Home Innovation als Verknüpfung von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft

 

 

Bei der Verflechtung von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sind vier Erscheinungen besonders zu beachten:

 

·                    staatliche Eigentätigkeiten, Einflüsse und Aufträge, z. B.

                        die vom Staat organisierte oder kontrollierte Forschung und Produktion,

                        staatliche Forschungs- und Produktionsaufträge an private Institute und Unternehmen,

                        staatliche Protektion oder Beschränkung von Erfindern und Produzenten;

·                    die Verbindung von Industrie und Hochschule;

·                    die industrieeigenen Werkstätten und Forschungslabors;

·                    die Verbindung von Erfinder und Unternehmer in einer Person.

 

Der Staat als Arbeits- und Auftraggeber

 

Dass der Staat, Könige oder Fürsten, vor allem für militärische Aufgaben, zu allen Zeiten Gelehrte, Künstler und Ingenieure in ihre Dienste genommen haben, ist bekannt: so befassten sich etwa Leonardo, Michelangelo und Dürer, später Galilei, Stevin, Guericke und Desargues unter anderem auch mit Festungsbau.

 

Ähnliches gilt für den Geschützbau (seit ca. 1300), Büchsen (1360) und Gewehre (1560), Ballistik (1537), Navigation und den Bau von Kriegsschiffen (seit 1512), Bergbau und Hüttenwesen einschliesslich Pumpen, Förderanlagen, Mineralogie und Metallurgie.

 

Staatliche Manufakturen sind ebenfalls alt. Im «Merkantilismus» des 17. und 18. Jahrhunderts begann der Staat erneut, direkt oder indirekt, in die Wirtschaft einzugreifen: durch Unterstützung der nationalen Gewerbe und Landwirtschaften, durch Förderung neuer Industrien und eine planmässige Handels- und Zollpolitik. Auch beteiligte sich der Staat ganz direkt am Wirtschaftsleben.

 

Wichtige Impulse gingen von der Feuerwaffenindustrie aus

 

Legendär geworden ist der Auftrag der amerikanischen Regierung 1798 an den Erfinder Eli Whitney, Musketen in grosser Zahl herzustellen. Manche datieren die Serienfertigung, Standardisierung und modulare Produktionsweise (Austauschbarkeit von Teilen) auf dieses Jahr. Jedenfalls ist spätestens seit dieser Zeit der Einfluss staatlicher Produktionswünsche auf die Innovationskraft von privaten Unternehmen nicht gering einzuschätzen.

 

Gerade die Feuerwaffenindustrie erwies sich als Impulsgeber. Das konnte Nathan Rosenberg an den Werkzeugmaschinen zeigen. Die schweren Mehrzweckgeräte waren zuerst von den Erfordernissen der Textilmaschinenwerkstätten und seit 1830 der Eisenbahnindustrie bestimmt. Aber die leichteren, stärker spezialisierten Hochgeschwindigkeitswerkzeugmaschinen entstanden auf Grund der Produktionserfordernisse der Waffenhersteller.

 

Universalfräsmaschine (1860) und Revolverdrehbank (1845)

 

·                    «Die Fräsmaschine ... verdankt ihre Entstehung in den Vereinigten Staaten den Versuchen von Waffenherstellern, eine wirksame Maschine herzustellen, die das sehr teure Handfeilen und Ziselieren übernehmen sollte» (225). Eli Whitney und andere verwendeten in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts noch unausgereifte Maschinen. «Die Weiterentwicklung war hauptsächlich die Arbeit von regierungseigenen Waffenfabriken.» Ergebnis war um 1850 die einfache «Lincoln miller», welche sich rasch einen bedeutenden Platz im gesamten Metallgewerbe eroberte. In 25 Jahren wurden nahezu 100 000 solcher Maschinen gebaut.

·                    Den Stimulus, für die Universalfräsmaschine lieferte zu Beginn des Bürgerkrieges die Fabrikation von Springfield-Musketen.» Zur Herstellung des Spiralbohrers, der für das Bohren eines Loches im Zündstift benötigt wurde, entwickelte die Firma Brown und Sharpe um 1860 die seither für alle Arten von Produkten wie auch andere Werkzeugmaschinen ausserordentlich wichtige Universalfräsmaschine.

·                    Die Erfindung der Revolverdrehbank wird einem Waffenhersteller zugeschrieben, der 1845 einen Auftrag der Regierung erhielt, Zündschlösser für Kavalleriepistolen herzustellen. 1852 wurde das Prinzip dieser Drehbank auch in der Waffenfabrik Colt mit zwei Revolverscheiben eingeführt. Ein unbekannt gebliebener Mitarbeiter von Colt erfand später die automatische Revolverdrehbank.

·                    Die zylindrische und später Universalschleifmaschine (1876) wurde dagegen von Brown und Sharpe aus Erfordernissen des Nähmaschinenbaus entwickelt.

 

1774: «spin-off»

 

Was die Frage nach dem «spin-off», also nach der Übertragung von Innovation aus dem militärischen in den zivilen Bereich betrifft, sind damit bereits wichtige Hinweise gegeben. Clive Trebilcock hat aber noch tiefer gegraben und herausgefunden, dass es zumindest zwei frühere Beispiele gibt. Schon Werner Sombart hatte 1913 in Hinblick auf die industrielle Revolution behauptet, dass «das Kanonengiessen das grosse Stimulanz für die Entwicklung der Giessereien war». Tatsächlich hat Henry Cort seine Experimente mit Schmiedeisen mit dem ausdrücklichen Vorsatz begonnen, es für das Flotten- und Waffenwesen nutzbar zu machen. Ergebnis war der Puddelprozess (1774).

Nach mehr als einem Jahrzehnt Arbeit im Geschützwesen hatte im selben Jahr John Wilkinson die Kanonendrehbank erfunden. Mit dieser liessen sich nicht nur genaue Geschütze herstellen, sondern sie bohrte auch erstmals Zylinder für Dampfmaschinen so gut, dass sie James Watts und Matthew Boultons Ansprüchen genügten.

 

Seit 1878: Rüstungsprogramme

 

Immerhin waren alle diese Effekte kein systematischer «spin-off». Ein solcher ergab sich erst, zumindest in England, als 1878 das englische Staatsmonopol für die militärische Produktion aufgehoben wurde. Gleichzeitig startete die britische Rüstungsindustrie ein «rapides Entwicklungsprogramm. Das Ergebnis war eindrucksvoll: Die Schöpfung des ersten modernen ‹Bündels› von Rüstungsinnovationen umfasste praktisch jede Waffenkategorie, von der neuen Generation der Schweren Hinterladergeschütze (1878) zum ersten brauchbaren Torpedo, von der Schnellfeuerkanone (1887) zum Unterseeboot (1900), vom Magazingewehr (1891) zum Militärflugzeug (um 1909). Parallele Fortschritte in der industriellen Praxis waren unvermeidlich… Sogar auf dem Gebiet der Explosionsstoffe, das vom Maschinenbau weit entfernt, aber ebenso empfänglich für die Anforderungen des Munitionsbedarfs war, wurden ungewöhnliche Fortschritte erzielt» (Clive Trebilcock, 343).

 

Um 1900: 6-10% des Gewinns für die Forschung

 

Wie gross das Interesse der Waffenhersteller an einer wissenschaftlichen Basis ihrer Produktion war, zeigt sich darin, dass sie im Unterschied zur «konservativen Masse der britischen Industriellen» um die Jahrhundertwende 6-10% des Nettogewinns in die Forschung steckten. Der «spin-off» zeigt sich dabei vor allem in der Metalltechnologie, im Schiffsbau, im Maschinenbau und in Teilen der chemischen Industrie. «In jedem Fall waren die Elite-Firmen in der Lage, Ideen und Neuerungen im ‹spin-off› an die gesamte Industrie abzugeben» (349). Und schliesslich: «Die Gewehr-, Fahrrad- und Automobilproduktion entwickelten sich zwischen 1880 und 1944 Seite an Seite.» Herausragende Firmen waren B. S. A. -Daimler und Vickers-Wolseley.

 

Gelehrsamkeit und «profanes» Leben

 

In alledem zeigen sich also ebenso verschiedenartige wie vielfältige Verbindungen von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft. Wenn man dies von den Fachgebieten her noch etwas genauer betrachtet, so kann man sagen: Abgesehen von der Theologie bestanden die frühesten Verbindungen von «Hochschulen» zum «profanen» Leben in der ärztlichen Praxis (Salerno, seit dem 10. Jahrhundert) und im Bereich der Rechtssprechung (Pavia, Bologna). Pflanzen-, Arzneimittelkunde und Chemie kamen bald dazu.

So sollen beispielsweise die direkte Wasserkühlung und die Schlangenkühlung vor 1100 in der Ärzteschule von Salerno entwickelt worden sein. Das erlaubte nicht nur die Darstellung der starken Säuren, sondern auch des Alkohols.

 

Ganz andere Verbindungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft waren etwa die Mathematik und Mechanik, Geographie und Astronomie, Wirtschafts- und Staatslehre. Letztere beide waren insbesondere wirksam als Zins-, Wert-, und Preislehren sowie für die Münzen-, Handels-, Verwaltungs- und Militärpolitik. Aus militärischen Gründen wiederum war der Staat sehr an medizinischen Fortschritten interessiert (Behandlung von Infektionskrankheiten, Schusswunden, Verhinderung von Skorbut). Über aller Verbindung von Technik und Wirtschaft sollte man gerade dies nicht vergessen.

 

Engere Verbindungen werden freilich auf allen Ebenen und in vielen Bereichen erst im 17. Jahrhundert deutlich, betreffe das nun den Instrumenten- und Maschinenbau oder den Hoch- und Tiefbau. Am engsten war seit dieser Zeit wohl die Verbindung zwischen der chemischen Wissenschaft und der Wirtschaft.

 

Wissenschafter und Praktiker entwickeln zusammen die Dampfmaschine

 

Ein dankbares Beispiel für alle hier geschilderten Zusammenhänge ist die Entwicklung der Dampfmaschine. Milton Kerker berichtet:

 

            Hinter der Dampfmaschine stecken zwei Notwendigkeiten: einerseits die, Bergwerke zu entwässern, und andererseits jene, die Wasserversorgung für die wachsenden Städte sicherzustellen.

            An einem ersten Versuchsmodell konnte der Naturforscher Giovannbattista della Porta 1601 zeigen, dass Wasser mit Dampf bewegt werden kann.

            Das ganze 17. Jahrhundert waren «eher begüterte und gelehrte Männer» mit Versuchen in dieser Richtung beschäftigt, und Wissenschafter begründeten die Pneumatik als exakte, mathematische Wissenschaft.

            Denis Papin, «ein hervorragender Wissenschafter» und Mathematikprofessor, baute 1690 eine Versuchsapparatur, die aber noch keine praktisch anwendbare Maschine war. Er starb völlig verarmt.

            Die ersten Patente, wenn auch nicht für eine betriebsfähige Maschine, erhielt ab 1698 Thomas Savery, «Mitglied der Royal Society, Militäringenieur, wissenschaftlicher Experimentator, Staatsbeamter und produktivster Erfinder seiner Zeit».

            Der Schmied und Eisenwarenhändler Thomas Newcomen tat sich mit Savery zusammen und baute unter dessen Patenten die erste brauchbare Maschine (1712). Newcomen hatte Verbindungen zu Robert Hooke, Kurator der Royal Society.

            Der Ingenieur und Kanalbauer John Smeaton führte seit 1767 enorme praktische Verbesserungen durch.

            James Watt war nicht Techniker sondern «mathematischer Instrumentenbauer» in der Universität Glasgow. Es experimentierte dort mit Werkstattmodellen. Zur angewandten Technik hatte er keinen Kontakt, dafür umso engere Beziehungen zu den führenden Wissenschaftern seiner Zeit. Seine Hinwendung zur Praxis kam erst, als er die meisten Erfindungen bereits gemacht hatte und es notwendig wurde, «eine wirtschaftlich leistungsfähige Maschine zu entwerfen und zu realisieren». - Mit dem Unternehmer Matthew Boulton zusammen gründete Watt 1774 seine erste Fabrik, die in vier Jahren bereits vierzig Maschinen herstellte und 1801 über 600 Personen beschäftigte. Watt gehört damit zu den nicht so zahlreichen Erfindern, die auch geschäftlich erfolgreich waren.

            Kesselexplosionen auf Dampfschiffen veränderten z. B. in den USA «die Rolle der Regierung gegenüber dem privaten Unternehmertum» (John G. Burke). Zwar zögerten die verschiedenen Kongresse lange, wirkungsvolle Massnahmen zu ergreifen. doch 1838 und 1852 traten entsprechende Gesetze in Kraft. In Europa waren dagegen Dampfmaschinen- und Kessel-Gesetze schon verabschiedet worden, so in Frankreich 1823 und 1830, Belgien und Holland, aber auch in Grossbritannien 1846 und 1851.

            Sadi Carnot, Absolvent der Ecole Polytechnique und Militäringenieur, gelangte auf Grund von Überlegungen zur Dampfmaschine im Jahre 1824 zu einer physikalischen Theorie der Wärmemaschinen. Ihre Auswertung und Formalisierung durch Clausius (1850) und Kelvin (1850) führte zur Thermodynamik mit ihrer Auffächerung in Naturwissenschaft und Technik. Lord Kelvin war übrigens von 1846-1907 Professor der theoretischen Physik an der Universität Glasgow, aber auch Ingenieur mit einer fast unerschöpflichen Erfindungsgabe.

            Charles Parsons wuchs in einem wissenschaftlichen Milieu par exellence auf. Sein Vater war Astronom und Präsident der Royal Society. Charles studierte Mathematik in Cambridge. Die 1884 von ihm erfundene Dampfturbine stellte so komplexe Probleme, «dass sie nur durch die Kombination aller verfügbaren Mittel der Mathematik, der Naturwissenschaften und des Maschinenbaus bewältigt werden konnten».

 

 

Literatur

 

Hausen, Karin/ Reinhard Rürup (Ed.): Moderne Technikgeschichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975.
Darin Peter Mathias: Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel von 1600 bis 1800, 73-95;
Milton Kerker: Die Naturwissenschaften und die Dampfmaschine, 96-105;
Nathan Rosenberg: Technischer Fortschritt in der Werkzeugmaschinenindustrie 1840-1910, 216-242;
John G. Burke: Kesselexplosionen und bundesstaatliche Gewalt in den USA, 314-336;
Clive Trebilcock: Rüstung und Industrie. Zum "spin-off"-Problem in der britischen Wirtschaftsgeschichte 1760-1914, 337-357.

Landes, David S.: Der entfesselte Prometheus. München: dtv wissenschaft 1983 (engl. 1968; dt. zuerst 1973 bei Kiepenheuer & Witsch).

Law, R. J.: The steam engine. A brief history of the reciprocating engine. London 1965.

Matschoss, Conrad: Geschichte der Dampfmaschine. 1901; Reprint Hildesheim 1978 und viele weitere Aufl.

Matschoss, Conrad: Die Entwicklung der Dampfmaschine. Berlin: Springer, 2 Bde. 1908; Reprint 1983 und 1987.

Sombart, Werner: Krieg und Kapitalismus. 1913; 2. Aufl. 1922.

Stuart, R.: A Descriptive History of the Steam Engine. London: Knight and Lacey 1824.

 

 

(Geschrieben und verschickt im Oktober 1984;

erschienen unter dem Titel: "Seit jeher eng liiert", Bilanz, Nr. 12, 1985, 61-67)

[Nachgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, als Kap. 6: „Innovation im Auftrag von Staat und Wirtschaft“, 69-75]



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