Home Die Schöpfung der Welt und des Menschen

 

Eine kurze Zusammenstellung, ca. 1987

 

 

In seinem 100seitigen Dialog "Timaios" (ca. 350 v. Chr.) breitet Platon eine phantastische Schöpfungsgeschichte vor unserem geistigen Auge aus.

 

 

Was gab es vor der Schöpfung?

 

Bevor die Welt geschaffen wurde gab es bereits allerlei:

 

1. Den Weltenschöpfer (Demiurgen) mit bestimmten Eigenschaften ("gut und vollkommen") und Vorstellungen ("Vorsehung", Proportionslehre); er wirkt als "göttliche Ursache".

 

2. Eine gewaltige Unordnung, die blinde Notwendigkeit (ananke).

 

3. Das Urbild (idea) der "schlechthin ewigen Natur", auf das hinblickend er dann die Welt als möglichst vollkommenes Abbild baut.

 

4. Die gestaltlose Materie, die "Aufnehmerin und gleichsam Amme alles Werdens".

 

5. Feuer, Wasser, Luft und Erde in noch nicht richtiger Beschaffenheit.

 

6. Ein Mischgefäss.

 

7. Eine Reihe von "Hilfsursachen, welche Gott als dienende Kräfte verwandte".

 

8. Das vom Schicksal über die Seelen (Menschen) verhängte Gesetz.

 

 

Der Weltenbaumeister hatte alle Hände voll zu tun

 

Bei der Schöpfung hatte der Weltbaumeister alle Hände voll zu tun, musste er doch gleichzeitig

(1) die vier Elemente,

das Weltgebäude, bestehend aus (2) Weltseele und (3) Weltkörper,

ferner (4) die Zeit schaffen.

Als unsterbliche Lebewesen schuf er (5) die Götter, welche er dann als Mitschöpfer für Menschen und Tiere einspannte.

 

Was Gott vor seiner Schöpfung vorfand, war Unordnung und blinde Notwendigkeit (30, 48, 68).

"Nachdem Gott alle diese Dinge in einem ungeordneten Zustand vorgefunden, pflanzte er ihnen Ebenmass in sich und unter einander ein, so weit und in solcher Weise, als es ihnen eben möglich war, in Verhältnismässigkeit und Ebenmass zu stehen."

 

Die Schöpfung besteht in einem gestaltenden Eingriff der göttlichen Vernunft in die Notwendigkeit.

"Die Vernunft herrschte über die Notwendigkeit, dadurch dass sie dieselbe überredete, das meiste von dem, was da entstand, zum besten zu führen; und so kam demgemäss und auf diesem Wege durch die von vernünftiger Überredung besiegte Notwendigkeit im Anfang dieses All so, wie es ist, zustande."

 

Dieses All aber ist kein ewiges; nur sein Urbild ist ewig. Das All ist "das Reich des Werdens" (30), aber es ist gut und "das Schönste von allem Entstandenen", ein "wirklich beseeltes und vernünftiges Wesen", ein "einziges sichtbares lebendiges Wesen".

 

 

Mehrere Methoden der Schöpfung

 

Der Methoden der Schöpfung sind mehrere:

1. Bändigung der blinden Notwendigkeit durch vernünftige Überredung,

2. Das Hinschauen auf ein Urbild und Nachahmen desselben,

3. die Hineinbildung der Vernunft in eine Seele und der Seele in einen Körper und

4. Beauftragung anderer Götter, die Gestaltungstätigkeit des Demiurgen nachzuahmen.

 

Mit einem Satz: Der Demiurg setzt seine Vernunft in die Welt.

 

 

Die Reihenfolge der Schöpfungstaten

 

Die Reihenfolge der Schöpfungstaten des Weltenbaues im Dialog selber ist folgende: Weltkörper, Weltseele, Zeit, himmlische Götter, göttliche Seele des Menschen, menschlicher Körper (durch die Götter); nach Rückkehr an den Anfang: vier Elemente oder Stoffe (anschliessend deren Ausprägung in mancherlei Arten sowie deren Mischung und Umwandlung), erneute Arbeit am Menschen durch die Götter, dazwischen als Nahrung Bäume und Pflanzen, zum Abschluss die Tiere.

 

Etwas systematischer zusammengestellt, ergibt sich etwa folgender Ablauf der Schöpfung:

 

(1)

Zuerst gilt es das, womit, wohinein und woraus gebildet wird, ins Auge zu fassen.

"Wir müssen nämlich betrachten, welches vor der Entstehung der Welt die Natur des Feuers, des Wassers, der Luft und der Erde an sich war, und in welchem Zustande sie sich damals befanden."

 

Zwischen das ewige Urbild (das Sein) und seine wandelbare, sichtbare Nachahmung (das Werden) schiebt sich "die Aufnehmerin und gleichsam Amme allen Werdens". Sie ist diejenige Wesenheit, "welche alle denkbaren Gestalten an sich zulässt".

"Wie eine bildsame Masse liegt sie für ein jedes zum Abdrucke bereit und lässt sich durch alles, was in sie eintritt, in Bewegung setzen und in Gestalten kleiden, und dadurch erscheint sie denn bald in dieser und bald in jener Form. Was aber in sie eintritt und aus ihr heraustritt, sind stets Abbilder des Seienden, die nach diesem abgeprägt sind auf eine schwer zu beschreibende und wundersame Weise."

 

Diese unsichtbare und gestaltlose, allaufnehmende Gattung ist nur dem Denken zugänglich und daher schwer zu begreifen.

Als Feuer erscheint der entzündete Teil derselben, als Wasser der feuchtgewordene Teil; als Erde und Luft erscheint sie insoweit, "als sie Abbilder von ihnen in sich aufnimmt." Platon fasst sie auch als Gattung des Raumes, "welche allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt".

 

Nun konnte der Weltenbildner daran gehen, den noch nicht richtig gebildeten vier Gattungen Feuer, Wasser, Luft und Erde "ihre bestimmten Formen nach Zahl und Gestalt" zu geben. Als Grundbestandteile nahm er Dreiecke und setze daraus die regulären Polygone zusammen. Der Erde teilte er den Kubus zu, dem Feuer die Pyramide, dem Wasser das Ikosaeder und der Luft das Oktaeder. Die Kugel blieb übrig für das Weltganze.

"Alle diese (5) Körper muss man sich aber in dieser ihrer Eigenschaft so klein denken, dass jeder einzelne von jeder Gattung von uns nicht wahrgenommen werden kann, und dass vielmehr, wenn viele von ihnen zusammengehäuft sind, nur ihre Massen von uns erblickt werden."

 

Und nun lösen sich die 4 Stoffe in ständigem Wechsel ineinander auf, mischen sich und durchdringen einander.

 

(2)

Die Weltseele mischte er im ersten Gang im Mischgefäss aus dem Selbigen und Anderen, also aus dem Ewigen und Unteilbaren sowie aus dem an den Körpern haftenden Geteilten als Mittleres, als dritte Art von Wesenheit; im zweiten Gang mischte er das Selbige und Andere und die neue Seelensubstanz "zu einer einzigen Gestaltung zusammen".

Im dritten Gang teilte er dieses Ganze in zahlreiche Teile und fügte es nach bestimmten Proportionen zusammen.

Schliesslich pflanzte er die se Seele in die Mitte des Weltkörpers ein "und spannte sie nicht nur durch das ganze Weltall aus, sondern umkleidete den Weltkörper auch noch von aussen mit ihr." So, dass sie "rein in sich selber ihren Kreislauf vollbrachte".

 

(3)

Den Weltkörper bildete er aus Feuer und Erde, die er nach bestimmten Proportionen mit Wasser und Luft als "vermittelnden Bändern" vereinigte. So entstand die "Welt als ein einziges Ganzes, welches selbst wieder aus lauter Ganzen besteht".

Die dafür angemessene Gestalt ist die Kugel, die Bewegung die Kreisbewegung.

 

(4)

Nun wollte der Weltenbauer das All dem ewigen Urbild noch ähnlicher machen.

"Nun war aber die Natur des höchsten Lebendigen (d. h. des Urbild) eine ewige, und diese auf das Entstandene vollständig zu übertragen war eben nicht möglich; aber ein bewegtes Bild der Ewigkeit beschliesst er zu machen und bildet, um zugleich dadurch dem Weltgebäude seine innere Einrichtung zu geben, von der in der Einheit beharrenden Ewigkeit ein nach der Vielheit der Zahl sich fortbewegendes dauerndes Abbild, nämlich eben das, was wir Zeit genannt haben."

 

Damit diese Zeit hervorgebracht werde, schuf er Sonne, Mond und Wandelsterne (Planeten).

 

(5)

Nun fehlten noch die Lebewesen: die "himmlischen Götter" sowie die Luft-, Wasser- und Landtiere.

Die Götter schuf er als Fixsterne, "welche wandellos als lebendige Wesen göttlich und unsterblich und gleichmässig in demselben Raume sich drehend ewig verharren“. Als erste und älteste Gottheit schuf er die Erde. Von ihr stammen die Göttergeschlechter ab, wie das die "Ilias" und Hesiods Theogonie einigermassen plausibel schildern.

Im Unterschied zu den Fixsternen, "welche sichtbar herumkreisen", erscheinen die olympischen Götter "nur, je nachdem sie es selber wollen". Ihnen gibt nun der Weltenbildner den Auftrag, die sterblichen Tiere und Menschen zu schaffen:

"Damit sie also zu Sterblichen werden und dieses All ein wirkliches All sei, so kommt es euch naturgemäss zu, euch an die Hervorbringung der lebendigen Geschöpfe zu machen, indem ihr meine Tätigkeit, wie sie bei eurer Entstehung stattfand, nachahmt."

 

 

Die Bildung und Zuteilung der Seele

 

Völlig wollte er aber die Bildung der Geschöpfe nicht aus der Hand geben. Daher bereitete er für "das Göttlichzunennde und Leitende in ihnen", also für die Vernunft, Samen und Keime vor. Diese bildete er aus zweit- und drittklassigen Bestandteilen der Weltseele im alten Mischgefäss. Er bildete daraus ein Ganzes und teilte es hernach so auf, dass jedem Zeit-Stern (also Erde, Mond, Sonne und Planeten) eine Seele zugeteilt werden konnte.

Er setzte sie "so auf dieselben wie auf ein Fahrzeug", zeigte ihnen die Natur des Alls und verkündete ihnen die vom Schicksal verhängten Gesetze. Insbesondere sollten sie gerecht leben und die Begierden beherrschen.

"Wer die ihm zugemessene Zeit hindurch wohl gelebt habe, der solle in die Behausung des ihm verwandten Gestirnes zurückkehren und ein seliges Leben führen.“

Andernfalls müsse er noch mehrere Verwandlungen, z. B. Eingehen in eine Tiergattung, erdulden, bis er durch Vernunft seiner Schwächen Herr geworden sei.

 

Das Übrige überliess der Weltenschöpfer den "jungen" Göttern, "nämlich, ihnen sterbliche Leiber anzubilden und das noch Rückständige, was zur Entstehung einer menschlichen Seele noch hinzukommen musste".

Dabei verfuhren diese jungen Götter ähnlich wie ihr Vater. Sie verkitteten Teile von Feuer, Erde, Wasser und Luft mit "unsichtbaren Stiften" zu einzelnen Körpern „und banden endlich die Umschwünge der unsterblichen Seele in diesen ab- und zuströmenden Leib hinein“. Der leibliche Strom ist am Anfang so gewaltig, dass die Seele durch all die Erschütterungen bewusstlos ist. Erst nach und nach stellt sich Ruhe ein, und wenn dann noch "geistige Ausbildung" zu Hilfe kommt, dann wird eine untadelige Lebensführung möglich.

 

Damit die göttliche Seele im Körper nicht von der sterblichen Seele "befleckt" werde, weisen sie der göttlichen Seele den Kopf zu, der sterblichen die Brust. In die obere Hälfte derselben kam der streitliebende Teil (der teil hat an Tapferkeit und Zorn), in die untere Hälfte derjenige Teil "welcher nach Speise und Trank begehrt und nach allem, was ihm die Natur des Leibes zum Bedürfnis macht".

 

 

Weiter Schöpfungen

 

Zur Nahrung schufen die Götter "die Bäume und Pflanzen mit ihren Samen und Früchten".

 

Als Abarten des Menschen schliesslich wurden die Vögel, die Landtiere und die Wassertiere gebildet.

"Und auf diese Weise werden denn noch jetzt, wie damals, alle bewussten Wesen ineinander verwandelt, indem sie je nach dem Verluste und Gewinne von Unvernunft ihre Gestalt wechseln."

 

 

Literatur

 

 

Jens Atzpodien: Philosophischer Mythos (eikos mythos) und mathematische Metaphorik in Platons Timaios. Diss. Univ. Bonn 1985.

Mathias Baltes: Die Weltentstehung des Platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Habil.-Schrift Univ. Münster 1974; 2 Bde, Leiden. Brill 1976-78.

Kareln Gloy: Studien zur Platonischen Naturphilosophie im Timaios. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986.

Andreas Graeser: Platons Ideenlehre. Sprache, Logik und Metaphysik. Eine Einführung. Bern: Haupt 1975 (kein Verständnis für die Ideenlehre).

Franz Lämmli: Vom Chaos zum Kosmos. 2 Bde, Basel: Reinhardt 1962, 22ff, 75ff

Rainer Marten: Platons Theorie der Idee. Freiburg i. Br.: Alber 1975.

Gottfried Martin: Platons Ideenlehre. Berlin: de Gruyter 1973.

Hugo Perls: Platon. Sa Conception du Kosmos. 2 Bde, New York, Éditions de la Maison francaise 1945;
dt.: Plato. Seine Auffassung vom Kosmos. Bern: Francke 1966 (schwärmerisch).

Wolfgang Scheffel: Aspekte der Platonischen Kosmologie. Untersuchungen zum Dialog „Timaios“. Diss. Univ. Münster 1974; Leiden: Brill 1976.

Dietrich Joachim Schulz: Das Problem der Materie in Platons „Timaios“. Diss. Univ. Bonn 1964.

Bernhard Sticker: Bau und Bildung des Weltalls. Kosmologische Vorstellungen in Dokumenten aus zwei Jahrtausenden. Freiburg: Herder 1967 (Originaltexte mit Einleitungen).

 

 

Neuere Literatur

 

Margot Fleischer: Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit, Parmenides, Platons Timaios. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 73-114.

Filip Karfik: Die Beseelung des Kosmos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios. Habil.-Schrift Univ. Prag 2002; München: Saur 2004.

Kyung Jik Lee: Platons Raumbegriff. Studien zur Metaphysik und Naturphilosophie im "Timaios". Diss. Univ. Konstanz 1999; Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.

Thomas Leinkauf, Carlos Steel (Hrsg.): Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance = Plato's Timaeus and the foundation of cosmology in the Late Antiquity, the Middle Ages and Renaissance. Leuven: Leuven University Press 2005.

Walter Mesch: Zeit und Ewigkeit in Platons 'Timaios'. Eine Untersuchung des demiurgischen Modells. In: Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Berlin : de Gruyter 2009, 67-97.

Jairo Escobar Moncada: Chora und Chronos. Logos und Ananke in der Elemententheorie von Platons "Timaios". Diss. Univ. Wuppertal 1994; Wuppertal: Deimling 1995.

Sousanna-Maria Nikolaou: Die Atomlehre Demokrits und Platons Timaios. Eine vergleichende Untersuchung. Diss. Univ. Köln 1997; Stuttgart: Teubner 1998.

Mischa von Perger: Die Allseele in Platons Timaios. Diss. Univ. München 1993; Stuttgart: Teubner 1997.

Lothar Schäfer: Herrschaft der Vernunft und Naturordnung in Platons Timaios. In: Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik. Bd. 1, Freiburg: Alber 1993, 49-83.

 

 


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