Home Russische "Agrarbiologie"

 

Shores A. Medwedjew: Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapituliert. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1971; Taschenbuchausgabe bei dtv. München, 1974 (engl. 1969).

 

 

Unter Verwendung des russischen Originaltextes hat Peter A. Weidner diese Chronik politisch gesteuerter Forschung aus dem Amerikanischen (1969) übersetzt.

 

Der Kämpfer gegen diesen Lyssenkoismus, Medwedjew, Leiter des Laboratoriums am Institut für medizinische Strahlenbiologie in Obninsk (110 Km von Moskau entfernt), Spezialist für genetische und molekulare Probleme der Entwicklung und des Alterns (Gerontologie), wurde bekanntlich im Mai 1970 verhaftet. Die Proteste seiner Kollegen waren jedoch stark genug, seine Freilassung zu erwirken.

Andrej Amalrik hatte weniger Glück; er wurde im November 1970 zu drei Jahren Arbeitslager unter verschärften Bedingungen verurteilt. Der Cellist Rostropowitsch, wie Medwedjew ein enger Freund Alexander Solschenizyns, des "verhinderten" Nobelpreisträgers, musste Anfang 1971 alle seine Auslandtourneen absagen. Schliesslich ist im Oktober 1970 der ehemalige Leiter der Kunstgalerie der sowjetischen Akademiestadt Akadamgorodok, Makarenko, zu acht Jahren verschärfter Zwangsarbeit verurteilt worden - wegen "Gemäldefälschung" und natürlich Verfassung antisowjetischer Schriften.

 

Medwedjew begann mit seiner Chronik 1961. 1968 gelangte ein Mikrofilm des maschinengeschriebenen Exemplars auf inoffiziellem Weg an den kalifornischen Genetikprofessor Isadore Michael Lerner, der es auf 300 Seiten kürzte und übersetzte. Im Vorwort des 1969 in New York und London (Columbia University Press) erschienenen Berichts weist er auf Parallelen zu Orwells „1984“ hin und nennt die Affäre eine "phantastische Episode in der Geschichte der Menschheit".

 

Er übertreibt nicht. Gerade in ihrer Schlichtheit ist diese Tatsachen-Story phantastisch, allerdings in einem negativen Sinn: Nichts da von sozialistischer Gerechtigkeit, Beachtung der Bürgerrechte und kollektiver Führung, sondern bürokratischer Unterdrückungsapparat, persönliche Allein- und Willkürherrschaft und Persönlichkeitskult.

 

Das begann mit Stalin und heftigen Kontroversen in der Wissenschaft in den dreissiger Jahren, T. D. Lyssenko, in jungen Jahren Erbsenforscher in Aserbeidschan und Leiter der Abteilung für "Jarowisation" am Institut für Pflanzenzucht und Genetik in Odessa, warf 1935/36 die klassische Vererbungstheorie, die in der ganzen Welt anerkannt wurde, über den Haufen. Er leugnete die Existenz von Genen und damit von Mutationen - ohne experimentelle Untermauerung. Nach einer ausgedehnten Hetze gegen die "reaktionären Idealisten" und "Volksfeinde" fanden 1938 die ersten Verhaftungen von Mitgliedern der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften der UdSSR, die gegen Lyssenkos Unsinn Stellung bezogen hatten, statt. Im August 1940 wurde N. I. Wawilow, Akademie-Mitglied, Direktor des All-Unions-Instituts für Pflanzenzüchtung und profiliertester Gegner Lyssenkos, während einer Forschungsexpedition in der westlichen Ukraine von NKWD-Mitgliedern verhaftet. Ebenso seine engsten Mitarbeiter, von denen drei bedeutende Wissenschafter später im Gefängnis den Tod fanden.

 

Wawilow wurde zum Tode verurteilt; nach einer Umwandlung dieses Urteils in eine zehnjährige Gefängnisstrafe starb er Anfang 1943 an Unterernährung, kurz nachdem er von der Royal Society in London zum auswärtigen Mitglied gewählt worden war. Zwölfeinhalb Jahre später wurde er rehabilitiert.

 

In der Auseinandersetzung mit dem Agrarbiologen W. R. Wiljams, der das unergiebige "Fruchtwechselsystem mit Futtergrasfolge" propagierte, gab es ebenfalls Verhaftungen wegen "Sabotage", die oft mit dem Tod in einem Lager endeten. 1948 fanden eine erneute Welle von Entlassungen und Degradierungen qualifiziertester Biologen sowie Schliessungen von Laboratorien statt. Denn trotz aller Demagogie war Lyssenkos Stellung ins Wanken geraten. Als Gegenzug wärmte er deshalb die Klassenbiologie wieder auf, welche prinzipielle Gegensätze zwischen sozialistischen und kapitalistischen Biologen aufzustellen versucht.

 

Texte und Bücher der letzteren, der "rassistischen Mendelisten-Morganisten", mussten demgemäss vernichtet werden. Die genetische Forschung wurde gestoppt und die Beschäftigung mit ihr zum Staatsverbrechen erklärt. Verhaftungen und Beschattungen griffen um sich. Dafür nahm der Lyssenko-Kult gewaltige Ausmasse an. Von Umformungen von Kohl in gelbe Rüben, Kielern in Fichten, Viren in Bakterien wurde "wissenschaftlich" berichtet.

 

Nach 1953 besserte sich die Situation langsam.1958 erfolgten wiederum Entlassungen und Ersetzungen durch Lyssenko-Anhänger: Die sowjetische Biologie lag weiter darnieder. Lyssenkos zahlreiche "Supermethoden" hatten der Landwirtschaft keine Ertragserhöhungen gebracht, im Gegenteil, die Ernten brachten nicht einmal soviel Korn ein wie man ausgesät hatte.

 

"Man kann über die praktischen Gesichtspunkte des Lyssenkoismus in der Nachkriegszeit nicht ohne bittere Ironie schreiben", klagt Medwedjew. Vertuschungen und "Beweise" sowie Lobpreisungen von offensichtlichen Irrtümern nahmen groteske Formen an. Mehr als 40 Seiten sind der genauen Schilderung dieser verheerenden "Agrarbiologie" gewidmet. Sie verdienen - wie überhaupt der ganze Bericht - das Interesse aller westlichen Biologen und Agronomen, werden doch trotz aller "Politik" detailliert hochwissenschaftliche Fragenkomplexe angerührt.

 

Mit dem Sturz Chruschtschows, der Lyssenko tatkräftig unterstützt hatte, wendete sich das Blatt, nachdem unter dem Eindruck der gewaltigen (westlichen) Entdeckungen in der Molekularbiologie bereits 1963 die Akademie der Wissenschaften Lyssenkos Arbeiten und Institute unter die Lupe genommen hatte und 1963 Medwedjew und andere mit kritischen Äusserungen an die Öffentlichkeit getreten waren. Der Wiederaufbau der Genetik, wenigstens im Rahmen der medizinischen Wissenschaften, konnte ebenfalls bereits 1963 an die Hand genommen werden.

 

Ab Oktober 1964 wurde Lyssenko endlich als Pseudowissenschafter und übler Dogmatiker gebrandmarkt; eine Flut von genetischen Artikeln erschien in allen Zeitungen, "Prawda" und "Iswestija" inbegriffen. Lyssenko schwieg. Anfang 1965 wurde er seines Postens als Direktor des Instituts für Genetik enthoben. Die Biologen-Ausbildung wurde reformiert und Mendel zu seinem 100. Geburtstag [der Publikation seiner Kreuzungsversuche mit Erbsenpflanzen] (1965) rehabilitiert.

 

Noch aber ist der Lyssenkoismus, der nun unter dem Namen "Mitschurinische Biologie" auftritt, nicht tot. Zu viele Anhänger besetzen noch hohe Ämter in Verwaltung und Forschung. Er bleibt aber ein "Schandfleck in unserer Geschichte", der nach Ansicht Medwedjews nur möglich wurde, weil in jeder Wissenschaft Extremismus und Fanatismus vorkommen können.

Monopolistische und starr zentralistische Staatssysteme sowie Personenkult vermögen diesen Irrlehren zu weiter Verbreitung zu verhelfen. Die langdauernde - dreissig Jahre - Isolierung der sowjetischen Wissenschafter von der internationalen Geisteswelt trug das ihre dazu bei.

 

Wie eingangs erwähnt, schloss Medwedjew seine Chronik 1967 ab. Sie erschien 1969 im Westen. Er wurde am 26. Mai 1970 zwangsweise ohne Angaben von Gründen in eine Nervenheilanstalt eingeliefert und erst nach Protesten unter anderem von Solschenizyn und dem Atomphysiker Sacharow wieder entlassen. (Ein zweihundertseitiger Bericht darüber, den er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Roy verfasste, erschien in der Edition Praeger, München, unter dem Titel: „Sie sind ein psychiatrischer Fall, Genosse“, 1972):

 

Immer noch in Gefängnissen, Lagern oder Nervenheilanstalten befinden sich - unter vielen andern – die Schriftstellerin Natalja Gorbanewskaja (1968 verhaftet, im Februar 1972 freigelassen), Generalmajor Pjotr Grigorenko (1969 festgenommen), der Schriftsteller Wladimir Bukowski (im Januar 1972 zur 12 Jahren verurteilt) und der Historiker Pjotr Jakir (mehrfach verhaftet).

 

Erschienen - ohne den letzten Absatz - unter dem Titel „Lyssenko contra ‚Abschaum des wissenschaftlichen Estabishments’“ in den Basler Nachrichten, 6. Juni 1971

 


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