Home Die "Kultur der Armut"

 

Oscar Lewis: La Vida. Econ-Verlag, Düsseldorf und Wien. 1971 (engl. 1966).

 

 

Ende 1970 starb in einer Klinik in New York der Anthropologe Oscar Lewis, 56jährig. Weltweites Ansehen brachten ihm die Forschungsberichte "Life in a Mexican Village" (1951), "Five Families" (1959), die "Kinder von Sanchez" (deutsch 1963) und "Pedro Martinez" (deutsch 1965). Galten alle diese Untersuchungen den Lebensbedingungen der mexikanischen Bauern und Städter so wird diesmal "eine puertoricanische Familie in der Kultur der Armut: San Juan & New York" minutiös analysiert.

In einem Zweijahresurlaub, den ihm die University of Illinois, wo er seit 1948 lehrte, bewilligte, nahm er in den Slums von San Juan und New York City 6000 Seiten Tonband-Interviews auf, die vom Spanischen ins Englische übertragen werden mussten.

 

Der Lebensstil einer Slum-Familie

 

Die Puertoricaner sind seit 1917 amerikanische Staatsbürger. Von 3 1/2 Millionen leben eine Million in den USA, 600 000 davon in New York City. Ihr Bildungsniveau ist das niedrigste unter allen Volksgruppen in dieser Stadt; Geisteskrankheiten und Tuberkulose sind besonders verbreitet - ein Umstand, der die Armut ihres Heimatlandes widerspiegelt, mit dem sie eine äusserst enge Bindung verknüpft.

 

Lewis verfolgt mit seiner umfangreichen Studie, die nur einen Bruchteil des gigantischen Arbeitsaufwandes sichtbar macht, zwei Ziele: Dem bürgerlichen Leser Einblick in den Lebensstil einer Slum-Familie zu verschaffen und dadurch auch den Lehrern, Sozialfürsorgern, Ärzten und Priestern das Verständnis für die Probleme der "sehr Armen" zu erleichtern, um so "eine vernünftigere Basis für konstruktive Sozialarbeit" zu schaffen.

 

Enorme Anstrengungen zur Hebung des Lebens-, Bildungs- und Gesundheitsstandards in Puerto Rico wurden unternommen, doch in den städtischen Slums von Gross-San-Juan leben immer noch 90 000 Menschen in erbärmlichsten Verhältnissen.

"Die in diesem Buch gemachten Aufzeichnungen lassen keinen Raum für Selbstgefälligkeiten und Behagen über die vollbrachten Leistungen."

 

Es sprechen hier in einer unpolitischen, direkten und derben Sprache nur Mitglieder einer einzigen, weit verstreuten Familie. Im Gegensatz zur mexikanischen Slumbewohnern "zeigten die Befragten eine abgrundtiefe Unkenntnis der puertoricanischen historischen Gestalten". Die Mutter, Fernanda Fuentes, eine vierzigjährige Negerin, lebt nun mit ihrem sechsten, etwa zwanzigjährigen Mann in einem "alten, farbenprächtigen" Slum von San Juan. Ihre vier Kinder - drei Töchter und ein Sohn, zwischen 19 und 25 Jahren - wurden geboren als sie in freier Ehe mit ihrem ersten Mann Cristobal Rios, einem hellhäutigen Puertoricaner, zusammenlebte.

 

Täglich: Sex und Brutalität

 

Ein "zügelloses Dasein" wird geschildert, inspiriert vorwiegend von körperlichen Funktionen genitaler und analer Art: Sex als wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens. Man könnte daraus schliessen, dass es neben den Naturwissenschaften, die behaupten, die - nebst Mathematik, Musik und Sport - einzige auf der ganzen Welt verständliche Sprache zu sprechen, noch eine andere solche gibt: die Variationen des Sexuellen, der Erniedrigung und Brutalität.

 

Fernanda und ihre vier Kinder haben insgesamt 20 Ehen geführt; 17 davon waren frei und drei legal. Alle Frauen waren als Prostituierte tätig gewesen, und zwar erst nachdem sie drei, vier resp. fünf Kinder gehabt hatten. Keine der 16 Hauptpersonen ist jedoch rauschgiftsüchtig, Alkoholiker, professioneller Dieb oder kriminell. Es könnte also noch schlimmer sein.

 

Dies einige wenige Punkte aus der ungemein dichten, einfühlenden und hochwissenschaftlichen 50seitigen Einleitung. Was nachher kommt, die 620 Seiten Protokolle, verschafft dem Leser Herzbeklemmung, kalten Schweiss und Tränen.

 

Wer "Recht und Ordnung" auf sein Panier geschrieben hat, wer "sexuelle Befreiung" in die Welt hinausschreit, müsste das lesen. Was diese Aufzeichnungen wiedergeben, soll keine Vorurteile rechtfertigen. Wir dürfen aber die Scheusslichkeiten nicht leugnen, meint Lewis. "Soziale Pathologie" offenbart nun einmal

"Familienspaltung, Gewalt, primitives Leben, Mangel an Liebe, Bildung und ärztlicher Hilfe - unglaubliche Entbehrungen, deren Auswirkungen nicht in einer einzigen Generation beseitigt werden können".

 

Leben ohne Konflikte

 

Die puertoricanischen Slumbewohner sprechen eine Mischung von Spanisch und Englisch, hervorgerufen durch die Übernahme englischer Lehnwörter aus den Erfahrungen in New York. Die Freude am Leben, vorab an Sex wird getragen von einem starken Bedürfnis nach Unterhaltung, Tanz, Musik und Spass, neuen Erfahrungen durch Geselligkeit und Abenteuern.

Diese Slumbewohner "haben einen ausdrucksvollen Lebensstil, schätzen die Tat höher als die vernünftige Überlegung, Selbstentfaltung mehr als Selbstbeschränkung, Vergnügen mehr als Leistungsfähigkeit, Geldausgeben mehr als Sparen, persönliche Loyalität mehr als unpersönliche Gerechtigkeit".

Sie sind "weniger zurückhaltend, depressiv, kontrolliert und stabil", haben fast keine inneren Konflikte und Schuldgefühle. Sie akzeptieren sich selbst fraglos und sind ausserordentlich impulsiv, so dass Wutausbrüche an der Tagesordnung sind.

 

Die Verhältnisse sind fast matriarchalisch: Die Frauen fordern mehr als sie geben, ergreifen die Initiative und sind den Männern gegenüber aggressiv; sie führen den Haushalt und sind Familienoberhaupt. Alle Kinder und Enkel Fernandas leiden unter Asthma und sind zum Teil verkrüppelt, was wenig verwundert, wenn die Mutter während der Schwangerschaft sich mit den Mätressen des Ehemannes prügelte, in den Bauch getreten wurde, Chinintabletten schluckte und die kleinen Kinder dann so mit Stockschlägen traktiert wurden, dass in einem Fall die Hüfte aus dem Gelenk sprang.

 

"Ich habe meine Kinder immer geschlagen. Ich peitschte ihre Füsse mit einem Gürtel oder was grade bei der Hand war, so dass sie nicht fortlaufen konnten. Ich habe meine Kinder erzogen, wie auch ich erzogen worden bin ... So muss man Kinder erziehen, sie ausschimpfen, damit sie nicht frech zu ihren Eltern sind, ihnen zur rechten Zeit zu essen geben, sie regelmässig baden. Und sie strafen, schlagen, nur so bekommen sie Respekt"

sagt Fernanda.

 

Respekt wovor?

 

Was sagte doch Tschechow? "Du fragst mich: Was ist das Leben? Das ist, als fragtest Du: Was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, und mehr weiss man nicht davon."

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 10./11. Juli 1971

 


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