Wir brauchen ein neues Welt- und Menschenbild
Aus Christian Lutz: Die Kommunikationsgesellschaft. Ein Leitbild für die Politik und Wirtschaft Westeuropas. Rüschlikon: Gottlieb Duttweiler Institut 1986.
Wir brauchen ein neues Welt- und Menschenbild.
Im bisherigen (Newtonschen) Weltbild stand ein Universum aus objektiv wahrnehmbaren Teilen, deren Zusammenwirken durch eherne Gesetze bestimmt wird, einem (seit Descartes) auf seinen rational-analytischen Verstand reduzierten Subjekt gegenüber. Der rationale Mensch kann nun die mechanistische Objektwelt im Rahmen ihrer Gesetzmässigkeiten hemmungslos manipulieren und ausbeuten. Rückwirkungen auf den Ausbeuter werden nicht beachtet. Als Arbeitskraft wie als Konsument steht der Mensch, selber als Mechanismus betrachtet, "im Dienst der von ihm geschaffenen Maschine" (39).
Das neue Weltbild rückt nun an die Stelle mechanistischer Modelle "die Vorstellung von komplexen dynamischen Systemen, die sich in ständiger Interaktion untereinander weiterentwickeln. Der Mensch ist Teil dieser systemischen Prozesse. In der Beziehung zu seiner menschlichen und sonstigen Umwelt gestaltet er diese mit und wird selbst von ihr mitgestaltet" (41). In der Wirklichkeit haben wir es nämlich immer mit einer Vielzahl von komplex vernetzten Ursachen und Wirkungen zu tun; Wirkungen werden selber wieder zu Ursachen, die unter anderem auch auf die menschlichen Handlungen zurückwirken (40).
Echte wirtschaftliche Rationalität bedeutete Symbiose mit der sozialen wie physischen Umwelt statt Ausbeutung (41).
Ein ganzheitlicher Mensch: Der „Lebensunternehmer“
Das dazugehörige Menschenbild ist das "eines ganzheitlichen, lebens- und umweltzugewandten Menschen, der sein Leben eigenständig gestaltet mit der ihm eigenen Verantwortungsfähigkeit und -freudigkeit, aber auch in Kenntnis der eigenen und fremden Bedürfnisse, Potentiale und Begrenzungen" (42).
Lutz prägt für diesen neuen Menschen den Begriff "Lebensunternehmer". Das ist eine Art Wundertier, kein intellektuell überzüchtetes und seelisch verkrüppeltes Elitetier zwar, sondern eine unverklemmte Persönlichkeit, deren Kern die Dialogfähigkeit ist.
"Dialogfähig ist, wer seiner selbst sicher ist, wer in sich selbst nichts unter den Teppich gekehrt hat, und wer infolgedessen allen Forderungen und Umwelt mit grosser Offenheit, Gelassenheit, aber auch Bereitschaft zur Empathie zu begegnen mag. In der offenen Auseinandersetzung bis hin zur Identifizierung mit den Interessen der gesellschaftlichen und physischen Umwelt erfährt auch die eigene Persönlichkeit immer wieder neue Entwicklungen und Anreicherungen" (48).
Das Entfaltungsmilieu: Die Kommunikationsgesellschaft
Dieses ideale Wesen kann sein Potential freilich nur in einem speziellen Milieu entfalten: in der Kommunikationsgesellschaft (49). Sie ist dem Industriezeitalter sowohl punkto Lebensqualität als auch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit überlegen. Warum? Unter der Voraussetzung kommunikationsfähiger und -bedürftiger Menschen basiert sie auf folgenden Prinzipien:
1. "Befehlshierarchien werden durch Kommunikationsnetze ersetzt" (47). Die Koordination einer Vielzahl von sich autonom entwickelnden Zellen erfolgt durch Kommunikation wie das in den selbstorganisierenden komplexen dynamischen Systemen der Biologie oder auf dem "Markt" schon längst funktioniert (50). Das Marktprinzip müsste also auch in den Unternehmen und in der Politik zum Spielen gebracht werden - wenn es da nur nicht die Machtfrage gäbe.
2. "Kommunikationstätigkeiten aller Art repräsentieren nach den Dienstleistungs- und dem Informationssektor die nächste Welle des Beschäftigungswachstums, da sie schwer rationalisierbar und gleichzeitig Hauptquelle künftiger Steigerungen menschlicher Lebensqualität sind" (47).
Damit werden mehrere Fliegen auf einen Schlag geschlagen:
a) Die meisten Menschen werden frei für Kommunikationsleistungen, welche den Informationen einen Sinn (= Nutzen, Wert) geben, z. B. "in Tätigkeiten der persönlichen Dienstleistungen – vom Psychoanalytiker bis zum Friseur -, in kreativen Tätigkeiten - vom Künstler bis zum Koch - sowie in informierenden, orientierenden, beratenden und lehrenden Berufen - vom Journalisten bis zum Kindergärtner" (54), ferner in Pflegeberufen, "besonders Tätigkeiten, die der vorsorglichen, ganzheitlichen Gesundheitspflege dienen" (54).
b) Das ist ein echtes Wertschöpfungspotential (50) , da die Güter des Grundbedarfs (Urproduktion, Industrie) sowohl billiger werden als auch weniger nachgefragt werden (54).
c) Es bedeutet auch eine Erhöhung der Qualität der Arbeit, weil sie in Netzwerken eigenständig gestaltet werden kann.
d) Dem Wachstum der Kommunikationsleistungen sind kaum Grenzen gesetzt, da es vom Einsatz begrenzter natürlicher (d. h. physischer) Ressourcen abgekoppelt ist (47). Ein haushälterischer Umgang mit knappen Ressourcen ist möglich (55).
e) Der Bedarf an solchen Leistungen wächst überproportional, denn alle High-Tech-Anlagen der Informationstechnik können nur die Routineinformationstätigkeiten, die strukturierbare Informationsverarbeitung übernehmen. "Was bleibt, sind jene Vorgänge, die ein Zusammenwirken zwischen Eingehen auf menschliche Regungen, konzeptuellem Gestalten, komplexen Bewegungsabläufen, spontaner Anpassung an neue Wahrnehmungen, intuitivem Einbeziehen von Lebenserfahrungen, Lernen und freiem Assoziieren erfordern" (53).
f) In einer solchen Kommunikationsgesellschaft kann jeder zu einer vielfältigen, auf seine persönlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten zugeschnittenen, "massgeschneiderten" Lebensgestaltung gelangen.
g Das durch höhere subjektive Lebensqualität freigesetzte Produktivitätspotential steigert die Wettbewerbsfähigkeit auch der Wirtschaft.
Sollte eine solche Ausrichtung nicht erfolgen, käme es zu einer blossen Informationsgesellschaft, welche mit Hilfe ihrer "explosiv zunehmenden Informationsverarbeitungskapazitäten" bloss Informationsmüll produziert (51).
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