Home Des Menschen Geschichte - seine Kult-Uhr?

 

Ein zorniger Essay, 31. Januar bis 2. Februar 1973;

Zwischentitel nachträglich eingefügt

 

Inhalt

Ist das Schwert schneller zur Hand als der Ölzweig?

Wieviel Blut hat aber Palästina gesehen?

Halten geistige Gebilde die Welt in Atem?

Was formt den Menschen?

Ist der Mensch ein grosser Kämpfer?

Haben wir es herrlich weit gebracht?

Ist Geschichte ein Spiegel des Menschen, in dem er sich nicht sehen will?

Wäre alles Menschenwerk Kult?

Wer oder was regiert die Welt?

Was lehren uns die vergangenen Jahre?

Mit wieviel verschiedenen Ellen wird gemessen?

Was ist das Weltgewissen?

Wovon lebt der Mensch?

 

 

 

So die Geschichte überhaupt etwas lehrt, "und zu dem Menschen eben redet die Geschichte" (Schiller), dann ist es etwas Paradoxes, wie das meiste, zu dem menschliche Einsicht gelangen kann:

Es besteht einerseits eine abgrundtiefe Kluft zwischen Proklamationen und Handlungen, anderseits keine gewaltigere Macht als Gedanken und Vorstellungen.

Vielleicht ist wie immer differenzieren vonnöten.

 

Ist das Schwert schneller zur Hand als der Ölzweig?

 

Si vis pacem para bellum. Im rhetorischen Bereich des Friedens herrscht Krieg oder zumindest Aufrüstung, im deklamatorischen Gebiet der Freiheit und Gleichheit Unterdrückung und Ausbeutung. Divide et impera.

Eigenartig, bei diesen zwei römischen Devisen besteht ja gar keine "Differenz" zwischen Wort und Tat. Die Staatslenker und Feldherrn hielten sich streng an die Maximen: Kriege vorbereiten und herrschen. Das war vor Rom so und ist nachher so geblieben ...

Sofern man sich geeinigt hätte, dass Herrschaft und Krieg negativ zu bewertende Beziehungen von Menschen zu Menschen sind, "Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit" jedoch positiv einzuschätzende, dann wäre die Feststellung erlaubt: Negatives wird stets in die Tat umgesetzt, Positives nicht. Das Schwert ist schneller zur Hand als der Palmzweig. Ob es daran liegt, dass man Mordwerkzeuge überall und jederzeit schmieden kann, Ölzweige jedoch nur an bestimmten Bäumen in bestimmten Gegenden unter besonderen klimatischen Bedingungen gedeihen und wachsen?

 

Wieviel Blut hat aber Palästina gesehen?

 

Wieviel Blut hat aber Palästina gesehen, wo doch Palmen blühen. Mit dem "Auszug aus Ägypten" und dem "Seevölker"-Sturm (1200 v. Chr.) der Philister fing es an; hernach kämpften die israelitischen Stämme gegen Philister, Ammoniter, Edomiter und Moabiter, gegen Ägypter und das aramäische Damaskus usw.

722 v. Chr. Zerstörung Samarias durch die Assyrer; 701 Belagerung Jerusalems, das 587 von den Babyloniern erobert und samt dem Tempel zerstört wird. 539 "gehört" Palästina zum Persischen Weltreich (Wiederaufbau des Tempels), 332 zum Weltreich Alexanders (Ptolemäer und Seleukiden), ab 167 zum sich ausbreitenden makkabäischen Königreich, ab 63 zum Römischen Reich.

 

70 n. Chr. wurden Jerusalem und der Tempel erneut zerstört, nach dem Wiederaufbau 135 nochmals. Seither müssen die Juden in der Diaspora leben. Um 250 massive Christenverfolgungen; 451 Jerusalem christliches Patriarchat, 638 von Omar erobert; dann unter Herrschaft von vorwiegend ägyptischen Kalifen (Fatimiden), von welchen Hakim 1009 die Grabeskirche zerstört. Mitte des 11. Jahrhundert dringt der türkische Stamm der Seldschuken vor und erobert zweimal Jerusalem.

 

In einer Verbindung von Pilgerfahrt und Hilfe an die von Heiden bedrängten orientalischen Christen beginnen die Kreuzzüge (sowie die ersten grossen Judenverfolgungen): 1099 Erstürmung Jerusalems (unter grossem Gemetzel), das 1187 von Sultan Saladin "zurückerobert" wird und 1244 endgültig in die Hände der Moslems gerät. 1516 gelangt es für genau 400 Jahre zum Osmanischen Reich.

Unterdessen sind zahlreiche Juden, im 14. und 15. Jahrhundert aus Europa (Frankreich, England, Deutschland, Spanien und Portugal) vertrieben, entweder nach Polen, Italien, Nordafrika und in die Türkei geflohen sowie nach Palästina zurückgekehrt. 1917 gab Lord Balfour die Zusage für die Errichtung einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina. 30 Jahre später billigte die UNO den "Teilungsplan", und 1948 zog die britische Armee und Verwaltung ab; am 14. Mai wurde der Staat Israel proklamiert.

 

Halten geistige Gebilde die Welt in Atem?

 

3000 Jahre Geschichte. Was steckt hinter solchen Ereignissen: Ideen oder Ideale? Was hat der "heilige Krieg" Mohammeds sowie des Rolandslieds, von Cluny und Papst Urban II. mit denjenigen der heutigen <1973!> Auseinandersetzung im Nahen Osten gemeinsam? Deus lo volt. "Gott will es"? Was war die "Herrenrasse" und das "Volk ohne Raum"? Ein "Mythos des 20. Jahrhunderts"?

 

Wären es also geistige Gebilde, die die Welt in Atem hielten? Das ist natürlich die Gretchenfrage. Auch wenn niemand definieren kann, was "Geschichte" eigentlich ist, und diese Bestimmungsversuche möglicherweise auch wenig fruchtbar sind, so ist doch immerhin in der Vergangenheit etwas geschehen. Sehr viel sogar. Woher wir davon wissen, ist schon eher der Erörterung wert. Und einer weiteren Analyse bedarf dann eben das Phänomen der Geschichtslenkung. Wer oder was macht Geschichte. Niemand wird soziale, wirtschaftliche, politische, militärische oder kulturelle Verhältnisse als primär dafür verantwortlich zeichnen lassen, denn dann ist sofort zu fragen, woher diese Verhältnisse kommen, wie sie entstehen und sich wandeln.

 

Von Marx wird in diesem Zusammenhang gern zitiert, es sei nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimme (Einleitung zur "Kritik der politischen Ökonomie"). Niemand beachtet aber die 3. These über Feuerbach, die besagt: "Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss."

 

Was formt den Menschen?

 

Es werden also wohl in erster Linie Menschen sein, die Geschichte "machen". Menschen selbstverständlich mit ihrem genetischen Erbe, geformt einmal durch ihre geologische, geographische und klimatische Umgebung sowie durch Flora, Fauna und Naturereignisse sowie Stürme, Überschwemmungen, Dürren, Erdrutsche und -beben, ferner auch durch die mannigfachen Veränderungen dieser Umgebung wie Klimawechsel, natürliche und krankhafte Erscheinungen in der Pflanzen- und Tierwelt.

Das sind, wenn man so sagen will, die naturgegebenen Verhältnisse. Hinzu kommen Krankheiten des Menschen und Epidemien, Seuchen, die immerhin bereits vom Menschen bezwungen respektive übertragen werden können.

 

Alles andre sind Verhältnisse, die der Mensch selbst bewirkt: Eingriffe in die Natur und Herrschaftsverhältnisse, Produktion und Tradition.

Selbstverständlich haben beispielsweise Tierherden Einfluss auf "die" Natur, gibt es Hierarchien und Revierverhalten, Imponier- oder Unterwerfungsgehabe bei manchen; auch von Werkzeuggebrauch und zumindest gegenseitiger Verständigung kann man sprechen und die Instinkte oder angeborenen Auslösemechanismen mit Tradition vergleichen, doch das spezifisch Menschliche - ja was ist es eigentlich?

  • Planmässigkeit? Aber es gibt viel Mutwilliges.
  • Freie Entscheidung? Aber der Mensch tut oder unterlässt vieles aus Antrieben, die ihm nicht bewusst sind.
  • Zielstrebigkeit? Die haben schon Pflanzen, die in bestimmte Richtungen wachsen; und klagen wir heute nicht oft über die Ziellosigkeit, leiden wir nicht manchmal unter Langeweile.
  • Produktivität? Aber der Mensch zerstört doch auch so vieles.

 

Wäre denn Mord unter Artgenossen - im Gegensatz zum Rivalenkampf - und Ausbeutung - im Gegensatz zu Symbiose oder Parasitismus - sowie die Erzeugung geistiger Gebilde und deren Übermittlung, die Herstellung von Werkzeugen und Gegenständen, das Bauen, Verwalten, Verteilen, das Schaffen von Kunstwerken auch, von Zeremonien, Riten und Gesetzen spezifisch menschlich, ja auch das Kochen, kurz Gewerbe und Handwerk, Handel und Industrie? Auch der Fleiss und die Mühe, Erinnerung und Gewissen?

 

Jedenfalls scheint der Mensch zum Paradoxen zu neigen, gibt es doch Rohköstler und Faule, solche, die Kulte nicht mitmachen und Vorschriften übertreten, Bücher verbrennen, Häuser und Flugzeuge in die Luft sprengen - Gründe lassen sich immer anführen.

Woraus bestehen diese Begründungen? Sind sie zusammengeklittert aus ressentimentgeborenen Ideen?

 

Ist der Mensch ein grosser Kämpfer?

 

Wer nicht glaubt, der Mensch sei zumindest ein grosser Kämpfer - für und gegen -, der verfolge mit mir die Schlagzeilen und Zwischentitel der heutigen zwei Ausgaben eines hochangesehenen Weltblattes. Da finden sich:

 

Obstruktion der Linken, "finanzpolitischer" Kampf, Festnahme von DDR-Polizisten, Abflauen der Gefechte? US-Bombardierungen, Studentenunruhen, Der Prozess Deutsch, Abschiebung von Hannelore Runft, Tapferkeitsauszeichnung, Die Maifeier-Krawalle, Die studentische Unruhe, Zusammenstösse in Libanon, Verhaftung von Arabern, Weitere Todesopfer in Ulster, Der blutige "Waffenstillstand", Umkämpfte Strasse nach Saigon, Deutsch-ägyptische Gespräche über Umschuldung (!) und Kapitalhilfe, Die Dollarschwäche, Kupferexportierende Länder gegen "wirtschaftliche Aggressionen".

 

Inland: 193 Mio. Fr. für militärische Bauten, Zweite Nachbestellung von Kampfflugzeugen, Absage an die "Volksfront", Verdoppelte Bussen, Überführung durch Mikrospuren, Aufhebung einer Massnahme, Avantgarde oder Stumpfsinn? Raubüberfälle, Leaderwechsel in der Nationalliga B, Dart Hanover gewinnt, Gold und seine Folgen.

 

Wieder Ausland: Nordvietnamesischer Protest, Absturz zweier US-Jagdbomber, Sadat zu den Studentenunruhen: "Instrument einer linken Verschwörung", Grundsatzstreit, Erste Differenzen, Neuer politischer Prozess, Test einer neuen US-Kernwaffe, Verurteilung zweier Geistlicher, Zerschlagung eines syrischen Spionagerings, Streit, Pockenepidemie, Erdbeben, Unwetter, Streichung der Concorde-Optionen, Ostberliner Protest, Verhärtete sowjetische Haltung, Absage, Eine Reihe von "Njet", Anhaltender Krieg in Kambodscha, Kanadisch-amerikanische Kontroverse: "Vergeltungszoll", Inflationsvirulenz (!), Expansive Stahlindustrie, Rekordausfuhr.

 

Und wieder Inland: Keine Exportrisikogarantie für Kriegsmaterial, Über 120 000 Alkoholiker in der Schweiz, Keine Stipendien für Staatsgegner, Modernisierung des Enteignungsrechtes, Ablehnung der Y-Initiative, Gegen die neuen Schiffahrtsbestimmungen: Rekurs der Sportfischer, Keine Milderung der Lärmschutzverordnung, Die Revanche Alfred Kälins, Personifizierte Dynamik.

 

Diese Blütenlese eines einzigen Tages, dieses Vokabular 450 Jahre nach dem Humanisten Erasmus und 200 Jahre nach der Aufklärung sagt fast alles.

 

Haben wir es herrlich weit gebracht?

 

Damit der Sex nicht zu kurz kommt, seien noch einige Sätze aus einer Theaterkritik angeführt, welche als Motto hat:

"Pilatus gibt es immer. Jeder ist mitverantwortlich vor der Geschichte, auch oder gerade wenn er sich vor der Verantwortung drückt ... Hier die Handlung: Pilatus diskutiert, indessen eine schwarze Dienerin ihn massiert ... Er hat kaum Zeit, die elegante weisse Flanelljacke überzuwerfen, da tritt Jesus (hier Jeschu) bereits herein. Auf aramäisch beantwortet er die Fragen des Pilatus. Es klingt wie hysterisches Bellen ... Dann wird Jeschu dem Herodes gesandt. An seinem Hof herrscht exotisch-orientalische Bilderbuchschwüle. Herodes, halbnackt zwischen seiner schwarzen und seiner weissen Konkubine, unterbricht sein Verhör manchmal mit Revueeinlagen ä la Folies Bergère. Seine wunderschöne Schwarze muss erst ein Striptease und dann einen Bauchtanz vor Jeschu aufführen. Ein Hermaphrodit produziert sich in Verrenkungen der Glieder und des Geistes.“

Höre ich irgendwo, herrlich weit hätten wir es gebracht? "... und zu dem Menschen eben redet die Geschichte".

 

Ist Geschichte ein Spiegel des Menschen, in dem er sich nicht sehen will?

 

Schlagzeilen sind Kulturpanorama wie Schau- oder besser Gaff-Bühnen. Tages-Schau, Nabel-Schau, Kuriositäten-Kabinett. Geschichte ist mehr als kurios. Ist sie ein Spiegel des Menschen, in dem er sich nicht sehen will?

 

Als Krönung dieses Kaleidoskops desselben Tages dürfen einige Anzeigen nicht fehlen:

Dracula, der leibhaftige Teufel - nur für starke Nerven, Blaubart, Jesse James, Frankenstein schuf ein Weib, Blutjunge Verführerinnen, Nackt in fremden Betten, Bett-Karriere; Teenager-Sex in Schweden, Christina Lindberg, berühmt als "Mädchen mit dem goldenen Busen"; Saint-Tropez - nicht jugendfrei.

Sechs Annoncen:

1. Dipl. Masseur massiert sie auf Wunsch in Ihrem Heim.

2. Haben Sie einen Selbstmordversuch unternommen? Ein Journalistenteam sucht für ein Buch Interview-Partner.

3. Der Iman fiel in Ohnmacht - und andere köstliche Gerichte aus der Türkei.

4. fit mit vernunft.

5. Total-Liquidation, amtl. bewilligt.

6. Das sind wir - das tun wir.

 

Doch ich wollte ja der Frage nachgehen, wer oder was das Füllhorn der Kultur und den Scherbenhaufen der Deklamationen bewirkt.

 

Deus lo volt. Ist das eine Rechtfertigung; wo doch seine Ratschlüsse unerforschlich sind?

Der Mensch ist ein Geschöpf - von wem geschaffen? Von Gott oder der Natur? Eine Schöpfung seiner selbst? Prometheus!

 

Wäre alles Menschenwerk Kult?

 

Der Mensch zwischen Tier und Engel, eine Mischung von Irdischem und Himmlischen. Im Spannungsfeld von Gut und Böse, Zärtlichkeit und Aggression. Ein Wesen der Stilbrüche: Statements über Akupunktur untermalt er mit Benny Goodmans Carnegie-Hall-Konzert von 1938 und stört den UKW-Empfang mit Motoren aller Art. Ja eben. Pilatus ... "Jerusalem".

 

Der Motor der Geschichte: Naturkräfte und göttliche Eingebungen, Personen und Familien bewirken Verhältnisse, die stets neue Verhältnisse zeugen. Ich sprach von "Antrieben" des Menschen. Sind diese naturgegeben oder durch Kultivierung überformt? Wäre alles Menschenwerk Kult? Ideenkult, Heroenkult. Viel Gottesliebe, wenig Menschenliebe. "Das Volk ist dazu da, um Opfer zu bringen." Sagte das Adolf Hitler? Möglich. Jedenfalls gestern wurde dieser Satz dem Ober-Unterhändler der Nordvietnamesen Le duc Tho in den Mund gelegt. Und vor einem Jahr sagte der SED-Chef der DDR: "Unser Feindbild stimmt genau."

 

Warum immer von Krieg und Feind, Verbrechen und Unglücksfällen sprechen. Gibt es nicht auch Schönes, Erfreuliches? Liebe, Hilfsbereitschaft, Aufschwünge der Seele und des Geistes: Kultur! Gibt es sie noch? Ist das alles nicht schon fast selbst Geschichte geworden, zumal wenn man, was die Massenmedien verbreiten, kritisch unter die Lupe nimmt. Siehe oben.

 

Wer oder was regiert die Welt?

 

Wieweit ist der einzelne tatsächlich verantwortlich für das, was sich ereignet hat und täglich ereignet. Wer regiert die Welt? Irrationale Mächte oder Grossmächte, Adel oder Klerus, Wähler und Parlamentarier oder Gewerkschaften und Parteien, die Regierung und Verwaltung oder die Wissenschaft? Das sind Spannungsfelder. Behörden und Expertenkommissionen, Verbände und Interessengemeinschaften? Alle rekrutieren sich aus vielen einzelnen Menschen.

 

Geld, Gewalt, Generäle, Rasse, Klasse und Masse regierten die Welt, sagt man auch. Also doch ein Kult? Machen demnach Menschen mit Kulten Geschichte? Der Kult der Bauernsame, der Arbeiterklasse, des Bürgertums, des Erbadels, der Nation, der überlegenen Rasse oder der Kult der Sachlichkeit, der Schönheit, der Leistung, des Wettbewerbs, des Gesetzes, der Äusserlichkeit oder der Innerlichkeit, des Gemüts, der Kult der Vernunft gar. Letzterer bekanntlich ein fehlgeschlagenes Unternehmen Robespierres.

Hegen und pflegen wir deshalb heute die Fetische "Wachstum", "Fortschritt", "Konsum", "Ordnung“ oder - "Theorie und Praxis"? Welch letzterer wieder an die Alten Römer erinnert.

 

Was lehren uns die vergangenen Jahre?

 

Robert Musil schreib 1923 in einem Essay:

"Wie einige Dichter wissen, ist auch die einzelne moralische Persönlichkeit etwas sehr Labiles, das viel mehr Möglichkeiten des Guten und Schlechten hat, als deren alltägliche Ruhelagerung annehmen lässt. Welcher Ausschreitungen in Grausamkeits- wie Eigentumsvergehen nicht nur versteckte Neuropathen, sondern auch gute Durchschnittsmenschen fähig sind, haben uns allen, wie ich glaube, die letzten 9 Jahre unseres Lebens gelehrt."

 

Wie sich diese Fähigkeit noch steigerte, lehrten freilich die folgenden Jahre - fast möchte ich sagen: "Jahrtausende" - noch eindrücklicher. Aber lehrten sie uns tatsächlich, und wenn ja, was? Lehrten sie uns, dass sich stets um die Urbans II. und Gottfried von Bouillons, um die Mussolinis und Hitlers, Nixons, Maos und Breschnews Schildknappen oder "Wasserträger" scharten, begierig, vom Abglanz der Macht wenigstens einen Schimmer mitzubekommen? General Giap und seine Getreuen, Fidel Castro, Che Guevara, Daniel Cohn-Bendit und ihre Kämpen. Sie kämpften und kämpfen. Wofür? Sieg! Nicht Besiegung des inneren Schweinehunds, wie man einst sagte, nicht Niederzwingung aufsteigender Lüste, Gelüste und Süchte, sondern des Gegners. Ist das, psychologisch gesehen, Projektion?

 

Wäre der Mensch dasjenige Wesen, der im andern hasst, was er in sich selbst hassen müsste, das nicht seine eigenen Schlechtigkeiten zu überwinden und deshalb auch seine Feinde nicht zu achten oder gar zu lieben vermag? Liegen Intoleranz, fehlende Solidarität, Bösartigkeit und Schlamperei nur an der "Organisationsform", unter der wir leben?

Was ist schon eine Form. Sie tue den Gefühlen des einzelnen Gewalt an, meinte Musil in demselben Essay, vor genau fünfzig Jahren. Ist es nicht eher so, dass sie aus diesen Gefühlen geboren ist und sie rückwirkend bestärkt. "Denn man kann sagen", fährt er ja unlogisch fort, "der Mensch wird erst durch den Ausdruck, und dieser formt sich in den Formen der Gesellschaft. (Es ist eigentlich eine Symbiose.)"

 

Mit wieviel verschiedenen Ellen wird gemessen?

 

Gewiss, es gab den deutschen Widerstand und die französische Résistance. Nur, hier taucht ein neues Problem auf. Ein junger Historiker fasst es in die Formel: "Des einen Held, des andern Lump." Darüber entscheidet immer, wer siegt. Die Unterlegenen, Abwesenden, Toten pflegen Unrecht zu haben. Wer an der Macht ist oder die Herrschaft übernimmt, entscheidet auch über die Moral. Eben drum: die herrschende Moral. Nicht dass man meint, es gebe so etwas wie ein Weltgewissen. Dieses ist nämlich in viele Richtungen zerstritten und wankelmütig obendrein. Gewissen und Moral haben wiederum nur einzelne!

 

Ist es Zufall oder Notwendigkeit, dass Partisanen einmal als Helden gefeiert, Anhänger eines "Reichs" oder "Staates" - z. B. Pakistans - ein andermal als Kriegsverbrecher abgeurteilt werden. Bei beiden Gruppen doch der "Glaube an die Zukunft". - "Keine Stipendien für Staatsgegner“, hiess es in einer fetten Schlagzeile. Dass KGB-Ärzte bei Gelehrten Reformideenmanie - "Bürgerrechte" - diagnostizieren, ist zwei Tage später zu lesen.

 

Mit wieviel verschiedenen Ellen wird zu verschiedenen Zeiten gemessen? Nicht nur in der Politik, sondern auch in Kunst und Wissenschaft. Denken wir an Kopernikus, Giordano Bruno und Spinoza oder Semmelweis und Sauerbruch. Oder umgekehrt an Christian Heinrich Spiess, Carl Gottlieb Cramer und Christian August Vulpius sowie Robert Kraft, Agnes Günther und Robert Voss, Walter Flex, Rudolf G. Binding, Karl Alois Schenzinger und William von Simpson - Bestsellerautoren ihrer Zeit. Hohe Auflage oder im Bewusstsein von Millionen herumzuspuken ist und war noch nie ein Qualitätsbeweis. Sonst wären von Däniken, Konsalik und Heintje Genies. Beinahe legendär geworden ist die Berechnung von Gottfried Benn, wonach er in fünfzehn Jahren an all seinen Publikationen 975 Mark verdient hat.

 

Was ist das Weltgewissen?

 

Was also ist das Weltgewissen, wenn es über Hinrichtungen in Frankreich - 1972! - Empörung heuchelt, solche in Polen (1973) jedoch glatt übersieht. Beide gelten als zivilisierte Länder. Wem? Wer entscheidet darüber, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht ist, "moralisch" oder verbrecherisch, ob das Überschreiten der Parkzeit höhere Bussen erforderlich macht als bei Rotlicht über die Kreuzung zu fahren? Der Staat. Wer ist das? Sind wir ihn nicht alle.

 

Also müssen wir gegen Ungerechtigkeit protestieren. Wie? Mit Streiks, Demonstrationszügen, Flugblättern und der Gründung von Komitees oder mit Initiativen und parlamentarischen Vorstössen? Letzteres wäre schön, da ein Parlament aus ein paar Dutzend bis ein paar Hundert namentlich bekannten Frauen und Männern besteht. Wer oder was steht aber hinter Ihnen? Parteien, Verbände, private Interessen und - Desinteressen. Prinzip: Wie du mir, so ich dir. Oder: Eine Hand wäscht die andere. Volksbeauftragte? Es ist dasselbe Lied wie bei den Diplomaten und "Unterhändlern".

 

Wovon lebt der Mensch?

 

Ja, "die Verhältnisse, sie sind nicht so". „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist" (Brecht, 1928). Doch er bleibt es, und berufe er sich auf Naturnotwendigkeiten und unvorhergesehene Zufälle, sozio-kulturell-ökonomische Konstellationen, System- und Sachzwänge, Bedürfnisse und unumgehbare Erfordernisse. - Das einzige Erfordernis wäre: die positiven Ideen in die Tat umzusetzen.

 

Worauf man sich nun in die Haare geraten kann, was unter positiv zu verstehen sei. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, Toleranz, Partnerschaft und Gerechtigkeit, oder: Der Krieg als Vater doch aller Dinge?

"Vergiesst Blut", "Erobert Länder", "Schmiedet eure Pflugscharen zu Schwertern", steht im Alten Testament zu lesen, und Jesus sagte: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mat. 10,34; vgl. Luk. 2,34f; 12,51). Deshalb konnte wohl Grossadmiral Dönitz Hitlers Selbstmord als "Heldentod" umstilisieren und behaupten: "Sein Leben war ein einziger Dienst für Deutschland.“

 

Jerusalem ist überall. Pilatus gibt es immer.

Wer Geschichte macht?

Menschen; machtgierige und neidische, blinde und vergessliche.

Was Geschichte ist?

Dies: Eine Chronik seiner Wertvorstellungen und seiner Kulte.

 



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