Home Die Bildungskatastrophe ist global

 

Philip H. Coombs: Die Weltbildungskrise. Verlag Klett, Stuttgart 1969 (engl. 1968).

 

 

Diese "Weltbildungskrise" müsste – noch mehr als Georg Pichts „Bildungskatastrophe“ (1964) - wie eine Bombe einschlagen.

Wer traut und träg im Stübchen oder Hörsaal sass, darf sich der harten Realität nicht länger verschliessen - auch wenn es bei uns doch gar nicht so schlimm ist ...

 

Der Autor, Philip H. Coombs, weiss wovon er spricht, war er doch unter Kennedy kultureller Staatssekretär und dann Gründer und fünf Jahre lang Direktor des Internationalen Instituts für Bildungsplanung der UNESCO in Paris. Er geht systemanalytisch vor und fasst das gesamte Bildungswesen als System, wo

"eine Gruppe von Inputs ... einem Prozess unterworfen sind, der Outputs zu erzielen hat, die den Zielen des Systems entsprechen sollen".

Die wichtigsten Inputs sind Schüler und Studenten (nebst Lehrern und Geld), und da ist folgendes festzustellen:

"Obwohl der Schulbesuch seit 1950 beträchtlich zugenommen hat, konnte er mit der noch schneller wachsenden gesellschaftlichen Bildungsnachfrage nicht Schritt halten."

Das heisst: Trotz der "beispiellosen Expansion der Bildungssysteme" hat das gleichzeitige Bevölkerungswachstum zu einem, global gesehen, Anwachsen des Analphabetismus geführt. Die "Hochkonjunktur auf dem Bildungsmarkt" wird sich noch verstärken; Lehrer bilden ein "Qualitäts- und Kostenproblem", und die Ausgaben sind ständig im Steigen.

 

Auch die Outputs sind ein Problem, vor allem die "unfertigen Produkte des Bildungswesens" - also Versager oder "schlechte Qualität" -, ebenso wie die "deutliche Diskrepanz zwischen den Strukturen des Outputs ... auf der einen, des Arbeitskräftebedarfs für die wirtschaftliche Entwicklung auf der andern Seite".

Die Folgen: "ausgebildete" Arbeitslose. Zahlen sagen nichts aus? Immerhin: Über 93 % der Hochschulabsolventen in Ghana und Tunesien sind Geisteswissenschafter, fast 0 % Mediziner, 1 % Agronomen; für Ceylon und Mexiko lauten die Prozentzahlen ca. 75 % Geisteswissenschafter, 7 % resp. 12 % Mediziner und keine Agronomen.

 

Der Grund liegt in psychologischen Motiven, das heisst Vorurteilen und falschen Einstellungen, die auf der ganzen Welt den "white-collar job", d. h. den Schreibtischberuf für erstrebenswert halten. Diese Wunschvorstellungen können individuell aber auch kollektiv sein, was sie in Zusammenhang mit den Bildungszielen überhaupt bringt.

 

Wer soll über diese entscheiden, die Modernisten oder Humanisten? Sollen die Entwicklungsländer Bildungsstandards der Industrienationen übernehmen? Sind die Lehr- und Lerntechniken den Anforderungen noch gewachsen? Wie muss das Management, die Leitung des gesamten Systems, die Verwaltungsstruktur aussehen? Wie steht es mit der Effizienz des System, das heisst mit der "Relation seiner Outputs zu seinen Inputs"? Was ist mit Erwachsenenbildung und Fortbildung? Wären internationale Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe Lösungsmöglichkeiten?

 

Fragen über Fragen. Bildungsstrategie, die auf grundlegende Erneuerung abzielt, ist unbedingtes Erfordernis. Die mit Umweltvergiftung, Ernährungs- und politisch-militärisch-sozioökonomischer Krise wohl drohendste Weltkrise der Bildung und Erziehung kann nur mit Geld, guten Arbeitskräften (Lehrers und Beamte), Mut, Beweglichkeit und der Bereitschaft, vieles neu zu sehen, überwunden werden.

 

Die Sprache von Coombs mag erschreckend, ja unmenschlich klingen. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind es ebenfalls. Eine Sammlung von Statistiken und Diagrammen beweist das - wenn wir es nicht schon am eignen Leib und Geist erfahren haben.

 

Dass Coombs Wirtschaftswissenschafter ist, hindert ihn nicht, in seiner frappant umfassenden Studie seelische wie soziale, finanzielle wie organisatorische, politische wie architektonische Aspekte zu berücksichtigen. Er gibt auf knappstem Raum ein differenziertes und nuanciertes Bild, allerdings kein rosiges.

 

Dennoch möchte er nicht, dass "dieses Buch als Schrei der Hoffnungslosigkeit und Aufruf zu stoischer Resignation angesichts drohender Verhältnisse missverstanden" werde. Trotz des "traurigen Indizienmaterials" ist er zuversichtlich. Ganz konkret gibt er nach seiner verdienstvollen Analyse weltweit völlig veralteter Zustände und Ansichten eine Menge von Vorschlägen und kombinierten Lösungspaketen.

 

Die Krise könnte bewältigt werden, wenn ... Ja, wenn alle Lehrer und Politiker sich diese Unterlagen und Überlegungen zu Gemüte führten. Man lasse sich vom Jargon und der Tatsache, dass die Schweiz nirgends erwähnt wird, nicht vor den Kopf stossen. Die Situation ist tatsächlich noch nie dagewesen, unerfreulich und bedrückend.

 

Information - und Forschung - darüber ist unerlässlich. Einen Ansatz dazu hat das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin (gegründet 1963), geleistet, das in der Reihe "Studien und Berichte" bereits 19 Untersuchungen vorlegte und nun im besprochenen Buch den 13. Beitrag der "Texte und Dokumente zur Bildungsforschung" des Ernst Klett Verlags, Stuttgart, herausgab.

 

Erschienen ganz leicht verändert unter dem Titel „Bildung in weltweiter Not“ in den Basler Nachrichten, 3. März 1970, und unter dem Titel „Globale Bildungskrise“  in der Neuen Berner Zeitung, 24./25. April 1970

 


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