Home Das falsche Selbstbild der Bauern

 

Zu Hermann .Priebe: Landwirtschaft in der Welt von morgen. .Econ Verlag, Düsseldorf und Wien, 1970.

 

 

Gedanken ganz grundsätzlicher Art macht sich Hermann Priebe über die Krise der Landwirtschaft:

„Eine der grossen Aufgaben der siebziger Jahre wird es sein, die Konzeption einer integrierten Agrarstruktur- und Regionalpolitik zu entwickeln und neue Ziele zur Erschliessung der ländlichen Räume für eine Gesellschaft zu setzen, die mit wachsenden technischen und wirtschaftlichen Mitteln, mit viel Freizeit und veränderten Bedürfnissen nach einer sinnvollen Gestaltung ihres Daseins sucht.

Ein Hinausgreifen über die traditionellen Fachgebiete ist dafür ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit den überkommenen Vorstellungen,"

 

Ohne historische Einleitung geht Priebe geradewegs auf die Fragwürdigkeit der Statistik und der "irreführenden Globalvergleiche" in der Bundesrepublik Deutschland los und bringt eine Fülle von sehr interessanten Angaben und Klarstellungen.

Die Öffentlichkeit hat wie der Bauer selbst ein völlig falsches Bild von der Landwirtschaft. Die "Existenzgefährdung" wird systematisch etwa von den Verbänden übertrieben. Die Behauptung dem Rückstandes bäuerlicher Familien hinsichtlich Einkommen und Lebensweise ist eindeutig zu widerlegen. Die Fehleinschätzungen auch von Bauern selbst sind grotesk; man kann geradezu von "Bewusstseinsspaltung" sprechen.

 

Der Staat muss nicht als Sündenbock herhalten, denn Kernproblem ist nach Priebe

"das fehlende Verständnis für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und einfachste Vorgänge einer Marktwirtschaft".

 

Um den Ursachen auf den Grund zu gehen, ist ein ganz kurzer Rückblick dennoch unumgänglich, Die Analyse der geistigen Hintergründe der Agrarpolitik und der gefällten wirtschaftspolitischen Entscheidungen kann die heutige Situation erklären und zur Orientierung der Entscheidungen für morgen helfen.

 

Vor 150 Jahren konnten Dreiviertel der Erwerbstätigen in mühevoller Arbeit kaum genügend Nahrung für alle schaffen. Heute versorgen weniger als zehn Prozent (in Italien und Frankreich allerdings noch 25, resp. 17 %; davon 70 - 90 % selbständige Landwirte und ihre Angehörigen) auf geringerer Fläche eine grössere Bevölkerung vielseitiger.

Die Denktradition von zwei Jahrhunderten, die Dialektik zwischen liberalem Fortschritt und konservativer Beharrung lebt jedoch heute noch fort. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren vor allem biologische Fortschritte zu verzeichnen mittels Züchtung und Düngung.

 

Seither „sind nun grössere Strukturveränderungen in der Landwirtschaft eingetreten als vorher in einem Jahrhundert". Die Bruttobodenproduktion stieg. auf das Doppelte, die Arbeitsproduktivität auf mehr als das Vierfache, also mehr als in jedem anderen Wirtschaftsbereich. Die Mechanisierung: trug wesentlich dazu bei. Die bisher arbeitsintensive Landwirtschaft wurde kapitalintensiv: Das Aktivkapital verzehnfachte sich. Von 1945 bis 1965 war die Landwirtschaft

"Nutzniesser besonderer, einmaliger Bedingungen ... Inzwischen hat sich der Horizont verdüstert: Die Wachstumsraten der Nachfrage bleiben mehr und mehr hinter denen der Produktion zurück."

Der Markt ist gefüllt, deshalb muss eine Marktorientierung eintreten, damit die "Produktivitätssteigerung ohne Erhöhung des Produktionsvolumens“ stattfinden kann. Das Bewusstsein dieser Sachlage ist bei Bauern und Politikern noch kaum vorhanden.

 

Die 'EWG war ein Versuch, ganz unterschiedliche Systeme und Interessen auf einen Nenner zu bringen.

"Die gestellten Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Der Marktausgleich im Innern ist nicht erreicht worden, und die EWG ist mit riesen Schritten dabei, auf agrarischen Gebiet ein autarker Wirtschaftsblock zu werden, der den Welthandel durch Überschüsse bedroht."

Ebenso wurde der anfänglich gute Gemeinschaftsgeist "durch den Krämerstandpunkt angeblich nationaler Interessen zerstört". Frankreich und die Bundesregierung haben massgeblichen Anteil daran, lautete doch das Bekenntnis eines deutschen Politikers: "Wir können es uns einfach nicht leisten, Agrarpolitik mit dem ökonomischen Verstande zu betreiben".

Dass technische Experten beigezogen wurden, half wenig.

"Vieles hat zusammengewirkt, dass die Agrarpolitik mehr zum Spannungsfeld (ja zur Sackgasse) als zum Bindeglied der Europäischen Integration geworden ist."

 

Besorgniserregend sind die EWG-Agrarüberschüsse. Lagerung und Austausch des "Butterberges" verschlingen jährlich eine Milliarde DM. Deutsche Verbraucher tragen rund 8 Milliarden DM jährlich an indirekte Subventionen bei. Dennoch muss Priebe feststellen:

"Nirgends ist die "Einkommensverteilung so ungünstig wie in der Landwirtschaft, nirgends werden alle staatlichen Hilfen so sehr in umgekehrten Verhältnis zur Bedürftigkeit gegeben wie hier."

Durch die verfehlte Preisgarantiepolitik werden die wirtschaftlich schwachen Betriebe weiter geschwächt und die "Reichen reicher" gemacht.

 

Ganz ähnliche Probleme stellen sich auch in der "Entwicklungshilfe".

 

Die in unkritischen Verallgemeinerungen bestehenden Agrarmemoranden der EWG und Deutschlands könnten eher eine neue

Erzeugungsschlacht der europäischen Landwirtschaft einleiten, als zu einem Marktgleichgewicht führen. Der Versuch, Fehler in der Markt- und Preispolitik durch die Strukturpolitik ausgleichen zu wollen, lässt eher eine Zunahme der agrarpolitischen Spannungen befürchten."

 

Priebe unterlässt es nicht, sein mit ausserordentlicher Sachkenntnis und genauesten Belegen gemaltes düsteres Bild durch Lösungsvorschläge aufzuhellen. Hierzu gehören

  • Verminderung der Produktionskapazitäten,
  • Abkehr vom Vollerwerbsbetrieb,
  • die Kombination von selbständiger und kooperativer Arbeit,
  • kombinierte Berufe (Landwirte im Nebenberuf und mit Zuerwerb),
  • unternehmerische Leistung in einem dynamischen und auf Marktgleichgewicht abzielenden Management sowie
  • regional differenzierte Betrachtung und Raumerschliessung.

 

Es gibt

"in der Entwicklung ländlicher Räume nur einen Weg nach vorn: eine voll arbeitsteilige, möglichst vielseitige Wirtschaftsstruktur und damit soziale Eingliederung der Landwirte in eine stärkere regionale Bevölkerung".

Die Region muss also nicht nur durch die Förderung der Landwirtschaft, sondern ebensosehr der gewerblichen Wirtschaft und anderer Erwerbsquellen, mithin gesamtwirtschaftlich und infrastrukturell erschlossen werden.

 

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag für eine "geplante Zersiedelung", das heisst für die "Bildung neuer Wirtschaftsschwerpunkte im ländlichen Raum". Die bebaubaren Flächen hiefür sind reichlich vorhanden. Da die Agrarproduktion ebene und tiefgründige Böden braucht, stehen die "landschaftlich reizvolleren Lagen" am Hang für Wohnungen, Gärten und Parks zur Verfügung.

 

Vordringlich bei alledem ist, dass die Strukturpolitik behutsam und flexibel vorgeht und nie die Möglichkeit ausschliesst, dass sich die Problemstellungen morgen schon ändern.

 

Nicht zuletzt sind auch viele psychologische Momente zu berücksichtigen. Noch wichtiger als jeder perfektionistische Gesamtplan ist die Erhaltung der Anpassungsfähigkeit der Landwirtschaft.

 

Priebe ist kein jugendlicher Kritikaster oder Revoluzzer. Er ist 1907 geboren und seit 1958 ordentlicher Professor und Institutsdirektor Im Frankfurt am Main sowie im Vorstand mehrerer Gesellschaften [er starb 1997]. Seine beinahe als Handbuch zu betrachtende und leicht lesbare 450seitige Studie stellt die Landwirtschaft nicht nur in einen betriebs- und volkswirtschaftlichen, sondern auch in den gesundheits- und siedlungs-,  ja überhaupt gesellschaftspolitischen Rahmen, was ihr nebst höchster Aktualität auch politische Brisanz verleiht.

Es ist ein Paradebeispiel für klug und klar vorgetragene wissenschaftliche Überlegungen, Ergebnisse und Alternativen. Gewiss eines der anregendsten Bücher der letzten Jahre, empfiehlt es sich auch zur Lektüre für schweizerische Politiker, Verbandsfunktionäre und Bauern - nicht zuletzt im Hinblick auf den geplanten Beitritt zur EWG.

 

(geschrieben im Dezember 1970 - von den Basler Nachrichten nicht gebracht)

 


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