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                     Ganzheitliche gegen mechanistische Denkansätze

 

siehe auch:    Vom Mythos zum Logos I

                        Vom Mythos zu Logos II

Esoterik bis 1700

                        Ganzheitliches Denken: 100'000 Jahre im Zeitraffer

 

Inhalt

Ganzheitliches Denken gab es immer: die kreative Explosion bei den Höhlenbewohnern

Zahlen und Geometrie für den Verstand, Sexualität und Mythos fürs Gemüt

Die matriarchalen Wiedergeburtsreligionen

Die patriarchale Konstruktion des Gegensatzes

Die Vermännlichung der Götterwelt

Der Logos ersetzt den Mythos

Gegensätze brechen auf

Die Liebe kommt kaum vor

Orientalisierung

Die bunteste Entfaltung des menschlichen Geistes

Die Ausbreitung des Christentums

800-1100: kultureller Aufschwung

Wie kam es zur neuzeitlichen Wissenschaft?

Die Griechen wollten weise werden

Schwächung des Christentums

„Creative Explosion“, aber statisches Weltbild

Warum ging es so lange?

Die Transformationen von Christentum, matriarchalen Relikten und Alchemie zur Wissenschaft

1) Die Transformation der christlichen Botschaften

2) Die Transformation der christlichen Heilsbotschaft

3) Die Transformation der matriarchalen Relikte

4) Die Transformation der Alchemie

5) Die Transformation der christlichen Praxis

Die Kirche bot aber auch stets Bildung

Die Akademien der Renaissance

Wellenbewegungen

Neuere Strömungen, die weit über die Grenzen eines einzelnen Fachgebietes hinausgingen

Die antibürgerliche Welle

„Evolution“

Parapsychologie

Funktionale Abhängigkeiten

Modelldenken

Verhaltenstheorien

Psychoanalyse

Strukturalismus

Analytische Philosophie und Kritischer Rationalismus

Systemdenken

 

 

 

Ganzheitliches Denken gab es immer: die kreative Explosion bei den Höhlenbewohnern

 

Das Staunen über etwas, was grösser ist als der Mensch und über seine Fassungskraft hinausgeht, hat zum ganzheitlichen Denken geführt. Es hat tausend Facetten, ist also weder einheitlich noch totalitär. In ihm zeigen und entfalten sich die schöpferischen Anlagen des Menschen, seine natürliche und kulturelle Kreativität.

Se ist nicht auf physikalisch-chemische Vorgänge zurückführbar. Die Naturwissenschaften - seien es Molekularbiologie oder Psychophysiologie, Biokybernetik oder Humanethologie - können Kreativität nicht fassen. Sie entzieht sich dem messenden und rechnenden Bewusstsein, den experimentellen und analysierenden Verfahren. Aber sie ist da, sicht- und spürbar in tausendfachen Zeugnissen, in Spuren der Vergangenheit, in jedem Zeitgenossen - im Guten wie im Bösen.

 

Mit frischem Mut hat daher John E. Pfeiffer die "Creative Explosion" bei den Höhlenbewohnern geortet (1982).

Bereits in der jüngeren Altsteinzeit erfolgte der erste Kreativitätsschub: Die Lust am Kritzeln, Malen und Formen - kurz: am schöpferischen Gestalten - tauchte vor rund 30'000 Jahren ziemlich unvermittelt auf. Damals trat zur harten Arbeit die Kunst. Die Grotte von Lascaux vermittelt sogar in der heutigen Nachbildung aus Plastik noch einen Eindruck davon.

Der Kult - z. B. Arrangements und Ausrichtung von Gebeinen sowie Rituale - ist noch viel älter. Er hat sich wohl am Erleben des Todes und dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit entzündet, vielleicht auch schon am Bewusstsein, dass der Mensch durch sein Herumstreunen und Jagen in die natürliche Ordnung eingreift.

 

Zahlen und Geometrie für den Verstand, Sexualität und Mythos fürs Gemüt

 

Mit dem Abklingen der Eiszeit vor ungefähr 15-12'000 Jahren änderten sich Umwelt wie Verhalten des Menschen langsam, aber drastisch. Der Mensch begann Pflanzen und Tiere zu "domestizieren", wurde Hirte und sesshafter Bauer und baute Dörfer, später Städte.

Da seine biologische und psychologische "Ausstattung" sich in den Jahrmillionen vorher auf das Leben in nomadisierenden Gruppen ausgerichtet hatte, geriet er in Stress. Das Bedürfnis nach einer Orientierung im Dasein verstärkte sich.

 

Die Beobachtung des Tageslaufs und der Jahreszeiten, des nächtlichen Sternenhimmels und der Mondphasen führten zur Idee der "Weltordnung". In Sinnzeichen wie Kreuz, Viereck und Netz sowie Dreieck suchte der Mensch sie zu fassen.

Die Vorgeschichtsforscherin Marie E. P. König hat 1980 darüber berichtet. Zahlen und Geometrie weisen auf ein kosmisches Ordnungsschema. Aber sie sprechen nur die Vernunft an, nicht das Gemüt. Das taten eher Frauenstatuetten oder Fruchtbarkeitsidole und Zeichnungen der Geschlechtsorgane (die es schon früher gab). Noch mehr taten das die Mythen und Hymnen, von denen uns die ersten Hochkulturen seit 3500 v. Chr. künden. Das Werden wird zum beherrschenden Thema.

 

Die matriarchalen Wiedergeburtsreligionen

 

Die Feministinnen greifen gerne darauf zurück. Heide Göttner-Abendroth spricht von "matriarchalen Religionen" (1980). Es sind "Wiedergeburtsreligionen".

Hinter den Fruchtbarkeitsbildern steckt eine umfassende Kosmologie, die von den grundlegenden Kräften des Lebens und des Todes ausgeht. Die Göttin - die Erde (Gaia) oder der Kosmos - umfasst alles, auch das Männliche. Dieses ist also vollkommen eingebettet in ein weibliches Universum. Daher gibt es keinen Wettstreit, keinen Gegensatz. Der männliche Partner der Göttin ist ihr Heros, ihr Held. Er feiert mit ihr die Heilige Hochzeit, er wird von ihr mit der Königswürde versehen, aber er muss jeden Winter sterben, damit er am Anfang des nächsten Jahres geläutert wieder aufersteht. Sein Mut zum Selbstopfer ist das Heroische.

 

Das Motiv des jährlich sterbenden Königs zieht sich durch viele Mythen über die Epen des Mittelalters bis zur Formel: "Le roi est mort, vive le roi!"

 

Als unendliche Lebenskraft und ewiger Rhythmus ist die Göttin selber auch in allen Menschen. Die daraus hervorgegangene "matriarchale Spiritualität" (besser: Vitalität) lebte in geheimen Kulten und Subkulturen, in Sagen und Märchen fort.

Karl Kerényi definiert die griechischen Mysterien (z. B. Eleusis von 600 v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr.) als Feste für Eingeweihte, an denen "das Geheimnis" mitgeteilt wird. Heute findet sich dies bei Frauen in lockeren musischen oder ökologischen Kulten, aber auch in Hexen-Zirkeln und "Covens".

Die umfassende "Encyclopedia of American Religions" (1987) enthält unter anderem ausführliche Beschreibungen von nicht weniger als 300 aktuellen spirituellen, okkulten und Hexen-Orden.

 

Die patriarchale Konstruktion des Gegensatzes

 

Erst mit dem Aufkommen der patriarchalen Gesellschaftsform wurde als Gegensatz auseinandergerissen, was nie als Gegensatz gedacht war.

 

"Die unheilvolle Logik von These und Antithese setzte sich durch. Und die Gegensätzlichkeit zwischen männlichem und weiblichem Prinzip wurde so konstruiert, dass die Skala der negativen Eigenschaften stets auf die Seite des Weiblichen glitt: war der Mann das Obere, das Helle, das Gute, so war die Frau das Untere, das Dunkle, das Böse ...

War diese Kluft einmal aufgerissen, so gab es natürlich keinen Kompromiss mehr. Denn mit dem Bösen schlechthin vermag sich noch der edelste Gott nicht zu verbinden. Folgerichtig wurde der Mann mit dem Menschen überhaupt gleichgesetzt; und da die Frau nun eigentlich nicht mehr zur Menschheit gehörte, wurde sie konsequent aus dem Götterhimmel ausgemerzt. Das Ergebnis war der als höchste Geistesstufe der Religionen gepriesene Monotheismus."

 

Die Vermännlichung der Götterwelt

 

Die Mythen zeigen Welt- und Lebensordnungen. Aus dem menschlichen Erleben und Treiben hinaus- oder hinaufprojiziert, wirken sie als Orientierung auf es zurück.

Es waren die Ägypter im 3. Jahrtausend v. Chr. und die Indoeuropäer seit 2000 v. Chr., welche die matriachalen Mythen in patriarchale verwandelten. Heide Göttner-Abendroth nennt die Methoden Absorption und Deformation. Sie spricht von Tricks, ja von Pervertierung ins Gegenteil: Die Grosse Urmutter wird zum Urvater oder erhielt einen Vatergott zum Gemahl oder Vater. Dieser übernimmt ihre Macht- und Fruchtbarkeitssymbole und schwingt sich schliesslich zum einzigen Gott auf (Aton, Jahwe, Ahura Mazda).

Kurz: Das Weibliche wird herabgewürdigt und fällt zunehmend der Verachtung anheim. Das Weltbild wird statischer, die Welt weniger lebensfroh.

 

Der Logos ersetzt den Mythos

 

Im 1. Jahrtausend v. Chr. beschreiten die Griechen den mühsamen Weg vom "Mythos zum Logos" (Wilhelm Nestle 1940).

Von etwa 700-300 v. Chr. fand die "Entdeckung des Geistes" (Bruno Snell 1946) und damit die offizielle Entwertung des Mythos statt. Bis dahin war er eine unfragliche Weltdeutung.

Beim Schafhirten Hesiod taucht nun plötzlich das Thema Wahrheit auf. Er verkündet als erster historisch fassbarer Dichter des Abendlandes "seine" Wahrheit. Als selbstbewusstes Individuum erfasst er den Mythos von seiner persönlichen Fragestellung her und versucht, rational systematisierend die Geschichte der Welt in einem Ordnungsprinzip zu erfassen. Seine Preisung der Arbeit und des Rechts spiegelt das harte Alltagsleben des kleinen Bauern und Händlers.

 

Fortan glaubten die "Philosophen", eine neue Berufsgattung, eine wahre Wirklichkeit von einer nur scheinbaren unterscheiden zu können, und zwar mittels eines besonderen, höheren Erkenntnisvermögens, das vor Irrtum gefeit sein soll: der Reflexion, des sich seiner selbst bewussten Geistes, des Nous.

Dieser allein erkennt das Wahre oder Gute, Schöne, Göttliche. Selbiges ist

1. nicht mehr das Werden, sondern das Sein oder das Ewige und Unvergängliche,

2. das Ganze oder das "Ein und Alles",

3. die höchste, reine Idee oder das Wesen, und

4. das Absolute, Unbedingte.

 

Wo der Mythos mit der Seele schaute, schaut der griechische Philosoph, Mathematiker oder Künstler mit dem "Auge des Geistes".

Erst 2000 Jahre später haben Herder (1769), die Romantik und Henri Bergson (1903) diese Schauung als "Einfühlung" oder "innere Sympathie" wieder ins Gefühl "hinab" genommen. Während der ganzen Zwischenzeit waren Philosophie und auch Theologie weitgehend intellektualistisch und frauenfeindlich.

 

"Der" Mensch ist der Mann, in der jüdischen und christlichen Religion das Ebenbild eines männlichen, einzigen Gottes. Vernunft (Nous) als Denkprinzip und Logos als Weltordnung sind konstant, unveränderlich und bei allen Völkern, Rassen oder Gruppen gleich (so Platon). Der Kosmos ist die geschlossene "Wohlordnung", ein geordnetes Ganzes, ein "System" - vor allem bei den rigorosen Stoikern.

 

Gegensätze brechen auf

 

Da es im Mythos nicht um Wahrheit, sondern um Sinn geht, konnten die unterschiedlichsten Mythen - und Götter - nebeneinander bestehen. Es brauchte weder Systematik noch Widerspruchsfreiheit. Sobald aber der Anspruch auftaucht, mit Vernunft, Ratio, Intellekt, usw. die Wahrheit nicht nur zu suchen und zu treffen, sondern zugleich damit auch zu sichern und gegen jeden denkbaren Zweifel zu immunisieren, entsteht einerseits Fanatismus, anderseits Kritik und Wettbewerb.

G. E. R. Lloyd (1977) beschreibt die zahllosen Debatten bei den Alten Griechen. "Es ist eine der bemerkenswertesten Eigenarten der griechischen Kosmologie, dass von jeder vorgebrachten Idee auch das Gegenteil vertreten wurde.“ Dasselbe gilt für Ansichten über die Götter oder über die Quellen und Möglichkeiten des Wissens, über Kriterien und Methoden.

 

Bei den Alten Griechen ist auch der Gegensatz von organischer und mechanischer Auffassung des Weltlaufs und des menschlichen Zusammenlebens aufgebrochen. Für die Mechanik stehen die "Atomisten" und die "Nomotheten".

 

Auch im "Osten" vollzog sich eine ähnliche Um- und Abwertung des Mythos und zunehmende Abstraktion.

 

Seit die Unterscheidung von einer Wahrheit und Irrtum, Schein oder Vielheit (Hesiod; Brahmanen), von Gut und Böse (Genesis 3, 5 u. 22; Buddha; Tao) auftritt, "scheiden sich", wie der Volksmund sagt, "die Geister".

Fast alles, was in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden diskutiert und verfochten wurde, lässt sich daher entweder als Auseinandersetzung mit den unterirdisch weiterschwelenden Mythen oder mit der anfänglichen griechischen resp. indischen und chinesischen Philosophie betrachten.

 

Die Liebe kommt kaum vor

 

Freilich gab es auch Bündnisse zwischen Vernunft und Mythos, und sie waren folgenschwer:

  • das erste führte zum Neuplatonismus, der die Philosophie des frühen Mittelalters bestimmte und bis ins letzte Jahrhundert - in den Deutschen Idealismus - hineinwirkte
  • das zweite brachte erst das Christentum zu breiter Anerkennung und Erfolg; und
  • das dritte führte zur neuzeitlichen Wissenschaft.

 

Wie kam das? Die Weisheits-Lehren des 1. Jahrtausends v. Chr. waren weitgehend selbstgenügsam. Es ging um höhere Erkenntnis der Erkenntnis willen. Die Tendenz war: Lieber nicht handeln als handeln. Das Glück oder die Erlösung des Individuums oder das "Selbst" steht im Mittelpunkt. Daran orientierten sich auch die Anleitungen für die Praxis, das "richtige" Leben.

 

Liebe kommt als universaler Ansatz nicht vor, bestenfalls im utilitaristischen Sinne bei Konfuzius: "Was du selbst nicht wünschst, tu’ nicht den anderen!" oder bei Buddha und Isokrates (4. Jh. V. Chr.), ferner bei Rabbi Hillel, im apokryphen Buch Tobias ( 4, 16), später in den Evangelien von Matthäus (7, 12) und Lukas (6, 31) sowie bei Seneca.

Mo Tse behauptete: "Diejenigen, die andere lieben, werden wieder geliebt werden" (vgl. Mat. 5, 46; Luk. 6, 32f).

 

Bei Aristoteles ist der kosmogonische Eros zum "unbewegten Beweger" geronnen. Die Lustethik bei Epikur ist eine "hochdifferenzierte Vergeistigung" (Ernst Zinn); das höchste Gut ist "das aus dem Freisein von Schmerz und Furcht resultierende statische Wohlgefühl" (W. Liebich).

Als Kosmopoliten, d. h. Weltbürger verstanden sich nach Diogenes und den Kynikern vor allem die Stoiker; Grundlage bildete die Einsicht in die alles durchwaltende, zweckmässige göttliche Weltordnung (logos), in die man sich widerspruchslos einzufügen hat.

 

Orientalisierung

 

Die Gegenbewegung gegen den doch verblüffenden Rationalismus in Ost und West liess nicht lange auf sich warten. Im Einzugsbereich des griechischen Denkens - "Hellenismus" genannt -, kam es seit dem 3./ 2. Jahrhundert v. Chr. zu einer Orientalisierung:

 

1) Magier aus Persien und jüdische Zauberer gewannen wieder an Einfluss. Die Sternkundigen aus Mesopotamien, die Chaldäer, verbreiteten die Astrologie. Diese verband sich im Ägypten der Ptolemäer mit einheimischen Lehren, woraus die "hermetischen" Schriften und die Alchemie entstanden.

 

2) Der seit dem 8. Jh. v. Chr. in Griechenland gepflegte Dionysos-Kult kam nach Rom. Bald nach 200 v. Chr. hatte er dort schon 7000 Anhänger. Er beeinflusste das Johannes-Evangelium.
Aus Kleinasien kamen die Kybele-Mysterien als orgiastischer Magna-Mater-Kult nach Rom (204 v. Chr.), aus Persien der Mithras-Kult (zuerst, im 3. Jh. v. Chr., nach Ägypten), aus Ägypten die Isis-Verehrung. Sarapis (Osiris-Apis) wurde im ganzen Römischen Reich als Soter, als Retter und Heiland, verehrt.

 

3) Nicht genau zu fassen sind die Anfänge der Mystik und Gnosis. Jedenfalls hat der Jude Philon um die Zeitwende in Alexandria vieles aus der "heidnischen" Geisteskultur, vor allem aus der Stoa aufgenommen. Seine Lehre vom "Logos" als Mittler zwischen Gott und Welt könnte das Johannesevangelium ("Im Anfang war das Wort") beeinflusst haben. Askese und ekstatische Gottesschau werden zu einem religiösen Ideal.
Der bald darauf als gnostischer Offenbarer wirkende Jude Simon Magus taucht in der Apostelgeschichte (8, 9-24) auf.
Die um 200 n. Chr. in Alexandria wirkenden ersten Religionsphilosophen des Christentums, Clemens und Origenes, waren stark von der Gnosis beeinflusst.

 

Die bunteste Entfaltung des menschlichen Geistes

 

Auf den ersten Blick ist man versucht, die nächsten 1500 Jahre als unbedeutend zu überspringen. Das wäre falsch, denn was um die Zeitwende und in den folgenden Jahrhunderten geschah, war wohl die bunteste Entfaltung des menschlichen Geistes, und sie hatte enorme Auswirkungen.

 

In der ersten Welle (1. Jh. v. - 2. Jh. n. Chr.) entstand nicht nur das Christentum, sondern auch:

  • eine kurzlebige Erneuerung der Schule des Aristoteles – des Peripatos – vor allem durch den Stoiker Poseidonios und Andronikos von Rhodos (im 1. Jh. v. Chr.)
  • die Wiederbelebung der lange erloschenen Schule des Pythagoras durch einzelnen Gestalten, die okkultes Wissen sammeln und später als Wundertäter das Römische Reich durchziehen.
    Grundlage des Systems ist der Gegensatz von Einheit (Gott) und "unbestimmter Zweiheit" (Materie), aus deren Ineinanderwirken die weltgestaltende Zahlenordnung entspringt
  • die Erneuerung und praktische Anwendung der Stoa durch Seneca und Kaiser Mark Aurel
  • die Pneumatikerschule der Medizin; sie übernahm die stoische Makrokosmos-Mikrokosmos-Konzeption in einer eigentümlich hippokratisierenden Form (Aretaios, Antyllos). Galen fasste vor 200 die "Summe" der antiken Medizin zusammen
  • das Corpus Hermeticum, eine Sammlung von Traktaten mit einem gemeinsamen Thema: Gott, Kosmos, Mensch; ihr Wesen, ihre Kräfte, ihre gegenseitigen Beziehungen. Reichlich verwendet wird die Symbolik von Licht-Finsternis, Höhe-Tiefe, Geburt-Tod. Die Wurzeln sind jedoch nicht iranisch oder ägyptisch, sondern griechisch; böse Zungen sprechen von "Proletarierplatonismus"
  • eine reichhaltige Literatur zur Astrologie in Rom (Manilius, Balbillus) und anderswo. Das Lehrgedicht des Dorotheos von Sidon gelangte bis nach Indien; von dort kam es über Persien zu den Arabern
  • die Chaldäischen Orakel (2. Jh.)
  • der mystische Platonismus (z. B. Apuleius)
  • die Gnosis als ausserordentlich vielseitige religiöse Bewegung.
    Ihr Hauptthema ist "... die Erkenntnis dessen, wer wir waren, wohin wir geworfen wurden; wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden; was Geburt ist, was Wiedergeburt“.
    Oft waren Mysterienkulte damit verbunden (Simonianer, Ophiten). Der monistische Typus hat sich bei Juden (Simon Magus) und Christen (Valentinus) mit Schwerpunkt in Ägypten und Rom ausgebildet, der dualistische vor allem bei den Persern (später: Manichäismus ab 3. Jh. und Mandäer)
  • die Kabbala, im Prinzip - wie die Thora - eine mündliche Überlieferung. Ihr Hauptstück "Sohar" soll von Rabbi Simon ben Jochai (2. Jh.) stammen, erhielt seine endgültige Fassung aber erst um 1300. Das Buch "Jezira" wird seinem Zeitgenossen Rabbi Akiba zugeschrieben und ist wohl im 9. Jh. aufgeschrieben worden. Ebenfalls im 13. Jh. fand das Buch Behir Verbreitung.

 

In einer zweiten Welle, vom 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr., wurden die meisten dieser Ansätze vom Neuplatonismus aufgesogen. Er "darf als Erbe des gesamten geistigen Lebens der Antike angesehen werden", heisst es im Lexikon der Alten Welt (1965). Umgekehrt wirkte er sofort in andere Strömungen, insbesondere ins Christentum, hinein. Sein Einfluss ist bis in den deutschen Idealismus um 1800 spürbar.

Kernpunkt ist die immer höhere Stilisierung des "Einen" (Hen) aus dem alles ausströmt (Emanation bei Plotin) und in das sich alles wieder zurückwendet (Proklos). Daher ist alles in allem enthalten, wenn auch immer auf eigentümliche Weise (oikeios). Daraus ergeben sich immer kompliziertere Stufenfolgen (Hierarchien).

 

Ebenfalls pythagoreische, gnostische und mystische - und bald auch wieder neuplatonische - Elemente weisen auf:

  • die Schriften der Apologeten des Christentums (seit dem 2. Jh.) und der Kirchenväter von Origenes bis Augustin.
  • die Alchemie, die vom 2./ 3. Jh. an fassbar ist und ursprünglich auf ägyptischen und eventuell persischen Einflüssen beruht.
    Der erste als Person fassbare Alchemist ist der im 4. Jh. in Alexandria lebende gnostische Christ Zosimos. Er betonte, dass der technische Vorgang der Transmutation (Veredelung) nur zum geringsten Teil zur Läuterung der Seele des Adepten und zur mystischen Vereinigung von Mikro- und Makrokosmos beiträgt. Wichtiger Sind Konstellationen und Hingabe
  • Über die Syrer (6. Jh.), das byzantinische "Corpus alchimisticum" (8. Jh.) und die Araber gelangte die Alchemie zusammen mit Astrologie und Hermetik ins Hochmittelalter
  • die Schriften des christlichen Mystikers Dionysius Areopagita (um 500).

 

Die Ausbreitung des Christentums

 

Siehe auch:    Die Entwicklung des frühen Christentums

 

Positiv gesehen, stellen die zwei letzten Jahrhunderte vor der Zeitwende - und die anschliessenden ebenfalls - eine "Creative Explosion" dar. Negativ gesehen, vermischt sich alles mit allem. In diese ungeheure Verwirrung platzt Jesus Christus mit seiner Lehre: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" (3. Mose 19, 18; Mat. 22, 39; 1. Röm. 13,9) und "Liebet eure Feinde!" (Mat. 5, 44; Luk. 6, 27).

Es gibt Gelehrte, die behaupten, nichts, was Jesus verkündet und gefordert, getan und erlitten habe, sei neu. Eine Ausnahme bildet sicher das radikale Liebesgebot. Und genau dieses wurde nur kurze Zeit ernst genommen.

 

Wie schwer es Jesus’ erste Anhänger hatten, ist bekannt, weniger aber die internen Auseinandersetzungen in den Gemeinden. 313 wurde das Christentum von Konstantin als gleichberechtigt anerkannt.

Zu seiner weiteren Ausbreitung und Volkstümlichkeit trug die Einvernahme von "heidnischen" Festen und Kulten bei. So wurden etwa der Altar und Weihrauch eingeführt und 353 der Geburtstag Christi auf den 25. Dezember, den Geburtstag des Mithras, des unbesiegbaren Sonnengottes, verlegt, um diesen aus dem Volksbewusstsein zu verdrängen. Die Anhänger des Mithras wurden verfolgt, die Priester getötet.

 

Auch die Schriften der Gnostiker, von denen das Christentum trotz aller Abwehr manches aufnahm, wurden seit etwa 400 systematisch vernichtet. Dennoch überlebte die Gnosis und wurde nach 1000 bei den Katharern und Albigensern zur gefährlichsten Rivalin der katholischen Kirche. Sie wirkte über Jakob Böhme (um 1600) und die Geheimbünde der Rosenkreuzer bis zur Anthroposophie.

 

Im Neuplatonismus, um 250 von Plotin in Rom begründet, kamen die meisten Strömungen der antiken Philosophie zusammen. Plotins Schüler Porphyrius kritisierte die Evangelisten als Lügner und Fälscher und überhaupt die ganze Mythenproduktion der christlichen Schriftsteller. Sofort nach 313 wurden seine Werke öffentlich verboten. Sie hatten dennoch einen grossen Einfluss auf Augustin (um 400). Dieser verkündete aber auch das Dogma der Erbsünde und vertrat Polizeistaatmethoden.

 

Ebenfalls erst im 4. Jahrhundert (ab 367) wurden der Umfang des Neuen Testaments bestimmt: 27 Schriften galten von nun an als vom Heiligen Geist inspiriert, als göttlich und irrtumslos, kurz als kanonisch. Der Rest galt als apokryph.

 

Den Kampf gegen das Fleisch (sarx) und die Frau hatte schon Paulus aufgenommen. Er predigte Askese und sah die Frau als blossen "Abglanz des Mannes". Tertullian (um 200) - der die Kirche als "militärischen Verband" sah und später zum Ketzer wurde - machte die Frau bereits zur "Einfallspforte des Teufels". Eine kirchliche Trauung gibt es erst seit dem 14. Jahrhundert. Der Zölibat wurde seit dem 3. Jahrhundert praktiziert, aber erst 1074 dekretiert. Die ersten Klöster entstanden ebenfalls im 4. Jh.

 

Im 4. Jahrhundert nahm auch der Heiligen- und Reliquienkult erstaunliche Ausmasse an. Das Kreuz Jesu wurde entdeckt. Sogleich gab es in der ganzen Welt Splitter von ihm. Tuchreliquien wurden fabrikmässig hergestellt und massenhaft exportiert. Die immerwährende Jungfräulichkeit Marias wurde verkündigt (431), und es wurde ihr der Titel der ägyptischen Göttin Isis, "Gottesmutter", verliehen. Sie erhielt auch deren Attribute, den sternengeschmückten Mantel und den Halbmond. Das Dogma der Trinität - das aus den matriarchalen Religionen stammt – wurde 325/ 381 fixiert.

 

Zur selben Zeit wurden die ersten jüdischen Synagogen gestürmt oder niedergebrannt, und der Kampf gegen die Heiden und ihre Heiligtümer nahm offizielle und dramatische Ausmasse an. Die ersten "Ketzer" aus den eigenen Reihen wurden 385 hingerichtet, wegen "magischer Künste" (maleficium). Und schliesslich wurde das Töten im Krieg gelobt (Athanasius, um 350).

 

In einem Satz: Die Liebeslehre von Jesus wurde von Paulus verdreht, später mit Gnostik angereichert und durch Übernahmen aus Mysterienkulten volkstümlich gemacht,. Die „Kirche“ entwickelte sich, kaum hatte sie (313) Anerkennung gefunden, zu einer pompösen und brutalen Doktrin. "Dauernde Liebe ist durch Jesus Christus geworden", heisst es im Johannes-Evangelium (1, 17), laut C. K. Barrett (1970); in den üblichen Übersetzungen heisst es: "Gnade und Wahrheit".

 

800-1100: kultureller Aufschwung

 

Die nächste Welle war der kulturelle Aufschwung um 800 an den Höfen Karls des Grossen und der Kalifen von Bagdad, wobei an letzteren auch indische Einflüsse aufgenommen wurden. (Später wirkten die islamischen Gelehrten vorwiegend in Persien und Spanien.)

 

Nach einem ersten vorsichtigen Aufblühen vor allem französischer Gelehrsamkeit um die Jahrtausendwende - die auch den langen Aufstieg der neuzeitlichen Wissenschaft einläutet -, setzt gegen 1100 mit Anselm von Canterbury und Abälard die "Scholastik" richtig ein.

Gleichzeitig blüht die Mystik wieder auf, und zwar bei Männern (Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor) wie Frauen (Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau). Der Platonismus wurde in Byzanz (Michael Psellos) und in der Schule von Chartres wiederbelebt.

 

Wie kam es zur neuzeitlichen Wissenschaft?

 

Siehe auch:    Zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft

                        Die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft

 

 

Wahrheit statt Liebe, das führt, wie wir sehen zum Streit. Jeder kritisiert jeden. Jeder verteidigt "seine" Wahrheit. Wie führt das zur Wissenschaft, die ja vom kritischen Geist lebt?

 

Die Griechen wollten weise werden

 

Ist es erstaunlich, dass der Rationalismus der Griechen nicht zu dem führte, was wir heute Wissenschaft und Technik nennen? Nein. Ihnen war das Nützliche niedrig; nur für Banausen.

Die Griechen, meint G. E. R. Lloyd, "erforschten die Natur nicht, um sie zu beherrschen, und schon gar nicht, um sie auszubeuten, sondern um weise zu werden. Das Ziel hiess Erkenntnis, und es wurde oft betont, dass ohne Erkenntnis und Wissen auch innerer Frieden und Glück unerreichbar sind ...

Wie fremd ist uns heute dieses Wissenschaftsideal: Forschung um ihrer selbst willen und als Teil der moralischen Bildung."

 

Dieses rationale Erkenntnisstreben musste sich mit etwas verbinden, um nützlich zu werden: Das waren Magie und Alchemie. Friedrich Wagner beschreibt dies 1964. Magie heisst ja, Macht über Menschen oder Naturgewalten erstreben. Und die Alchemie war wie das Christentum eine Heilslehre. Sie versprach paradiesische Fülle durch Reichtum, Gesundheit und Überleben, und zwar nicht erst für die Endzeit, sondern schon hier und jetzt auf dem Weg der wissenschaftlichen "Operation". Also Weltbeherrschung und Welterlösung durch Forschung.

 

Schwächung des Christentums

 

Damit diese Forschung in Gang kam, brauchte es allerdings erst eine Schwächung des Christentums. Sie erfolgte bald nach dem Jahr 1000 sowohl durch Bildung von Sekten wie auch durch den Streit der Dialektiker gegen die Orthodoxen; er wurde nach 1300 abgelöst durch die Auseinandersetzung zwischen Nominalismus und Realismus.

Hinzu kam, dass durch die Rückeroberung islamischer Gebiete in Spanien (Toledo, 1085) und Sizilien (1091) sowie die Kreuzzüge das christliche Abendland einerseits mit orientalischen esoterischen Strömungen (Sufi-Mystik, Astrologie, Alchemie), anderseits mit Aristoteles bekannt wurde. Letzteres bremste den Fortgang des empirischen Denkens und Vorgehens enorm.

 

Die Alchemie hielt Einzug an Königshöfe und päpstliche Höfe, in Studierstuben und Arztpraxen. Friedrich II., unter anderem König von Sizilien, gilt als erster Alchemist auf dem Kaiserthron (1220).

 

Nachdem um 1200 in Spanien Maimonides den jüdischen Glauben auf der Grundlage aristotelischen Denkens begründet hatte, stellte bald darauf Thomas von Aquin das bisher hellenistisch-neuplatonisch ausgerichtete Christentum unter die Autorität des Heiden Aristoteles. Die mystische Strömung der Kabbala taucht im Judentum wieder auf.

 

Kabbalistische und andere Einflüsse zeigen sich in der Universalwissenschaft ("Ars generalis") des Raymundus Lullus (um 1300). (Noch Leibniz hat darüber eine Dissertation "De arte combinatoria" (1666) verfasst.) Einer Lichtmetaphysik hingen die Mystiker an.

 

„Creative Explosion“, aber statisches Weltbild

 

Die Zeit von 1000 bis zur Pest 1348 kann erneut als "Creative Explosion" bezeichnet werden. Stichworte sind: Städtegründungen, landwirtschaftliche und technische Revolution, Handel und Geldwirtschaft, Lehenswesen und Rittertum, Troubadours und Hofzucht, Individualität, Mode und sozialer Wandel, usw.

 

Merkwürdigerweise verpufften die naturwissenschaftlichen Impulse des 13. und 14. Jahrhunderts weitgehend (vgl. E. J. Dijksterhuis, 1956). Einzig Logiker und Methodologen (1300-1600) arbeiteten im stillen Kämmerlein weiter. Künstler-Ingenieure (seit 1400), Techniker und Mechaniker arbeiteten in der Werkstatt und im Gelände an grossartigen Werken - aber auch Waffen - von praktischem Nutzen.

 

Für den erstaunlichen Sachverhalt, dass die Wissenschaft – trotz zahlreicher Ansätze - nicht recht voran kam, macht Friedrich Wagner (1964) "das statische Weltbild und die stabile Sozialstruktur des Mittelalters" verantwortlich. Sie mussten zuerst gesprengt werden. Das geschah erst durch den Niederländer Stevin (1586), den Engländer Gilbert (1600), den Italiener Galilei (1610/23) und den Schwaben Kepler (1619).

 

Es darf also nicht ausser Acht gelassen werden, wie viel und wie lange es braucht, bis es zur neuzeitlichen Wissenschaft kam. Die Träume der Alchemisten und die technischen Utopien eines Roger Bacons (um 1260) liessen sich nicht so leicht realisieren.

 

Warum ging es so lange?

 

Vielleicht war es der beherrschende Einfluss von Aristoteles, der alles noch zusammenhielt. Er wurde erst 1536 von Petrus Ramus durchbrochen, als er behauptete: "Alles, was Aristoteles gesagt hat, ist falsch." Gerade vorher hatte Rabelais verkündet: "Tu, was dir gefällt!" (1534). Rezepte für das politische "Catch-as-catch-can" hatte der soeben erschienene "Principe" von Machiavelli gegeben.

Vielleicht war auch das Denken zu sehr auf das Jenseits ausgerichtet und zu spekulativ gewesen , vielleicht auch zu sehr dem Guten und Wahren zugewandt. Es brauchte die Idee des Nützlichen und der Leistung.

 

Man könnte vermuten, dass auch eine Abkehr von Astrologie, Magie und dergleichen nötig war. In der Tat hat Bernardino Telesio (1565) sie verworfen und als erster radikal mit dem Aristotelismus gebrochen. Er hat erstmals ein völlig mechanistisches Weltbild aufgebaut. Aber so einfach ist es nicht.

 

Die Transformationen von Christentum, matriarchalen Relikten und Alchemie zur Wissenschaft

 

Es brauchte mehrere Transformationen:

 

1) Die Transformation der christlichen Botschaften

 

Die Transformation der christlichen Botschaften. Für das wirtschaftliche Handeln leistete sie, wie Max Weber (1904/5) nachwies, der Reformator Calvin (1543). "Durch wagemutigen unternehmerischen Einsatz von Kapital und Arbeit suchte man das eigene Gewissen im Zweifel über die Erlangung der göttlichen Gnade zu beruhigen. Der wirtschaftliche Erfolg galt als die Bestätigung oder doch die Vermutung der göttlichen Gnade, die dem so handelnden Gläubigen zuteil werde", fasst Erich Egner (1976) zusammen.

Anders ausgedrückt: Die Leistung an dem von Gott zugewiesenen Platz (wie es bereits Luther formulierte) ist Massstab für die Wertschätzung, die man vor Gott hat. Der Mensch schafft sich durch systematische Arbeit die Gewissheit der Seligkeit „selber“.

 

2) Die Transformation der christlichen Heilsbotschaft

 

Für die wissenschaftliche Forschung musste die christliche Heilserwartung auf eine Erlösung im Gottesreich in den Fortschrittsglauben umgewandelt werden, der schon eine Erfüllung im Diesseits verspricht.
Thomas Morus' "Utopia" (1516) zeigt die Verwirklichung des Glücks auf Erden. "Was kann denn das für ein Vorteil sein, wenn man nach dem Tode nichts erreicht, nachdem man dieses ganze Leben freudlos, das heisst also: jämmerlich, zugebracht hat?", meint der Jurist und spätere Lordkanzler Morus. Über Aberglauben lachen die Utopier, auch wenn sie Wunder als Taten Gottes anerkennen und in Bittgebeten darum flehen. "Als eine Gott wohlgefällige Form der Verehrung betrachten sie die Erforschung und die damit verbundene Lobpreisung der Natur.“

 

3) Die Transformation der matriarchalen Relikte

 

Die dritte Transformation betraf die letzten matriarchalischen Relikte. So widerlegte 1505 ein portugiesischer Seefahrer nach der Entdeckung des Seewegs nach Indien hämisch die bisherigen Irrtümer der Geographen und meinte: "Da aber die Erfahrung die Mutter der Erkenntnis ist, hat sie uns die absolute Wahrheit gelehrt."
Ein Jahrhundert später verwarf der Theoretiker des neuen Weltbildes, Francis Bacon, ebenfalls Jurist und Lordkanzler, die Metaphysik und Kosmologie aller Denker von den Hellenen bis zu Campanella und Bruno, die "gleichsam aus der Höhle Platons philosophierten", als nutzlose "Mythen" und setzte die Wissenschaften an ihre Stelle. Als deren "grosse Mutter" inthronisierte er die Naturwissenschaft (1624).
Daher werden seither auf Titelblättern von gelehrten Büchern füllige Damen abgebildet (z. B. bei Comenius : „Pansophiae prodromus“, 1644) . Noch auf dem Titelblatt der 10. Auflage von Linnés „Systema naturae“, in der deutschen Ausgabe von 1760, ist eine vielbrüstige Artemis abgebildet. Auf einem früheren Titelblatt, das Linné selber gezeichnet hat (1746), hält sie in der eine Hand den Mond oder das Ei, in der andern den Uroboros.
Gegen 1800 ersetzte Pan Diana. Aber noch 1807 hat Alexander von Humboldt auf dem Widmungsblatt der „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ -  „An Goethe“ – die entschleierte vielbrüstige Artemis abgebildet.

 

4) Die Transformation der Alchemie

 

Eine weitere Transformation machte die Alchemie durch.

Im 12. Jahrhundert wurden die arabischen alchemistischen Schriften (aus dem 10. Jh.) durch Übersetzungen bekannt. Von 1200 bis 1300 entstand eine eigenständige "europäische" Alchemie, die auch an den Universitäten, z. B. als Grundlage der Medizinerausbildung, gelehrt wurde. Um 1300 änderte sich dies: Die Alchemie wurde von den Hochschulen ausgeschlossen und in die Praxis gedrängt. An weltlichen Höfen sind Alchemisten als Goldmacher erwünscht.
Die Theorie (basierend auf der Aristotelischen Naturphilosophie) wurde nicht mehr weiter ausgebaut; das erlaubte den Einzug von christlichem Gedankengut, insbesondere der Eucharistie. Der Lapis (Stein der Weisen) wurde mit Christus gleichgesetzt, die Verwandlung der Metalle mit derjenigen von Brot und Wein beim Abendmahl.
Freilich war die neue religiöse Seite der Alchemie anti-kirchlich, nämlich gnostisch (siehe z. B. den Uroboros). Grundprinzip der Alchemie war die "imitatio naturae". Albertus Magnus (um 1260) sagte: "Der Künstler (artifex) muss die Natur beobachten und so fortschreiten wie es die Natur tut." Das Vorgehen muss mit viel Geduld und Sorgfalt erfolgen. Der Mensch kann das Ergebnis nicht erzwingen; er kann den Prozess nur in Gang bringen und steuern.

 

Das änderte nun:

1. Leonarda da Vinci (um 1500) drehte das Vorgehen um: "Wenngleich die Natur mit der Ursache beginnt und mit dem Experiment endet, wir müssen den entgegengesetzten Weg verfolgen, d. h. beginnen mit dem Experiment und mit diesem die Ursache untersuchen." Diese Ursachen enthüllen sich in Gesetzen, und diese sind nur mathematisch zu fassen.
Dahinter könnte der soeben neu entdeckte Neuplatonismus stecken: "Proportion ist nicht bloss in den Zahlen und Massen aufzufinden, sondern auch in den Tönen, Gewichten, Zeiten und Orten und in welcher Kraft es immer sei ", meinte Leonardo. Und: "Die Wissenschaft ist eine zweite Schöpfung mittels des Verstandes."

2. Die "Nachahmung der Natur" wurde durch den Wunsch nach der Beherrschung der Natur ersetzt, Subtilität durch Zwang. Manche, welche den Weg zur Wissenschaft vorantrieben, waren ja Künstler-Ingenieure, Techniker und Mechaniker, Wasserbaumeister und Festungsbauer.
Francis Bacon meinte: ''Die Natur wird nur durch Gehorsam besiegt.“ Seine "Instauratio magna" (1620), die grosse Erneuerung, sollte die "Grundlage für den Nutzen und die Macht der Menschheit" abgeben. Von Descartes stammt die Formel: Die Menschen sollten zu "maîtres et possesseurs de la nature" werden.

3. Die Aristotelische Theorie der Bewegung (als Impetustheorie im 14. Jh. diskutiert) lief seiner Theorie der Verwandlung den Rang ab. Kopernikus (1543) verglich die Sonne in der Mitte des "wunderschönen Tempels der Welt" noch mit dem "sichtbaren Gott" des Hermes Trismegistos.
Waren es bei Telesio (1565) noch die alchemistischen Prinzipien Wärme und Kälte, welche die Mechanik in Gang hielten, so sind es bei Galilei nur noch einfache, unzerstörbare, beständige und gleichförmig wirkende Ursachen, messbare Bewegungsverhältnisse.

4. Nachdem die Räderuhr erfunden war und sich der Nominalismus mit der Trennung von Sache und Begriff etabliert hatte - beides um 1300 - wurde der Kosmos mit einer Uhr verglichen (erstmals von Oresme, 1377). Cusanus und Kopernikus sprachen von der "machina mundi".
Doch erst bei Kepler wird das Bild deutlicher: 1605 sah er den Kosmos nicht mehr als "göttliches Lebewesen" sondern als "horologium". Seit Descartes ist dann die mechanistische Betrachtung gängig.

5. Nicht gering zu veranschlagen ist in diesem Zusammenhang auch die Wiederentdeckung der Atomtheorie von Demokrit resp. Lukrez durch Giordano Bruno (1584) , Sennert und Gassendi, später Boyle und Locke.

 

Interessant ist, dass kurz bevor die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos "vertrieben" wurde, der Mensch in den Mittelpunkt trat. Laut Pico della Mirandola (1486) stellte der höchste Schöpfer den Menschen "in die Mitte der Welt".

 

5) Die Transformation der christlichen Praxis

 

Die Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft waren gläubige Christen.

Wie hatte sich denn das Christentum verwandelt? Seit 1000 wurde es zunehmend martialischer: Papst Urban II begründete 1095 den 1. Kreuzzug mit der Formel "Deus lo volt" (Gott will es). Wie ein Augenzeuge berichtete, wateten "die Unsrigen" am 15. Juli 1099 bei der Eroberung Jerusalems vor dem Tempel Salomons "bis zu den Knöcheln im Blut". Das Bild des christlichen Ritters entstand. Im 13. Jahrhundert festigte sich die Inquisition.

 

Wie sehr sich Christentum mit Macht und Wissenschaft verband zeigt das Beispiel Prinz Heinrich des Seefahrers (1394-1460). Er war schon mit 26 Jahren Grossmeister des portugiesischen Christus-Ordens. (Dieser Orden galt als Gemeinschaftsgründung des Königs und des Papstes. Er wurde drei Jahre nach der Verbrennung von Jacques de Molnay (1314) bestätigt und mit Templergütern dotiert. Er ist heute noch der höchste päpstliche Orden.)

Prinz Heinrich wollte schon als junger Mann "die Hände im Blut der Ungläubigen waschen". 1415 eroberte die von ihm gebaute portugiesische Flotte die Maurenstadt Ceuta an der nordafrikanischen Küste. Bald darauf befahl er seinen Seeleuten, die "See der Finsternis" an der atlantischen Afrikaküste zu erobern. Südlich des Kap Bajador wähnte man damals das Ende der Welt, wo Finsternis und Verderben warteten. Jahr für Jahr sandte er wagemutige Kapitäne aus.

Zu ihrer Unterstützung hatte er eine Seefahrerschule und ein Marine-Arsenal eingerichtet. Hier versammelte er die gelehrtesten Köpfe seiner Zeit, Wissenschafter und Techniker, insbesondere Kartographen und Astronomen, Mathematiker, Schiffsbauer und Mediziner. Ergebnis waren verfeinerte Orientierungsmittel und die Karavelle, ein Schiff mit Lateinsegeln, mit dem man gegen den Wind kreuzen kann. Keine Mittel wurden gescheut, auch Kartenfälschungen zur Geheimhaltung und aktive Spionage in ganz Europa nicht. Doch erst 1434 drang Gil Eanes über jenen Punkt nach Süden hinaus, der bisher als unpassierbar gegolten hatte.

Lange warfen die Expeditionen ausser Erkenntnissen nichts ab. Erst als Rohstoffe aus Madeira und Sklaven aus Guinea nach Portugal gebracht wurden, begann sich die Sache zu lohnen.

 

Die Kirche bot aber auch stets Bildung

 

Auf der andern Seite war die Kirche "die grosse bewahrende Macht im Reiche des Geistes. Was überhaupt durch das frühe Mittelalter hindurch an höherer Bildung und an klassischer Tradition erhalten blieb, lebte im Schoss der Kirche" (H. J. Störig, 1954, 148). Sie erhielt und pflegte die lateinische Sprache, die bis zu Leibniz' Zeiten das Verständigungsmittel der Gebildeten aller europäischen Völker blieb. Sie baute aber auch das Schulwesen aus.

Klöster bewahrten nicht nur das literarische Erbe, sondern waren auch über Jahrhunderte Mittelpunkte der Landwirtschaft, des Handwerks und manchmal auch des Handels. Orden wiederum förderten alle Zweige der Philosophie und Wissenschaft (149).

 

Aus der weitgespannten Welt des Islams stammt die Institution von "Häusern der Weisheit", etwa in Bagdad und Kairo, welche die griechische Tradition in Lehre wie Forschung vermittelten. Abgelöst wurden sie durch Rechtsschulen und medizinische Schulen, aus welchen die ersten "Universitäten" herauswuchsen (152f): Bologna, Pavia, Paris, Montpellier, Oxford. 1224 gründete der Hohenstaufenkaiser Friedrich II. die erste nicht-kirchliche Universität, diejenige von Neapel (165f); er förderte auch die medizinische Schule von Salerno (171f). Robert von Sorbons in Paris begründetes Studienhaus ist dagegen eher einem College vergleichbar.

 

Bei der Betrachtung der Bildungssituation müsste man eigentlich viel schärfer differenzieren, wem diese Bildung in den verschiedenen Formen zugute kam. Am schlechtesten dran war beklagenswerter Weise das Volk, und davon besonders die Landbevölkerung.

Zwar besass etwa die Abtei St. Gallen im 9. Jahrhundert mehrere Schulen und Werkstätten (149), unterhielten viele Klöster ausser ihrer internen Schulen für die Novizen auch eine schola exterior für die Jugend des Umkreises, und entstanden schliesslich in den Städten Italiens, Flanderns und der Hanse weltliche Schulen mit Laien als Lehrern (152), doch war es erst der Eifer der Reformatoren, welcher die Elementar-Bildung in breitere Schichten vorantrieben. Luther wetterte gegen den heidnischen und aristotelischen Geist der Universitäten und forderte die Errichtung christlicher Schulen.

Bekannt ist seine Klage von 1524: "Wenn ich Kinder hätte, und vermöchts, sie müssten mir nicht allein die Sprachen und Historien hören, sondern auch singen, und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen. Denn was ist dis alles, denn eitel Kinderspiel, darin die Griechen ihre Kinder vor Zeiten zogen?" (zit. 183).

 

Melanchthon wählte freilich wieder Aristoteles zur Grundlage, doch seine Bildungsreform führte dazu, dass fast alle protestantischen Länder, lutherische wie calvinistische, grosse Anstrengungen unternahmen, "den Massen wenigstens eine einfache Bildung zu vermitteln, damit sie die Bibel selber lesen konnten" (184).

 

Humanismus und Reformation lehnten sich gegen die Scholastik auf (vgl. J. D. Bernal, 1970, 358ff), setzten jedoch an die Stelle der alten Autoritäten neue, die sich bis zur Aufklärung und Französischen Revolution hielten: die Schriften der Antike auf der einen Seite, die Bibel auf der andern.

 

Die Akademien der Renaissance

 

Leonardo Olschki (1918-27, I-III) vermittelt uns einen Eindruck von den Gepflogenheiten und Stimmungen, die damals herrschten, und er präzisiert insbesondere, was die Bestrebungen einerseits für die höhere Volksbildung, anderseits für die „Bildung“ geschlossener Gesellschaften anlangt: Die Bezeichnung "Akademie" wurde als humanistische Reminiszenz für durchaus familiäre, zwangslose und freundschaftliche Zusammenkünfte von Gelehrten, Enthusiasten, Ästheten und Fürsten erstmals von den florentinischen Platonikern um die Mitte des 15. Jahrhunderts eingeführt, deren tragendes Fundament das Streitgespräch, die gelehrte Diskussion bildete.

Sie wurden weder nach ihrem Gründer noch nach einer besonderen Richtung, sondern nach der jeweils führenden Persönlichkeit genannt:

·                    Accademia di Marsilio Ficino (Florenz; z. B. I, 254ff)

·                    Accademia di Pomponio Leto (Rom),

·                    Accademia Pontani (Gioviano Pontano, Neapel),

·                    Accademia Aldi Manutii (Venedig),

·                    Accademia Leonardi Vinci (Mailand; I, 110-115, 239-251, 395).

Nur provinzielle Bedeutung hatte die Akademie des Bernardino Telesio (Cosenza; II, 115); ähnliches gilt wohl auch für diejenige der Pellegrini (II, 136f).

 

Die Autorität der platonischen Akademie verblasste mit dem Tod Ficinos (1499; II, 4-7). Doch schon 40 Jahre später entstand am selben Ort eine neue Institution, diesmal zum Teil von Laien getragen und mit dem Programm, die Landessprache - statt das gelehrte Latein - zu pflegen und Wissenschaft und Bildung auch dem Volk zugänglich zu machen. Das ist die legendäre Florentiner Akademie, welche durch die öffentlichen Vorträge des Polyhistors Benedetto Varchi berühmt wurde (II, 171-194; vgl. 114ff, 161ff, 199ff). Besondere Pflege erhielten in dieser unter dem Patronat von Cosimo I. stehenden volkshochschulähnlichen Einrichtung die Naturphilosophie und Metaphysik; ganz ausgeschlossen waren die Jurisprudenz und die altphilologischen Disziplinen.

 

Da sich dieses allgemeine Programm im Laufe der Zeit erfüllte resp. erschöpfte, traten Spaltungen auf: Die 1582 gegründete Accademia della Crusca wurde als rein philologischer Verband das Vorbild aller europäischen Sprachakademien (II, 172).

 

Schon 1563 war die von dem Biographen Vasari ins Leben gerufene Accademia del Disegno durch Cosimo I. feierlich eröffnet worden (II, 187f). Sie strebte die Pflege der Mathematik als Grundlage der Zeichenkunst in den verschiedensten Anwendungen an (I, 430; vgl. 143), während sich die bereits in den dreissiger Jahren des Jahrhunderts eröffnete römische Accademia della Virtù als Hauptaufgabe die Vitruvinterpretation gestellt hatte (vgl. II, 187f, 204f, 215) und die Accademia di San Luca in Rom sich lediglich der Kunstphilosophie widmete.

 

Wellenbewegungen

 

Wenn man das ganze zweite Jahrtausend überblickt, kann man für das ganzheitliche Denken eine Wellenbewegung herauslesen: Jeweils gegen Ende eines Jahrhunderts erlebt es einen Aufschwung, der einige Jahrzehnte ins neue Jahrhundert anhält - ohne dass es freilich je ganz verschwände. Meistens lassen sich zur selben Zeit auch markante Aufschwünge des eher mechanistischen oder allgemeiner: naturwissenschaftlichen Denkens ausmachen. Was dabei Ursache und Wirkung war, muss offen bleiben.

 

Jedenfalls ist auffällig, dass sowohl um 1000, 1100, 1200 und vor allem um und nach 1300 wichtige Werke zur Physik und physiologischen Psychologie sowie zur Grundlage der wissenschaftlichen Denkungsart, insbesondere zum Nominalismus erschienen.

 

Bei den ganzheitliche Gegenbewegungen zur neuzeitlichen Wissenschaft kann man vier Etappen herausstellen:

1580-1640 (Valentin Weigel, Giordano Bruno, Francisco Suarez, Jakob Böhme, Robert Fludd, Johan Baptist van Helmont, Comenius)

1670-1725 (Spinoza, Malebranche, G. E. Stahl, Shaftesbury, Leibniz, Toland, Vico)

1770-1830 (deutscher Idealismus, Klassik und Romantik)

1880-1930 (Lebensphilosophie, Vitalismus, Gestaltpsychologie).

 

Die vier Etappen bilden einen bestimmten Rhythmus:

Immer wenn die Naturwissenschaften einen grossen Schritt vorwärts taten (z. B. Galilei 1610/23; Newton 1689; Herschel, Laplace und Lavoisier 1789; Planck 1900), wurde auch die Gegenbewegung deutlicher.

Sie kann für die ersten zwei Etappen mit den Stichworten "Pan" (= alles; z. B. Pantheismus, Panpsychismus, Pansophie) und Mystik charakterisiert werden: Die ganze Welt und alle Dinge sind von Gott oder Leben erfüllt, und der Mensch kann dies schauen.

 

Freilich gab es auch jeweils um die Jahrhundertmitte vereinzelte ganzheitliche Denker oder Ansätze z. B. um 1650 der Mystiker Angelus Silesius mit seinem "Cherubinischen Wandersmann", Comenius mit seiner "Pansophie" sowie Pascal und Spinoza, oder um 1950 Jean Gebser ("Ursprung und Gegenwart", 1949/53), die Friedensbewegung der Wissenschafter ("One World or None"), die Psychosomatik und die Soziale Marktwirtschaft.

 

Neuere Strömungen, die weit über die Grenzen eines einzelnen Fachgebietes hinausgingen

 

„Evolution“

 

Der Evolutionsgedanke hat seine Wurzeln in der Aufklärungszeit (Bonnet, Buffon, Lamarck) und in den Kontroversen von Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire (1830). Herbert Spencer formulierte ihn schon um 1850 für die Sozialwissenschaften und Philosophie. Die neue Deutung von Darwin (1859) wurde von W. G. Sumner in die Soziologie und von G. J. Romanes in die Psychologie übertragen.

Eine "evolutionistische Erkenntnislehre" vertraten schon Spencer (ab 1862), Ludwig Stein (1895) und viele andere. Rupert Riedl hat sie 1975 neu belebt. Henri Bergsons "évolution créatrice" (1907) und die Thesen der "emergent evolution" (S. Alexander, C. Lloyd Morgan) wurden zeitweise vehement diskutiert.

 

Antibürgerliche Welle

 

Die antibürgerliche Welle beruht weitgehend auf Hegels „Dialektik“ (1800) und dem Marxismus-Leninismus (seit 1840) in der Auslegung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Horkheimer, Adorno) und spannte sich von der Kritischen Theorie bis zur Ästhetik. Auch Freuds Psychoanalyse wurde verwertet.

 

Parapsychologie

 

Parapsychologische Erscheinungen sind durch die Jahrhunderte immer wieder Gegenstand von Faszination, Angst und Verwirrung, Schwindel und Kritik gewesen.

Erst der Magnetiseur Mesmer (gest. 1815) und seine Schüler legten das Fundament für eine kritische Betrachtung, insbesondere der Suggestion. Nachdem sich um 1850 von Amerika aus das Tischrücken wie eine Epidemie ausbreitete, begann bald die ernsthafte Erforschung von Telepathie, Hellsehen, Spuk usw. Die englische "Society for Psychical Research" wurde 1882 gegründet; bald veröffentlichte auch der Schweizer Théodore Flournoy Ergebnisse von experimentellen Untersuchungen an Medien.

Über Helena Blavatsky -schon als Kind ein Medium und später als Okkultistin gefeiert - und Max Dessoir ergeben sich Verbindungen zur Theosophie und östlichen Weisheit, über das Medium Mary Baker-Eddy, die Begründerin der Christian Science (1875), zur Geistheilung.

 

Funktionale Abhängigkeiten

 

Die Betrachtung funktionaler Abhängigkeiten und Zusammenhänge - statt von Ursachen - nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang. Vier Wurzeln sind bedeutsam:

1. die Evolutionslehre, besonders in der Form, die ihr Herbert Spencer gab

2. der amerikanische Pragmatismus mit seinem funktionalistischen Wahrheitsbegriff

3. der "Empiriokritizismus“ von Mach und Avenarius mit dem Gedanken der "Denkökonomie", und

4. der Fiktionalismus von Hans Vaihinger mit einem ebenfalls funktionalistischen Wahrheitsbegriff.

 

Seit 1890 breitete sich der Funktionalismus in unterschiedlichsten Formen in der

Philosophie (Frege, später Cassirer),

Psychologie (James, Dewey, Angell, Stumpf, später Bühler),

Soziologie (Durkheim) und

Architektur (Sullivan, später Le Corbusier und F. L. Wright) aus.

 

1922 begründeten A. R. Radcliffe-Brown und Bronislaw Malinowski mit ihren Forschungsberichten den Funktionalismus in der Ethnologie.

Bald findet er sich auch in der Biologie (z. B. W. B. Cannon 1932), in der Medizin (G. v. Bergemann).

In der Soziologie erlangt die strukturell-funktionale Theorie in den Versionen von Talcott Parsons und R .K. Merton in den 50er Jahren zunehmend grösseren Einfluss.

 

Modelldenken

 

Das Modelldenken und die sowohl geistige wie handwerkliche Konstruktion von Modellen spielten in der Physik des 19. Jahrhunderts eine zunehmend grössere Rolle. Maxwell löste einen eigentlichen Modellfimmel aus. Die Theorie formulierten Ernst Mach (1883), Heinrich Hertz (1894) und Hans Vaihinger (in seiner "Philosophie des Als ob", 1911).

Reflexionen über das Modelldenken setzen - abgesehen von Wittgenstein (1921), Cassirer (1923-29) und Weyl (1927) aber erst in den 40er Jähren ein.. Seither ist in allen Wissenschaften von Modellen die Rede.

 

Verhaltenstheorien

 

Die Verhaltenstheorien gehen auf den amerikanischen Pragmatismus (z. B. Dewey, 1896), insbesondere auf den psychologischen Behaviorismus von J. B. Watson (1913), sowie auf die russische Reflexlehre (Pawlow, Bechterew) zurück.

Der soziale Behaviorismus von G. H. Mead (1934) wurde in den 50er Jahren als symbolischer Interaktionismus wiederentdeckt.

Die vergleichende Verhaltensforschung oder Ethologie (z. B. Konrad Lorenz) geht ebenfalls vor die Jahrhundertwende (z. B. C. L. Morgan, 1891) zurück.

E. L. Thorndike publizierte seine Untersuchungen über Lernversuche von Katzen in einem Problemkäfig 1898. Ein Jahr später begann W. S. Small mit Ratten im Labyrinth zu experimentieren.

Speziell die Lerntheorie erlebte in den 50er Jahren in den USA (z. B. Skinner) und in den 60er Jahren in Europa einen Boom. Seit Anfang der 70er Jahre findet die Theorie des „operanten Lernens“ (Skinner, 1938/57) in der Organisationspsychologie und Ökonomie zunehmend Beachtung.

 

Die Verhaltensforschung steuerte aber auch die „Hackordnung“ (1922), die Erwartungstheorie (Tolman: cognitive map, 1932) und Prägung (seit 1939) bei.

 

Psychoanalyse

 

Die 1900 mit Sigmund Freuds "Traumdeutung" begründete Psychoanalyse erfuhr in den 20er Jahren erstmals breite Popularität. Verfeinert und aufgespaltet in unzählige Schulen und Richtungen, infiltrierte sie fast alle Wissensgebiete. Karen Horney und H. Schultz-Henke entwickelten in den 30er Jahren die Neopsychoanalyse. Seit den 50er Jahren fanden Erikson, Fromm, Rogers und Mitscherlich öffentlichen Nachhall.

 

Strukturalismus

 

Der Strukturalismus beruft sich gerne auf den Genfer Ferdinand de Saussure, der in seiner Sprachtheorie (1906-11) allerdings nur den Ausdruck „System“ verwandte. Ebenfalls Anstösse gaben der russische Linguist Roman Jakobson (seit 1915) und der Genfer Psychologe und Erkenntnistheoretiker Jean Piaget (seit 1923).

Durch die Anthropologie von Claude Lévi-Strauss wurde die Strukturanalyse in den 50er Jahren populär. Bald drangen marxistische (Lucien Goldmann; Louis Althusser), psychologische (Jacques Lacan), historische (Michel Foucault) und andere Auslegungen ein.

 

Analytische Philosophie, Sprachanalyse und Kritischer Rationalismus

 

Bertrand Russell hat seine Philosophie – mit der er (zusammen mit G. E. Moore, 1903) die bis heute wirksame Analytische Philosophie begründete (1905) – ausdrücklich als „logischen Atomismus“ bezeichnet und ihn in Gegenstellung zu Bradleys absolutem Idealismus mit seiner Betonung des „Ganzen“ entwickelt.

 

Moore und Russell zählen mit andern Philosophen auch zur Richtung des "Neurealismus".

 

Eine Doppelfunktion erfüllten Ludwig Wittgenstein und Rudolf Carnap. Wittgensteins im Ersten Weltkrieg geschriebener "Tractatus logico-philosophicus" (1921) leitete den Neo-Positivismus des (sich auf Mach berufenden) sog. "Wiener Kreises" (Schlick, Neurath, Carnap) ein; seine späteren Arbeiten führten - zusammen mit denjenigen Carnaps - zur "linguistischen Wende", d. h. zur Sprachanalyse (z. B. G. Ryles Untersuchung der "ordinary language" und J. L. Austins "Theorie der Sprechakte" der 50er Jahre). Linguistische Weiterentwicklungen boten P. F. Strawson und Noam Chomsky, in die Richtung der Logik Willard van Orman Quine.

 

Ein Seitenzweig bildet die Falsifikationstheorie von K. R.Popper (1934), die in den 60er Jahren als "Kritischer Rationalismus" (Hans Albert) popularisiert, von Imre Lakatos verfeinert wurde. Besonders kritisiert wurde er von Paul K. Feyerabend.

 

Systemdenken

 

Das in den 30er und 40er Jahren entstandene Systemdenken fächerte sich unter anderem in Systemanalyse und Operations Research, Kybernetik und Informationstheorie, Entscheidungstheorie und Kommunikationstheorie, Friedens- und Zukunftsforschung und Planungswissenschaften auf.

Dass das Systemdenken ein „ganzheitliches Denken“ sei, hatten manche seiner Wortführer immer wieder behauptet …

 

 

(Zusammengestellt aus einigen Gruppen von Notizen des Jahres 1988)

 



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