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Das verzwistete Ich - Ludwig Klages und sein philosophisches Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" von Roland Müller.213 Seiten. Bern: Peter Lang 1971.

 

Übersetzungsvorschläge:

The Paradoxical Ego

The Inconsistent Ego

The Ego at Strife

The Ego Set at Variance

 

Ludwig Klages (1872-1956) wurde durch seine Handschrift-, Charakter- und Ausdruckskunde (Erscheinungswissenschaft) bekannt. Seine Bücher erreichten hohe Auflagen und wurden u. a. ins Französische und Englische, Holländische, Spanische, Serbokroatische und Japanische übersetzt.

Die vorliegende Untersuchung ist die bisher eingehendste und erste seit dreissig Jahren, die seinen 1500seitigen "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929-32; 4. Aufl.1960) als ganzen betrachtet.

 

Diese kritische Analyse entspricht nicht Klages' Intention, der beschaulich-biozentrischen und hinweisenden Denkart des lebensabhängigen Geistes.

Dennoch wurde nach Wiedergabe des Lebenslaufs, von Beurteilungen und der Entstehung des Werks sowie einigen Auffälligkeiten in einer textgetreuen Nachzeichnung aller wichtigen Gedankenzüge - unter besonderer Berücksichtigung der Zweiheiten und des Ichs - ein systematischer Aufbau angestrebt. Dieser führt vom geistfreien Geschehen (=Wirklichkeit), dem elementaren und kosmischen Leben über die menschliche Wahrnehmung und die geistigen Akte zur Geisteswelt (= Sein) mit den Dingen (= Noumena), Begriffen, Theorien und dem lebensfeindlichen Willen.

 

Genauer: In der Paarung des Geschehens mit schauenden Seelen, d.h. des wirkenden mit dem empfangenden Pol, werden die Urbilder entbunden. Sie erscheinen (= Phainomena), und aus ihnen sprechen Seelen, Wesen oder dämonische Mächte.

Zufolge elementarer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit werden Ihre Charaktere oder Qualitäten von den Teilvorgängen des seelischen Schauens und leiblichen Empfindens aufgenommen. Deren Verschmelzung ist die Anschauung, die durch das Hinzutreten geistiger Akte zur Wahrnehmung wird. Diese auf ein entfremdendes Erleben gestützten auffassenden Akte sind im Unterschied zum unablässigen Fliehen und Sichwandeln der Bilder instantan und punkthaft fixierend, feststellend.

 

Das Bewusstsein ist damit diskontinuierlich; es ankert an Störungsstellen des Erlebnis- resp. allverbindenden Lebensstroms (= vitale Spiegelung). Es entreisst seine Gegenstände der Erscheinungswelt, resp. projiziert das Ding, das Dauernde in das Fliessende hinein. Es kann weder erleben noch synthetisieren, sondern nur Grenzen ziehen und dann beziehen, urteilen und regeln resp. Gesetze geben.

 

Der Mensch ist Träger der beiden wesensverschiedenen Mächte Leben und Geist. Das Ich ist das ausdehnungslose Zentrum (= Drehpunkt) ihres Zusammens, das Gegeneinander- wie Zusammenwirken ist.

 

Das Ich ist ein paradoxer Sachverhalt (Polarität II): als persönliches erlebend und geschichtlich, d. h. fliessend-wandelbar, als geistiges begreifend und beharrend, d.h. existent-identisch.

Seine Entstehung bleibt - wie der erste Geisteinbruch - recht dunkel; bedeutsam sind seine reaktive Tatnatur und der Selbstbehauptungszwang. Der Mensch erleidet nicht nur Eindrücke sondern auch Antriebe. Die sachbeziehbaren davon werden vom Geist gespalten, wodurch der Willensantrieb entsteht, der vom Kommando des Ichs seine Richtung auf den Zweck erhält.

 

Die zunehmende Selbstherrlichkeit der Vernunft und des nur verneinenden Willens (= universelle Hemmtriebfeder) gegenüber dem Trieb als vitaler Bewegungsursache kann in der Geschichte der Menschheit verfolgt werden und lässt wegen der steigenden Umweltvergiftung und Naturzerstörung infolge des Siegs des logozentrischen mechanistisch-deterministischen Denkens über die Gestaltungskraft der Seele (= Verlust der Bilderschau) wenig Hoffnung.

 

Klages' Lehre, basiert auf allgemeinen Erfahrungen sowie ausdrucks- und charakterkundlichen Forschungen sowie dem Studium der Vorsokratiker (v. a. Heraklit und die Eleaten), von Goethe, der romantischen Naturphilosophie (v. a. Carus), J. J. Bachofen, Nietzsche, Th. Lipps (sein Lehrer), M. Palágyi, der Studienfreunde Th. Lessing, St. George und Alfred Schuler. Die dichterischen Einflechtungen und die Ausführungen über Kunst und Mythologie ("Magna Mater") sind von bestechender Schönheit.

Leider zeigt eine sachbezogene Gegenüberstellung von Zitaten die Ungenauigkeit von Klages' Formulierungen, resultierend aus seinem sprunghaften Denken, mangelnder Reflexion über sein eigenes Schreiben und die Wissenschaftlichkeit (= Strenge) überhaupt. Gleichgerichtete Forschungen beachtete er kaum. Viele interessante Vergleiche ergäben sich da.

 

Paradoxes Fazit:

Dieses Werk ist eine bewundernswürdige und faszinierende Leistung in oft polemischem Ton und einer eigenwilligen Terminologie, die nicht nur das Sprachgefühl des Lesers stärkt, sondern eine grosse Zahl von bisher unbeachteten Fragen aufdeckt, jedoch - trotz seines Anspruchs - keine löst.

Voll trefflicher Einzelanalysen und verfolgenswerter Ansätze ist es ein gewaltiges Torso, das noch keineswegs ausgeschöpft ist. Es gälte, es als - möglicherweise tragfähiges - Modell erst zu entdecken, resp. zu entwickeln [1].

 

[1] Ähnl. E. Rothacker, 1954; H. Kasdorff 1954, 5 und 1969, 10, 415, 789; W. Hager, 1957, 13ff; A. Schuberth 1969, IX, XXVI.

 



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