Home Die 1970er Jahre: Wirtschaftlicher Boom endet in allgemeiner Lähmung

 

Einige Gedanken im Sommer 1989 zu

Francesco Kneschaurek: Entwicklungsperspektiven und Probleme der schweizerischen Volkswirtschaft. Basel: Schweizerischer Bankverein; Bankverein-Heft, Nr. 9, 1975.

 

 

"Man wird weder im Geschäftsleben noch in der Politik jemals sinnvolle Entscheide treffen können, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen ... Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wirken wir mit unseren täglichen Entscheidungen auf das Schicksal künftiger Generationen ein und haben hierfür die Verantwortung zu übernehmen" (9).

 

1948-73: Einmalige wirtschaftliche Expansion

 

Als Prof. Dr. Francesco Kneschaurek dies 1975 schrieb, konnte die Schweiz wie die anderen Industrienationen auf eine bislang in der Weltgeschichte einmalige wirtschaftliche Expansion zurückblicken.

 

Von 1950-1970 nahmen in unserem Lande das reale Bruttosozialprodukt jährlich um 4,5% und das Exportvolumen insgesamt um über 600% zu. Auch das reale Bauvolumen verfünffachte sich (von 1948-73).

Das beruhte auf einem „unmässigen Rückgriff auf fremde Produktionsfaktoren“: Durchschnittlich wuchs die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte fast 8% pro Jahr. Zudem konnte die Arbeitsproduktivität (reales BSP je Erwerbstätigen) um fast 3% pro Jahr gesteigert werden.

 

Dieser Aufschwung war nicht auf die Schweiz beschränkt. So verfünffachte sich etwa auch der Welthandel (nominell), wobei allerdings der relative Anteil der Entwicklungsländer - trotz Öl - abnahm. In diesen Ländern war das Wachstum des BSP mit rund 5% pro Jahr etwas höher als das der Industrieländer, doch konnten sie wegen ihres höheren Bevölkerungswachstums (ca. 2-3%) das Pro-Kopf-Einkommen pro Jahr nur um 2,4 % steigern (gegenüber 3,8 % in den Industrieländern).

Trotz einer gewaltigen wirtschaftlichen Expansion vergrösserten sich damit die weltweiten Disparitäten. Der Schuldenberg der Dritten Welt betrug 1965 aber noch nicht 40 Milliarden Dollar. Er stieg 1975 auf rund 180 und 1980 auf fast 500 Milliarden.

 

Der Zukunftsforscher schaut auch zurück

 

Dieser Rückblick erklärt, warum sich der bekannte Zukunftsforscher nicht allzusehr über den Ölschock von 1973/74 erstaunt zeigte. Der Boom konnte ja gar nicht immer weiter gehen!

 

Der Zukunftsforscher schaut also nicht nur voraus, sondern auch zurück. Er beurteilt die Vergangenheit - mitunter sehr kritisch -, und versucht daraus, Lehren zu ziehen. Das wird nicht überall gern gesehen, ja es stösst auf den "Widerstand der auf die maximale kurzfristige Ausnützung der vorhandenen Marktchancen ausgerichteten Expansivkräfte der Privatwirtschaft" (13).

 

Nach 1973: Abflachung des Wirtschaftswachstums

 

Jedenfalls traf die von Kneschaurek vorausgesagte Abflachung des Wirtschaftswachstums ein, und die Zukunftsforschung verlor an Popularität. Die Energieszenarien für die Schweiz (GEK-CH, 1978) und der Bericht "Global 2000" (1980) gehörten zu den letzten grossen Zuckungen.

 

Ein Teil des Publikum versank dagegen in Nostalgie: In Deutschland trauerte man 1978 der "Pubertät der Republik" nach, der Wirtschaftswunder-Schelmenroman von Johannes Mario Simmel "Hurra, wir leben noch" wurde mit einer Startauflage von 200'000 Stück auf den Markt geworfen und Rock'n'Roll wurde wieder Mode, sogar in der Schweiz. Kurz: Die 50er Jahre wurden mythenfähig.

Anderseits wurde man auf den vor allem in den 60er Jahren erfolgten "Wertwandel" aufmerksam. So spürten etwa Daniel Yankelovich der "New Morality" (1974), Ronald Inglehart der "Silent Revolution" (1977) und Christopher Lasch der Heraufkunft des "narzisstischen" Typs (1978; dt. 1980) nach.

 

Ursache hiefür waren die ebenfalls schon von Kneschaurek 1975 formulierten Einsichten:

 

¨ "Die Menschheit ist je länger je weniger imstande, die von der Technik geprägten zivilisatorischen Fortschritte geistig zu bewältigen und diese damit gleichsam unter Kontrolle zu bringen ... So wundert es nicht, dass sich immer mehr Menschen auf dieser so komplexen, unübersichtlichen, labilen und bedrohlich gewordenen Welt verunsichert und von unkontrollierten Mächten beherrscht fühlen" (36f).

 

¨ „Die immer grösser werdende Kluft zwischen Wohlstand und Wohlbefinden ist zu einem erheblichen Teil der Vermassung der Bevölkerung in den unaufhörlich wachsenden städtischen Agglomerationen und der Desintegration der ursprünglichen sozialen Strukturen zuzuschreiben" (37).

 

¨ "Tag für Tag erleben wir Beispiele von Fehlurteilen und Fehlentscheidungen, die sich daraus erklären, dass wir in unseren Gegebenheiten und Erfahrungen gleichsam stecken geblieben sind, während die permanente Revolution der technischen und wissenschaftlichen Welt ohne Rücksicht auf unsere Mentalität ihren Fortgang nimmt" (60).

 

Diskontinuitäten und Überlebenskampf

 

Was hat denn die Zukunftsforschung so diskreditiert?

1. Der Ölschock von 1973 bewirkte ungeahnte Turbulenzen und führte zu derartigen Diskontinuitäten, dass weder die optimistischen noch die schwarzmalenden Prognosen eintrafen.

2. Wenn die Lage unübersichtlich wird und der Überlebenskampf alle Mittel beansprucht, bringen alternative Szenarien nur zusätzliche Verwirrung.

 

Ergebnis: Man versucht, noch abzugrasen, wo etwas zu holen ist.

 

Hilfsmittel für die Unternehmen

 

Nun gab es in der zweiten Hälfte der 70er Jahre für Unternehmer durchaus Hilfsmittel, mit denen er sich sowohl konjunkturellen und strukturellen Schwierigkeiten als auch dem gesellschaftlichen Wandel stellen konnte.

Das waren z. B.

  • einerseits die verfeinerten Methoden des Operations Research (etwa: die Risikoanalyse) und die seit 1970 entwickelte Portfolioanalyse mit ihrer Erweiterung zur "Wettbewerbsstrategie" (Michael E. Porter 1980; dt. 1983),
  • anderseits die mittlerweile ausgereifte Organisationsentwicklung und die Programme zur Humanisierung der Arbeitswelt (seit 1973).

 

Diese Instrumente wurden zwar nicht allzu häufig benützt; dennoch gelang einigen Unternehmern, was Kneschaurek ökonomisch gefordert hatte: ein "schmerzhafter Redimensionierungsprozess" für die Binnenwirtschaft (vorab die Baubranche) und eine "Ausrichtung auf qualitativ immer höherwertige Güter und Dienstleistungen" für die Exportwirtschaft (also etwa Produktionsmittel, Chemie- und Pharmaerzeugnisse, aber auch Know-how, "Fähigkeits-, Ausbildungs- und Beratungskapital").

 

„Der Humanist ist der bessere Manager“

 

Was hingegen weder Wirtschaft noch Staat gelang: "den Menschen und seinen Kulturbedarf wieder vermehrt ins Blickfeld zu rücken und ihn in die Lage zu versetzen, die rasante Entwicklung der Industriegesellschaft geistig zu bewältigen" (59).

 

Kneschaurek schwebte ein Konzept vor, das davon ausging, "dass wir im Übergang von einer vorwiegend auf quantitatives Wachstum ausgerichteten Periode zu einem Zeitabschnitt stehen, in welchem humanitäre und qualitative Aspekte des Lebens zunehmend den Vorrang erhalten müssen" (60). Er setzte dabei seine Hoffnung auf eine ständige unentwegte gedankliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Gefahren der Zukunft. Diese müsste notwendigerweise "die enge Sphäre der unmittelbaren persönlichen Interessen sprengen und zugleich über eine rein ökonomische Betrachtungsweise hinauswachsen" (60).

 

Adolf Wirz prägte 1977 dafür den Slogan: "Der Humanist ist der bessere Manager".

 

Seit 1980: allgemeine Lähmung

 

Noch hatte man sich kaum richtig damit angefreundet, brachte der zweite Ölschock 1980/81 nochmals härtere Zeiten. Die Ernüchterung schlug vielerorts in Verzweiflung um. Eine allgemeine Lähmung war die Folge, die bis heute [1989] nicht überwunden ist.

Denn weitere Belastungen sind mittlerweile hinzugekommen: Waldsterben [seit Herbst 1981 in den Medien], Verkehrsstaus, Überalterung, Schuldenkrise [beginnend mit Mexiko im Sommer 1982] - vielfach längst vorauszusehen, aber erst allmählich ins Bewusstsein tretend.

In jüngster Zeit sind daher ethische Besinnung, Humanisierung und Umweltschutz salonfähig geworden, zumindest als Begriffe.

 

Anfügung im Jahre 1996

 

Von 1970-85 betrug in der Schweiz die jährliche Zuwachsrate des realen Bruttosozialprodukts nur noch 1,3%.

Gleichermassen sank die Zuwachsrate der realen Wertschöpfung auf ein Viertel gegenüber der Blütezeit. Bei Industrie und Bau stagnierte die Wertschöpfung seit 1970. Nennenswerter Zuwachs ergab sich nur bei den Branchen Kunststoff und Chemie (+2,7%) sowie Elektrisch, Gas und Wasser (1,7%). Die Bereiche Bekleidung, Holz, Papier, Metallverarbeitung und Maschinen büssten je 0,5% bis 1% ein, die Uhrenindustrie gar 4,6%.

 

Auch die nächsten zehn Jahre (1986-95) sehen nicht viel besser aus. Zwar nahm das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) in der Schweiz von 1986-90 jährlich um 2,8% zu, doch dann brach der Aufwärtstrend jäh ab. Seit 1990 herrscht permanent Stagnation, ja sogar ein leichter Rückgang. Die Produktivität des Industriesektors ist in den Jahren 1990-95 gesamthaft magere 3% gestiegen, diejenige des Dienstleistungssektors dagegen ist gesunken.

 

siehe:

Grafische Darstellung der Schwankungen des Wirtschaftswachstums (BIP) 1960-2000 (mit anderen Zahlen)

 

 

Angaben des Bundesamts für Statistik, Neuchâtel, im Frühling 2006

 

Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP)

• Nach der Wirtschaftskrise von 1973 hat das strukturelle Wachstum in der Schweiz einen Einbruch erlitten.

• In den 1980er-Jahren hingegen war ein ähnlich starkes, aber weniger anhaltendes Wachstum als in der EU zu verzeichnen.

• In den 1990er-Jahren generierte die Schweiz kein Wachstum. Damit hat sich die Abkoppelung der Schweiz vom ausländischen Wachstum bestätigt.

• In den Jahren 2001-2003 war eine leichte Rezession zu verzeichnen; 2004 setzte das Wachstum wieder ein, verblieb allerdings mit rund 2,1% auf einem durchschnittlichen Niveau.

• Die mittelfristigen Szenarien des seco (Staatssekretariat für Wirtschaft, Bern) rechnen für den Zeitraum 2000-2010 mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von lediglich 1,4%. Nach 2010 dürfte diese Rate wegen der demografischen Entwicklung gar noch sinken.

 

Nach einer anderen Quelle

• werden die Auslandsschulden der Entwicklungsländer für das Jahr 2005 auf gegen 3000 Milliarden Dollar geschätzt.

 

 



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