Home 7 Thesen zur Kulturentwicklung

 

Beilage zu einem Vortrag am 3. Juni 1993

 

1. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Mensch seit etwa 6-4 Mio. Jahren aus dem Tierreich herausgewachsen.

 

2. Bis vor etwa 100 000 Jahren hat sich der Mensch biologisch weiterentwickelt, insbesondere hat sein Gehirngewicht von ca. 400/ 500 gr. (wie es die Schimpansen oder Orang-Utan haben) auf rund 1300-1500 gr. zugenommen.
Seither hat sich der Mensch (homo sapiens neanderthalensis und seit 35 000 Jahren: homo sapiens sapiens) "nur noch" kulturell entwickelt.
Der Mensch ist also von Natur aus ein Kulturwesen.

 

3. Kultur heisst: Die besonderen Fähigkeiten, die der Mensch gegenüber dem Tier hinzugewonnen hat, nützen. Das sind etwa:
- wissenschaftlich gesehen: Vorausschau, Planung, Kausalzusammenhänge sehen, Kreativität, Rituale und Kunst, artikulierte Sprache, echte Kommunikation und Argumentation, aktive Gestaltung der Umwelt, Zusammenarbeit und soziale Arbeitsteilung, Tausch und Vergeltung, Fürsorge und Pietät;
- persönlichkeitsbezogen: Reflexion, Selbstwertgefühl, Selbsterziehung.

 

4. Es gibt mehrere wichtige Etappen in der menschlichen Kulturgeschichte:
- das Auftreten von Todesvorstellungen, Begräbnisriten vor 100 000 Jahren
- die sog. "kreative Explosion" der Höhlenbewohner vor 30 000 Jahren
- das Sesshaftwerden, d. h. der Wandel der Lebensform vom Sammler und Jäger zum Handwerker,  Bauern und Händler vor ca. 10 000 Jahren
- das Aufblühen der Hochkulturen (Mesopotamien, Ägypten, Indien, China) vor 5000 Jahren. Seither sprechen wir von Zivilisation im Unterschied von „primitiv“
- die Ablösung des Mythos durch den Logos in der sog. Achsenzeit, rund 500 v. Chr.; erst jetzt gibt es Geheimbünde und Geheimnisse gegenüber dem sogenannt Rationalen (die angeblichen "ägyptischen Mysterien" waren öffentlich).

 

5. Aus der Zeit vor den Hochkulturen gibt es nur archäologische Zeugnisse. Daher greift man oft zu einem Kniff: Man zieht Analogien aus dem Verhalten der sog. Naturvölker bei. Das ist gefährlich, weil sich die Naturvölker in den letzten Jahrtausenden sicher auch gewandelt haben.
Nun sind wir seit dem Aufkommen der Schrift viel besser dokumentiert. Aber auch dann ist noch vieles, was wir über frühere Zeiten vermuten oder behaupten, Spekulation.

 

6. Seit dem Aufblühen der Hochkulturen können wir die Kulturentwicklung als Wechselspiel von drei polaren Kräftegruppen auffassen:
- patriarchale Spiritualität contra matriarchale Religiosität
- abstrakte (oder: mechanistische, rationale) Weltdeutung contra vitale (oder organische). Mal ist die eine vorherrschend, mal die andere, wobei nie eine ganz verschwände
- Aufbau contra Zerstörung, z. B. in den Formen: Bauen und Töten, Fördern und Hemmen, Fürsorge und Streit.

 

7. Wir können die Hälfte dessen, was uns aus der Frühzeit der Zivilisation bis ca. 1100 n. Chr. überliefert ist, als Esoterik fassen: Eines der wichtigsten Ziele ist spirituelles Wachstum.

 

Ergänzungen aus Notizen:

 

x. Ethik ist weder aus der Wissenschaft noch aus der Natur abzuleiten, sondern nur aus Religion oder gesellschaftlicher Übereinkunft. Ist eine Herausforderung an den Menschen, seit er sich von der Natur emanzipiert hat.

 

y. „Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von survivals (wie Tylor sie [1865] nannte); Restbeständen, die aus älteren Kulturkomplexen in in jüngere mit hinüber geschleppt wurden, die aber keineswegs bloss als Fremdkörper weiterbestehen, sondern oftmals mit abgewandelten Motiven eine Um- und Einschmelzung erfahren“ (Wilhelm E. Mühlmann ,Geschichte der Anthropologie“, 2. Aufl. 1968, 20)

 

z. Man kann die ganze Geschichte des menschlichen Denkens als reich verknüpftes, buntes Geflecht oder Kaleidoskop von unterschiedlichsten Strömungen ansehen. Man kann aber auch versuchen, zwei Hauptstränge herauszufinden, die zwar entgegengesetzt sind, einander aber auch relativieren und ergänzen.
Beide müssten einiges von der anderen Seite übernehmen, z. B. die Ganzheits-Idealisten das Bemühen um klare Begriffe von den Positivisten, diese die Einsicht, dass das Messbare nicht das Wesentliche ist.

 



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