Home Ein Zwanzigjähriger beurteilt das junge Fernsehen

 

Erschienen in „Film + Radio“, 12. September 1964

unter dem Titel: „Weshalb ich gegen das Fernsehen bin“

 

vergleiche:

Worlds of media & internet

 

 

Vor einiger Zeit ist mir die Ehre zuteil geworden, für eine in beschränkter Auflage von einigen wenigen hundert Stück hektographiert erscheinende Zeitschrift meine Meinung über das Fernsehen zu äussern. Eigentlich wurde ein allgemeiner Aufsatz oder besser noch eine Abhandlung erwartet; als Nachstehendes herauskam, bedachte man mich mit einem mitleidigen Lächeln und murmelte, dass es scheinbar auch heute noch Idealisten gebe. - Nun, urteilen Sie selbst.

 

Mehr negative als positive Seiten

 

Weshalb ich gegen das Fernsehen bin? Als Begründung den lapidaren Ausspruch "weil eben leider die positiven Seiten die negativen nicht aufzuwiegen vermögen" beizuziehen, mag zwar etwas gewagt erscheinen, trifft aber desungeachtet gerade den Kern der Sache.

Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass bisher gegen jede Neuerung und Erfindung durch Jahrhunderte hindurch allenthalben Sturm gelaufen worden ist, gegen Windmühlen, die Spanisch-Brötli-Bahn wie gegen das Radio. Ungeachtet aller Proteste und der Vielzahl von schädlichen und verheerenden Wirkungen, die man in den grellsten Farben diesen Errungenschaften zuzuschreiben pflegte, setzte sich doch bisher eine jede durch, trat den berühmten Siegeszug um die Welt an.

 

Jeder einzelne soll sich wehren, davon überwältigt zu werden

 

So ist es auch mit dem Fernsehen geschehen; in der phantastisch kurzen Zeit von nicht einmal zwei Jahrzehnten hat es beinahe die ganze Menschheit in seinen Bann gezogen. Es also jetzt noch verdammen zu wollen, wäre reichlich spät und deshalb sinnlos. Dennoch bin ich dagegen, was allerdings nicht heissen soll, dass ich als ein Don Quijote dagegen anrennen und es als menschheitsschädigend brandmarken möchte, weil ich der Überzeugung bin, dass man auch im Zeitalter der "Vermassung und Technisierung" zwar nicht gegen die Technik wettern, aber sich, jeder einzelne, wehren soll, davon überwältigt zu werden. Jeder Mensch sollte den Mut besitzen dürfen und können, sich gewisse Dinge vom Halse zu halten, auch wenn alle andern unter deren Einfluss stehen.

 

Gerade heute scheint es mir lebenswichtig, dass jeder, der zu überlegen wagt, seine Individualität zu bewahren vermag und sich weder den "Annehmlichkeiten, welche uns die Technik beschert" noch der allgemeinen Meinung und dem was "so Brauch ist" beugt.

 

Technische Meisterleistung

 

Doch zur Sache: Den positiven Seiten gebührt der Vorrang. Es steht ausser Zweifel, dass das Fernsehen ein äusserst zeitgemässes und faszinierendes Kommunikationsmittel darstellt, einen jahrtausendealten Wunsch verwirklicht: beliebig weit entfernte Gegenstände und Geschehnisse in Bild und Ton genau im Zeitpunkt des Ablaufes zuhause miterleben zu können.

 

Die technische Verwirklichung dieses Gedankens stellt unzweifelhaft eine Meisterleistung ohnegleichen dar - kein Wunder, dass sich die Entwicklung von der Spirallochscheibe von Nipkow 1884 über die Braunsche Röhre (1906 von Dieckmann) bis zu den ersten praktischen Übertragungen im Jahre 1925 hinzog und es nochmals zehn Jahre dauerte, bis brauchbare öffentliche Vorführungen in Deutschland stattfinden konnten (welche dann durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen und nach dessen Ende von den USA, später Frankreich und England wieder aufgenommen wurden).

 

Völkerverbindend – Kultur und Natur vermittelnd

 

Die Arbeit und der Erfindergeist, welche dahinterstecken, nötigen einem unbedingt uneingeschränkte Bewunderung ab. Auch die völkerverbindende Macht, die es auszuüben imstande ist, bleibt unbestritten: Fremde Kulturen werden einander nähergebracht; Bilder aus dem schwärzesten Afrika gelangen in die hinterste Stube. Informationen über Geschehnisse von bleibendem Wert und solchen von nur kurzdauernden Aktualität werden übermittelt.

Zudem ist die Möglichkeit gegeben, sich Erfahrungen anderer zunutze zu machen, sich Wissen über alles mögliche anzueignen; Volkshochschule am Bildschirm, ja Universitätskurse, Schulfernsehen, die Möglichkeit kulturelle Veranstaltungen (volkstümliche Festspiele, Theateraufführungen) geniessen zu können, die man sonst aus finanziellen oder geographischen Gründen nie in der Lage wäre, an Ort und Stelle mitzuerleben - kurzum die Darstellungen jeglicher menschlichen Manifestationen (und auch solche der Natur) liessen das Fernsehen zu einem fruchtbaren Übermittler umfassender Übersicht über beinahe alles, was auf Erden anzutreffen ist, werden.

 

Ich sage mit Absicht "liessen", denn ist dies überhaupt gefragt? Das klingt vermutlich reichlich naiv und nicht von allzugrosser Erfahrung zeugend. Doch ist es wirklich notwendig, über alles und jedes Bescheid zu wissen (wie genau ist dann noch eine zweite Frage!)? Ich befürchte nämlich (ein rührender Zug?), dass vor lauter Ferne man die Nähe, sich selber vergisst, verschiedenstes im engern Lebenskreis der Vernachlässigung anheimfallen lässt.

 

Erholung und Entspannung?

 

Damit sind wir schon bei den negativen Seiten angelangt:

 

Beginnen wir beim Einzelnen und der Familie. Ist es wirklich so, dass das traute Leben im Heim gefördert wird, wenn die ganze Familie Abend für Abend sich unmittelbar nach dem Nachtessen einträchtig und stumm um das Gerät schart, der Dinge harrt, die da gezeigt werden, schliesslich um halbelf oder elf Uhr erschöpft aufatmet und sich nach kurzem Gutenachtsagen zu Bett begibt?

Man spricht da auch von Entspannung, Abwechslung vom Alltagstrubel, Anregung zu Diskussionen, Bereicherung eben an Wissen, etc. Soweit so gut. Ist das aber Erholung, wenn man sich allabendlich für einige Stunden in einen Stuhl drücken muss (in den USA sollen es Kinder bis auf zehn Stunden bringen), meist auch noch an Samstag- und Sonntagnachmittagen?

Könnte man unter Erholung und Entspannung nicht auch frische Luft, Bewegung, Licht, Freude und Fröhlichkeit verstehen? Und wo bleibt einem die Zeit, über sich selber nachzudenken oder oder gar - was heute allerdings verpönt scheint - unbeschwert vor sich hinzuträumen?

Etwa zwanzig Stunden in der Woche opfert man sich für Information und in gleichem Masse für Unterhaltung und Ablenkung auf.

 

Wissensvermittlung?

 

Wie steht es mit der Wissensvermittlung? Ganz klar, dass es im Zeitalter des Lehrermangels und der Erwachsenenbildung rationeller ist, von zentraler Stelle aus bestausgewiesene Kräfte und Wissenschafter Lektionen erteilen zu lassen - die in den USA wie in den abgelegensten Dörfern Kalabriens von dutzenden oder zehntausenden von Schülern aller Altersstufen (je nach Programm) gierig verfolgt werden. Gerade das aber finde ich für die Kinder und Jugendlichen das Bedenkliche, denn Schule bedeutet doch nun einmal Erziehung - und erzogen muss der junge Mensch werden -, und dafür braucht es unumstösslichen menschlichen Kontakt mit einem oder mehreren Lehrern; und dieses persönliche Verhältnis zwischen Schüler und Erzieher kann durch eine noch so interessante und geschickt gestaltete Sendung am Bildschirm nicht ersetzt werden.

 

Es scheint mir hier sogar, als ob das gerade der beste Weg zurück zur enzyklopädistischen "Lernschule" wäre, wo die Maxime galt: "Geduldiges Zuhören, fleissiges Aneignen", oder gar noch weiter zurück zur altägyptischen Auffassung: "Werde eine Bücherkiste!"

Bei der Erwachsenenbildung stellt sich zudem die Frage nach dem Niveau - welche Schichten will man erreichen? - und der eingehenden Behandlung des Stoffes.

 

Selbstregulation des Organismus

 

Überhaupt, wie wird diese tägliche Flut von Gebotenem aufgenommen, wieweit dringt das Gehörte und Gesehene auch wirklich ins Bewusstsein? Als beispielsweise die Erfindung des Lasers publik wurde und ich einige Leute darüber befragte, hiess es in verblüffender Einstimmigkeit: "Ach ja, ich weiss schon, was das ist; gerade letzthin war doch eine Sendung darüber am Fernsehen. Das ist doch, warten Sie mal - ". Ich warte heute noch.

 

Dieses kleine Beispiel scheint mir bezeichnend für die Selbstregulation des menschlichen Organismus oder Geistes, der sich bereits gegen die zusätzliche Reizüberflutung nach dem üblichen Arbeitstag zu wehren beginnt. Obschon das Fernsehen eine grundlegend andere Auswirkung als die bisherigen Erfindungen hat, indem es, da es zwei Sinne beansprucht, den Betrachter vollständig von der Umwelt absorbiert ( - beim Radio ist dies meist nicht zu beobachten, da es einen beträchtlichen Unterschied gibt zwischen: den Apparat eingeschaltet haben und wirklich zuhören - ) ist also gegen die Überbeanspruchung des Aufnahmevermögens gesorgt.

 

Haustiere fliehen vor dem eingeschalteten Gerät

 

Wenn wir schon beim Körperlichen sind, seien einige medizinische Bemerkungen eingefügt: Die fünfundzwanzigfache Folge von etwa aus sechs Millionen Leuchtpunkten zusammengesetzten Bildern pro Sekunde zersplittern uns mit einer künstlich hervorgerufenen Sinneswahrnehmung, bewirken beispielsweise Nervosität. Zudem beträgt der Strahlungswert der Fernsehröhre im Abstand des Betrachters 0,05 r pro Woche, gerade die höchstzulässige Wochentoleranz. Auch entsteht bei der erforderlichen Zeilenfrequenz von mehr als 15 600 Herz ein lebenszerstörender hoher Dauerton, der an den untern Unterschallbereich grenzt, ein Grund weshalb zum Beispiel Haustiere vor dem eingeschalteten Gerät fliehen. Die Schädigung des Auges durch Überanstrengung und das unkontinuierliche Spektrum von vorwiegend gelblichem und bläulichem Licht kommt dazu.

 

Alles aus zweiter Hand

 

Was aber weit schwerer wiegt, ist das Abstellen des Fernsehenden auf Erfahrungen anderer, auf Meinungen und Darstellungen, die andere liefern, die er unkontrollierbar präsentiert bekommt.

Eine gewisse Initiativelosigkeit ("man erhält ja alles auf Fingerdruck ins Haus") und ein Verkümmern schöpferischer Kräfte im Verein mit der Verarmung an selbergeschaffenen und -erlebten Bildern resultieren. Er hat alles aus zweiter Hand, verfügt demnach nicht mehr über eigene Erfahrung und vor allem die Fähigkeit, etwas empfinden und selbst erleben zu können, wodurch man doch erst richtig zum "Wissen" kommt. Der unendlich weit gespannte Bogen menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten wird so künstlich auf einen sehr engen Bereich eingeschränkt.

 

Abstumpfung- Unaufmerksamkeit - Berieselung

 

Es mag sein, dass diese Verallgemeinerung nach Schwarzmalerei aussieht, denn erstens kommt es noch immer auf den Einzelnen an, wie er sich zu seinem Apparat einstellt, ob er dessen Sklave ist oder die Programme auszuwählen versteht, und zweitens ist es wahrscheinlich, dass er mit der Zeit eine gewisse Unbefriedigtheit erleben muss, das Fernsehfieber einer Abstumpfung Platz macht, sodass er sich entweder von seinem Gerät löst oder dann nur noch aus Gewohnheit, dafür nunmehr äusserst unaufmerksam das Gebotene an sich herabrieseln lässt.

Doch wieviele in dem magischen Bann des Fernsehens eingesponnen bleiben und so die Schädigungen körperlicher und vor allem geistiger Natur davontragen, wer könnte ihre Zahl nennen?

 

Und da bleibt eben die Skepsis: Früher hat man in andern Belangen dem "Volk", der "breiten Masse" auch nicht über den Weg getraut und deshalb die Zensur eingeführt, heute appelliert man an die Vernunft der Bürger, angemessenen Gebrauch dieses neuen Mediums zu machen. Wer aber sagt, wieviele dazu fähig sind, sich der Macht dieses mächtigsten Massenmediums zu entziehen?

 

 

Meldung in der Schweizer Boulevardzeitung vom 14. Juli 2004, Seite 25

 

„Jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen: Zum Glücklichsein genügt ein Fernseher. Dies sagen 68 Prozent von 2000 Testpersonen. Sie wurden vom deutschen BAT-Freizeitforschungsinsitut dazu befragt, was sie zum persönlichen Wohlfühlen brauchen.“

 

Kurze Zeit später ergänzte eine deutsche Fernsehzeitschrift:

 

„Damit liegt die Flimmerkiste vor gutem Essen (47 Prozent) und der Zeitung (46 Prozent). Und die Arbeit im eigenen Garten macht der bequemen Urlaubsreise (41 Prozent) mit 40 Prozent Konkurrenz.“

 

 



Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch