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Von Jürgen von Kempski

In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 7, 1961,

Mathematische Theorie; II: Mathematische Sozialtheorie, 254

 

 

Ein allgemeines Prinzip der Rationalität des Verhaltens setzte voraus, dass sich das gesamte Feld der mathematischen Sozialtheorie von einheitlichen mathematischen Gesichtspunkten aus beherrschen liesse. Davon sind wir heute weit entfernt. Die Tendenz der gegenwärtigen Entwicklung, die sich ja ausserhalb der Ökonomie durchaus noch in den Anfangsstadien befindet, geht eher dahin, zunächst einmal zu einer allgemeinen Systemtheorie zu gelangen (Ludwig v. Bertalanffy), die die Modellbildungen auch auf anderen Gebieten, insbesondere der Biologie und Biosoziologie, umfasst und ihre Verwandtschaft untersucht, eine Tendenz, die durch die neuere Entwicklung auf den Gebieten der mathematischen Statistik und Spieltheorie, der Informationstheorie und Kybernetik naheliegen musste auf Grund der Beobachtung, dass in weit auseinanderliegenden Wissenschaften sehr verwandte mathematische Modelle eine Rolle zu spielen begannen.

 

Die übliche Aufteilung in Natur- und Geisteswissenschaften reicht für die Erfassung der sich hier vollziehenden Entwicklung nicht aus. Die Verwendung mathematischer Mittel ist an sich weder spezifisch naturwissenschaftlich noch spezifisch geisteswissenschaftlich.

Die Spieltheorie etwa deutet, wenn auf ökonomische oder strategische Vorgänge angewandt, diese weder als Poker noch als russisches Roulett, sondern sie behandelt sie nur mit gleichen oder verwandten Mitteln, mit denen sie Poker und dergleichen behandelt. Wenn sich zwei Bereiche mit gleichen oder verwandten mathematischen Mitteln behandeln lassen, so nicht, weil sie inhaltlich verwandt wären, sondern weil sie unter gewissen Gesichtspunkten sich als strukturell verwandt erweisen.

Die mathematische Behandlung mit ihrer fortschreitenden Anpassung der mathematischen Beschreibung an die aufgedeckte Struktur des Gegenstandes bedeutet gerade die Befreiung von der Diktatur der Bilder, wie sie sichin den bekannten „mechanistischen", „organizistischen" usw. Theorien niedergeschlagen hat. Es handelt sich nicht darum, das Modell aus einem Bereich, etwa der Wirtschaft, schematisch in ein Modell eines andern Bereiches, etwa der Politik, umzuinterpretieren, sondern darum, für den eigenen Bereich angemessene Modelle zu finden. Die allgemeine Systemtheorie versucht, dies durch systematische Behandlung der Modellbildungen in allen Wissenschaften zu erleichtern.

 

Der Begriff des Systems in dem hier gebrauchten Sinne lässt sich auffassen als eine Verallgemeinerung des Gestaltbegriffes, wie er durch Christian v. Ehrenfels in die Psychologie eingeführt und später nach verschiedenen Richtungen hin präzisiert worden ist (Paul Oppenheim, Kurt Grelling, Jürgen v. Kempski, Nicholas Rescher). Granville St. [richtig: Arthur David] Hall und Robert E. Fagen definieren ihn als den einer Menge von Objekten, Eigenschaften von Objekten und Beziehungen zwischen Objekten und Eigenschaften von Objekten. Diese sehr weite Definition erlaubt auch, von abstrakten Systemen, d. h. Systemen, zwischen deren Objekten nur mathematische oder logische Beziehungen bestehen, zu sprechen.

 

Als Beispiel kann ein beliebiges System von Gleichungen oder Ungleichungen aus der mathematischen Sozialtheorie dienen. Man kann ein solches ohne Rücksicht auf die sozialtheoretische Bedeutung der Variablen als ein mathematisches System Smath betrachten. Als solches stellt es dann ein Modell eines sozialtheoretischen Systems Ssoz dar, das es beschreibt, wenn man Smath sozialtheoretisch deutet. Ssoz stellt aber seinerseits wieder ein Modell dar, das in einer gewissen Idealisierung Vorgänge des sozialen Lebens wiedergibt oder wiedergeben soll. Das Modell Ssoz lässt sich oft ebensogut und eindeutig verbal beschreiben. Der Übergang zu Smath erlaubt aber, das Problem, das die Analyse von Ssoz aufgibt, in ein mathematisches zu überführen. Dabei können weitere Idealisierungen erfolgen oder sich als nötig erweisen. So wird man etwa vielfach diskrete Bereiche als Kontinua behandeln usw. - es verdient bemerkt zu werden, dass auch die Physik mit solchen Idealisierungen arbeitet -, freilich auch danach streben, ein der Struktur von Ssoz möglichst isomorphes Smath anzugeben.

 

Eine gewisse Schwierigkeit liegt darin, dass die Mathematik zwar lange Zeit den Wünschbarkeiten der Physik gefolgt ist, aber den Bedürfnissen der Sozialwissenschaften keine Beachtung geschenkt hat. Doch mit der neueren Entwicklung der mathematischen Statistik und Spieltheorie hat man für die Sozialwissenschaften neue und vielfach adäquatere mathematische Behandlungsweisen zu erschliessen begonnen.

 



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