärung kommen hinzu:

·        Goethe, Kant und Fichte ("Anweisung zum seligen Leben" 1806)

 

Das 19. Jahrhundert wird bestimmt von:

·        Krause ("Lebenslehre" 1843), J. Galba ("Allgemeine Lebensphilosophie" 1849)

·        Schopenhauer, Nietzsche

·        Emerson ("Die Führung des Lebens" 1860), Ruskin ("Aphorismen zur Lebensweisheit" 1890), J. Lubbock ("Die Freuden des Lebens" 1889), Carlyle (1841), Tolstoj ("Der Sinn des Lebens" 1901), usw.

 

Die Wurzeln des Idealismus

 

Genauso kann natürlich der "deutsche Idealismus", welcher genaugenommen etwa die Lebenszeit Hegels (1770-1831) ausmacht, auf Vorläufer zurückgeführt werden, was bei gleichzeitiger Unterteilung die Namen

·        Platon, Schelling, Hegel (objektiver Idealismus)

·        Descartes, Malebranche, Fichte (subjektiver Idealismus)

·        Leibniz, Berkeley, Schopenhauer (erkenntnistheoretischer Idealismus)

ins Spiel bringt.

Oft wird soweit gegangen, dass man das Weltbild der Romantiker sowie der "Primitiven" als magischen Idealismus bezeichnet.

Dies nach Schmidt/ Schischkoff (1969, 267). F. Dorsch (1963, 162) nennt noch den praktischen und schwärmerischen Idealismus und meint, metaphysisch sei der theoretische Idealismus mit dem Spiritualismus verwandt.

 

Hinzu kommt, dass der Idealismus, fast möchte man sagen: selbstverständlich, auch anders aufgegliedert wird, z.B. bei Müller/ Halder (1971, 125ff) in den

·        ontologischen (Platon)

·        theologischen (Augustin, Thomas von Aquin)

·        psychologischen (Descartes, Locke, Hume)

·        transzendentalen (Kant) und

·        absoluten oder Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel).

 

Apel/ Ludz (1958, 134f) zählen anderseits

·        Platon, Leibniz und Berkeley sowie Fichte, Schelling und Hegel zum metaphysischen

·        Berkeley und Schopenhauer zum subjektiven

·        Kant zum transzendentalen oder kritischen (alle drei unter dem erkenntnistheoretischen) Idealismus und bezeichnen

·        Fichtes Philosophie auch als ethischen Idealismus.

 

Locke, Berkeley und Hume werden aber von A. Diemer und H. Delius (in "Philosophie", 1967, 254, 265), zum Empirismus gerechnet.

 

Dilthey unterscheidet schliesslich neben dem Materialismus (Sensualismus, Empirismus, Positivismus) zwei weitere Typen der abendländischen Weltanschauung. Nach J. Hoffmeister (1955, 663) sind es:

·        der mystische Panvitalismus (Heraklit, Stoa, deutsche Mystik, Herder, Goethe, Schelling) und

·        der Idealismus (Platon, Aristoteles, Neuplatoniker, Augustin, die Rationalisten Descartes, Leibniz und Wolff, ferner Kant, Fichte, Schiller und Hegel).

 

Nach Apel/ Ludz (1958, 134f) sind es der

·        objektive Idealismus (Spinoza, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Schleiermacher, Hegel) und der

·        Idealismus der Freiheit (Platon, Kant, Fichte).

Unter "Weltanschauung" heissen hier (303) die drei Typen: Naturalismus, Pantheismus (Heraklit, Spinoza, Hegel, Schelling) und Idealismus der Freiheit (zusätzlich Aristoteles).

 

Die DDR-Philosophen Klaus/ Buhr (1972, 497ff) endlich zählen zum objektiven Idealismus Platon, Thomas von Aquin, Leibniz und Hegel und deren Nachfolger, zum subjektiven Berkeley und Hume und behaupten keck: "Formen des subjektiven Idealismus in der bürgerlichen Gegenwartsphilosophie sind vor allem der Positivismus (und Neupositivismus), die Lebensphilosophie, der Pragmatismus, der Existentialismus." Der Idealismus überhaupt sei "ein Produkt der in Klassen gespaltenen Gesellschaft, und sein Fortbestehen ist an die Klassengesellschaft gebunden".

 

Materialisten, Irrealisten, Rationalisten?

 

Das ist ein reich garnierter gemischter Salat, der unserer bunten Reisegesellschaft aufgetragen wurde. Doch es wird noch schlimmer.

 

Lebensphilosophen wären demnach alles andere als "Materialisten"? Nein, Lutz Geldsetzer meint im Fischer-Lexikon "Philosophie" (1968, 129), die Auffassungen der Lebensphilosophie "in weitesten Sinne" tendierten "nach der materialistischen Seite".

 

Hängen Lebensphilosophen oder Vitalisten dem Irrealen an? Nein. Johannes Hirschberger (1961, 200) zählt Reinke und Driesch sowie Becher, Bavink, Wenzl und Hedwig Conrad-Martius zum "kritischen Realismus". Dasselbe tut J. Hoffmeister (1955, 511).

 

Als Irrationalisten gelten übrigens auch der Rationalist Pascal, der Voluntarist Maine de Biran und Goethe, der deutsche Idealist Schelling, der Pessimist Schopenhauer, der Begründer der Existenzphilosophie Kierkegaard sowie der Vertreter des transzendentalen oder kritischen Rationalismus, resp. der induktiven Metaphysik Eduard von Hartmann.

 

Sind Lebensphilosophen, wie man häufig sagt, Gegner des Rationalismus? Kaum, wenn Gert König (in "Philosophie" 1967, 206) doch Descartes als Vertreter des klassischen Mechanismus betrachtet und Schmidt/ Schischkoff ihn in ihrem "Philosophischen Wörterbuch" (1969, 501) zusammen mit Leibniz als Rationalisten bezeichnen und behaupten, die Lebensphilosophie bliebe "oft selbst ungewollt dem Rationalismus verhaftet".

Zum Irrationalismus zählen Schmidt/ Schischkoff hier übrigens Schopenhauer, Kierkegaard, Maine de Biran und Nietzsche.

 

Man könnte die Fragen und damit die Verwirrung um die Einordnungen und Begriffe noch viel weiter treiben. Im 2. Band des "dtv-Atlas zur Weltgeschichte" (1966, 182) ist z. B. die Rede vom Vitalismus Henri Bergsons, der Mussolini beeinflusst habe. Bekannt ist weitherum geworden, dass Georg Lukacs in seiner "Zerstörung der Vernunft" (1952 vollendet) Nietzsche "'als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode" und Klages, E. Jünger, Baeumler und Rosenberg als präfaschistische und faschistische Lebensphilosophen abgestempelt hat.

Schreiben Schmidt/ Schischkoff Pascal habe die Grenzen des Rationalismus gesehen, so reihen sie ihn doch (501) wie A. Diemer (in "Philosophie", 1967, 253) unter Rationalismus ein. Das liegt eben nach Ansicht Diemers, der Pascal auch unter dem "anthropologischen Irrationalismus" (a. a. O. 175) anführt, an folgendem: "Auch in der Gegenwart sind mystische Tendenzen nicht zu übersehen, selbst dort, wo man sie eigentlich nicht erwartet, etwa bei den anscheinend so radikal anti-irrationalen Bestreffen moderner Wissenschaftlichkeit; gerade hier zeigt sich immer wieder die seltsame Erscheinung, dass Wissenschaftler, ähnlich wie früher Pascal, auf der einen Seite extrem rationalistische Denker und zugleich ausgesprochene Mystiker sein können", a. a. O. 186).

 

Dieser schöne und bemerkenswerte Satz gehört ins Stammbuch all derer, die glauben, sich - in unserem "aufgeklärten" Zeitalter - über Lebensphilosophie, Vitalismus und Holismus lustig machen zu dürfen, indem sie diese eben des Irrationalismus und der Mystik bezichtigen.

So einfach ist die Sache nicht. Die meisten Denker und Forscher haben sich nämlich etwas gedacht, bei dem, was sie schrieben. Nicht umsonst setzen nach Schmidt/ Schischkoff (1969, 505) die "kritischen Realisten" ihr Vertrauen ins Denken. Und wenn man diesen Realismus mit J. Hoffmeister  (1955, 511) mit Aristoteles beginnen lässt, auf den Driesch ja auch den Vitalismus zurückführt, dann schliesst sich der Kreis.

 

Lebensphilosophie als Reaktion, Gegenströmung?

 

Es ist also zu einfach, mit Gegensatzpaaren wie real und irreal, idealistisch und materialistisch, rational und irrational, mechanistisch-vitalistisch, holistisch-meristisch, usw. um sich zu werfen. Ebenfalls ist Vorsicht geboten, in Anlehnung daran Lebensphilosophie, Vitalismus und Holismus als Reaktionen auf andre Richtungen zu bestimmen. Jede Richtung ist in einer gewiesen Hinsicht Erbin wie Gegnerin einer oder mehrerer früheren.

 

Gewiss kann man Pascal und Rousseau als Antwort auf den Verstandes- oder Vernunftkult oder die Aufklärung, die Romantik als Gegenströmung zum Idealismus und zum anbrechenden Industrie- und Maschinenzeitalter, den Neuvitalismus als Kampf gegen Darwins und Haeckels "struggle for Life" und die Lebensphilosophie als Pendant der Bewusstseinspsychologie oder als Gegensatz zum Positivismus, Neukantianismus und zur machtvoll sich ausbreitenden Naturwissenschaft auffassen, doch zu behaupten, man habe die neue Hoffnung auf die "irrationalen Mächte" (L. Pongratz, 205) gesetzt, ersetze "die wissenschaftliche Erkenntnis durch die Intuition", stelle die "Anschauung über den Begriff" und relativiere "sowohl jede Erkenntnis als auch jeden Gegenstand der Erkenntnis" (Klaus/ Buhr, DDR-Wörterbuch der Philosophie, 647), geht viel zu weit.

 

Es scheint, der Bahnhof Lebensphilosophie stünde verlassen da, es verkehrten gar keine Züge mehr. Doch wie so oft: Der Schein trügt. In Jürgen Habermas' Frankfurter Antrittsvorlesung von 1965 tauchen die Begriffe: Lebenspraxis, praktisches Leben und Lebenswelt mehrfach sowie gutes und gelungenes Leben auf.

 

Januar/ Februar 1973

 

Literatur

 Richard Müller-Freienfels (Hrsg.): Eislers Handwörterbuch der Philosophie. Berlin: Mittler 1922.

Heinrich Schmidt, Georgi Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 11. Aufl. 1951, 18. Aufl. 1969.

 

Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 1955.

Max Apel, Peter Ludz: Philosophisches Wörterbuch. Berlin: de Gruyter, Sammlung Göschen Bd. 1031/1031a, 1958.

Johannes Hirschberger: Kleine Philosophiegeschichte. Freiburg im Breisgau: Herder-Bücherei, Bd. 103, 1961.

Friedrich Dorsch: Psychologisches Wörterbuch. Hamburg: Meiner/ Bern: Huber 1963.

Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. [Frankfurter Antrittsvorlesung, 28.6.1965] Merkur 19, Nr. 213 (Dezember 1965), 1139-1153; Nachdruck in: Technik und Wissenschaft als „Ideologie”. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, 146-168.

Alwin Diemer, Ivo Frenzel (Hrsg.): Philosophie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1967.

Ludwig J. Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie. Bern: Francke 1967, 2. Aufl. als UTB 1984.

Georg Klaus, Manfred Buhr (Ed.): Philosophischen Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1964, 6. erweiterte ed. 1969; Lizenzausgabe u .d. T.: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. 3 Bde, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1972.

Max Müller, Alois Halder: Kleines philosophisches Wörterbuch. Freiburg: Herder, Herderbücherei, Bd. 398, 1971.

Neuere Literatur

1993-1999

Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek: Rowohlt 1993.

Elenor Jain: Das Prinzip Leben. Lebensphilosophie und ästhetische Erziehung. Frankfurt am Main: Peter Lang 1993.

Karl Albert: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukacs. Freiburg i. Br.: Alber 1995.

Karl Albert: Über das Wiedererwachen lebensphilosophischen Denkens. In: Philosophischer Literaturanzeiger 48, 1995, 77-88; Besprechung von:
Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. 1993;
Theo Meyer: Nietzsche. 1991;
Konstantinos P. Romanos: Heimkehr (Henri Bergson). 1988;
Ute Gahlings: Sinn und Ursprung (Hermann Graf Keyserling). 1992;
Elenor Jain: Das Prinzip Leben. 1993.

Ferdinand Fellmann (Hrsg.): Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie. Reinbek: Rowohlt 1996.

2000-

Karl Albert, Elenor Jain: Philosophie als Form des Lebens. Zur ontologischen Erneuerung der Lebensphilosophie. Freiburg i. Br.: Alber 2000.

Wolfgang Röd: Die Lebensphilosophie. In Wolfgang Röd (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. München: Beck, Bd. 13, 2002, 113-159.

Robert Josef Kozljanič: Lebensphilosophie. Eine Einführung (Schlegel, Schopenhauer, Carus, Nietzsche, Bergson, Dilthey, Simmel, Klages, Bollnow, Schmitz). Stuttgart: Kohlhammer 2004.

Jahrbuch für Lebensphilosophie. Hrsg. von Robert Josef Kozljanič. München: Albunea-Verlag, 2005ff.;
Bd. 1: Zur Vielfalt und Aktualität der Lebensphilosophie. 2005;
Bd. 2: Leib-Denken. 2006;
Bd. 3: Praxis der Philosophie. Gernot Böhme zum 70. Geburtstag. 2007;
Bd. 4: Lebensphilosophische Vordenker des 18. und 19. Jahrhunderts. 2008.

weitere Literatur siehe:

Ludwig Klages: Sekundärliteratur

 

 


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