Home Die verwirrende Fülle der Kultur

 

Rudolf Pannwitz: Das Werk des Menschen. Verlag Ernst Klett, Stuttgart, 1968.

 

 

"Von der Jugend und zumal den Halbwüchsigen ist nichts zu erwarten. Ihre Verherrlichung und Verhätschelung hat sich schwer gerächt. Man hat in der Folge sie tatsächlich preisgegeben: durch die unverhüllte Selbstpreisgabe und da man sie des Heims beraubte und auf die Strasse gehen liess."

So aktuell und zutreffend (?) schreibt der fünfundachtzigjährige Dichter und Kulturphilosoph Rudolf Pannwitz [1881-1969] in der "Synthese meines Alters", in seinem "Gesamtwerk der Philosophie und Wissenschaft", das 1961 unter dem Titel "Der Aufbau der Natur" die vorhandene Welt und nun in dem vorliegenden voluminösen Band, "Das Werk des Menschen" (Verlag Ernst Klett, Stuttgart), die geschaffene Welt abhandelt. Ein Buch, das sich dem interessierten Leser nur unter grossen Mühen erschliesst, um ihn dann zusehends zu fesseln.

 

In 391 numerierten Absätzen - zusammengefasst in einem 65seitigen Inhaltsverzeichnis - bringt er ein wahrlich erstaunlich reiches Nachschlagewerk über unsere Kultur.

"Der Mensch nun wirkt an sich selber, indem er sich und seine Gemeinschaften ausbildet und umgestaltet, an seiner Umgebung, die er nach seinem Sinne formt und ordnet, und in freier Hervorbringung seines Geistes. All das bezeichnen wir als seine Kultur ... Das Werk des Menschen ist nicht das Gleiche wie die Werke des Menschen. Es handelt von der Schöpfung als von der eines Schöpfers."

 

Mit weit ausholender Gebärde und staunenswerter Belesenheit stellt Pannwitz Wesentliches von den Anfängen der Menschheit über die gesamte Breite menschlichen Tuns vor, ungeheuer dicht, gedrängt und doch beinahe überbordend. Von allem ist die Rede, von Computern und Technik ebenso wie von Staat und Politik, vom "Wert" (Ethos, Moral und ihre Geschichte in der östlichen Welt und im Christentum) wie vom "Überschreitenden" ('Mythos, Mysterien, Kult und Religion) - "Der Mythos ist eine Seinsweise, die sich schöpferisch entfaltet, die Religion ein Geschaffenes."

 

Grossen Raum widmet er der Kunst - als "Erbin der Ureinheit" -, vor allem Musik und Malerei. Eingehend lässt er sich auf das Wort, die Sprache und die Sprachen ein:

"Nicht der erste Ursprung doch die elektrische Ladung des Wortes ist magischer Impuls"; die Sprache "ist die allverbindend gewordene umfassendste und oberste Schöpfung des Menschen: Überorgan eines gemeinschaftlichen Allbewusstseins und die von ihm aufgebaute Weltenwelt."

 

Das Hauptanliegen von Pannwitz ist die Dichtung. Sie ist ein "Uraltertum", und ihre Ebene "ist die höchste".

"Die wahre Dichtung leitet profetisch vorverwirklichend und als geheimnistiefe Verwandlerin aus der Gegenwart in die Zukunft ... Die Gegenwart ist die Latenz der Zukunft und die geballte Potenz der Vergangenheit: komplexe Historie."

Hier ist er mit vollem und ganzem Herzen, Wissen und Können dabei und vermag in meisterhafter Weise den Leser in seinen Bann zu ziehen und zu faszinieren; diese Literaturgeschichte ist ebenso spannend wie detailliert und umfassend.

 

In den Schlussbetrachtungen über den Menschen, die Menschheit und den Kosmos kommt er zur Einsicht: "Die Krise der Kultur wurde zu der des Menschen selbst." Rettung erwartet er einerseits von der "Selbstregulierung des Geschichtsprozesses", anderseits von der "Individuation" (Selbstwerdung) des Einzelnen, der "Reintegration des Menschen": "Nur das Positive, Produktive, aus dem Zentrum des Ich sich Entfaltende hat Wert."

Er vertritt den "Humanismus" als "Überreligion", die "ein geordneter Schatz des Wissens und ein Heiligtum der Werte" und deren "Hauptwerk der Mensch selbst" ist. Das höchste Leben ist das "Leben als Kunst".

 

Die scharfsinnige Kulturkritik - auch wenn aus der Blickrichtung der Zeit etwa vor dem Ersten Weltkrieg - ist durchaus überzeugend, und die Ausblicke und Mahnungen entbehren nicht der Konsequenz, da seine tiefen Gedanken getragen sind vom Grundgesetz des Rhythmus oder der Dynamik der Polarität und Kreisbewegung (Ellipse, Kreislauf, Spirale). Grösste Beachtung schenkt er neben vielen anderen Goethe, Stefan George und C. G. Jung.

 

Es ist ein ausserordentlich schwer zu lesendes und zu verstehendes Buch, gefügt aus abgehackten, unverknüpften, äusserst kurzen Sätzen und beladen mit Fremdwörtern (vor allem vom Griechischen her), manchen heute ungewohnten Ausdrücken, archaischen Wendungen. An die merkwürdige Weglassung von Kommata und die Schreibweise "Triumf", "Sfäre "gewöhnt man sich.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 3. Juli 1968

 


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