Home Studentisches Rebellieren

 

Geschrieben im Sommer 1968

 

So kurz die aufgebauschte Publizität studentischen Rebellierens in Ost und West erst dauert, sie hängt einem bereits fast wieder zum Halse heraus (soviel Wesentlicheres und Wertvolleres wird "totgeschwiegen"):

 

Die befehdete Standardisierung einer satten und doch "kranken Gesellschaft" hat im stereotypen "internationalen" Gleichmarsch der von wenigen monotonen Parolen (voller Fremdwörter und angeblicher Wissenschaftlichkeit) und erschreckenden Tätlichkeiten begleiteten Opposition keinen ernsthaften Gegner erhalten.

Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass die gegenwärtigen Unruhen, ein Vierteljahrhundert - eine "Generation" - nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zumindest teilweise mit dem Abflauen des Konjunkturaufschwungs zusammenfallen.

 

Mangelndes geschichtliches Bewusstsein

 

Auf die Gefahr hin, einseitig zu verallgemeinern, muss dennoch bemerkt werden: Erstaunlich ist die schrankenlose Impertinenz der "Erstmaligkeit" und damit das mangelnde geschichtliche Bewusstsein einiger anarchistischer Revolutionäre. Wie wenn heute zum erstenmal jemand gegen - von vielen zugegebene - krasse Missstände aufträte. Der flammende Ruf nach einer veränderten, neuen, besseren Welt, Humanität, Freiheit, friedlicher Zusammenarbeit, Ehrlichkeit und Anstand erschallte schon seit einigen Jahrtausenden und auch in unserem Jahrhundert jahrein-jahraus. Zu allen Zeiten gab es besorgte Kritiker, Skeptiker und Kämpfer gegen Apparat, System oder Bürokratie, gegen Macht, Autorität und Willkür. Die Welt war noch nie ein Paradies. (Kam es zur Revolution, ging ein paar Jahre später meist alles wieder im alten Trott.)

 

Früher war die Auflehnung gegen das Althergebrachte und die Forderung nach Niederreissen (der Fassade) bis auf den Grund ein legitimes (Vor)recht der Pubertierenden und wachen Gymnasiasten - jetzt hat sich das um 10 bis 15 Jahre verschoben. Nächtens krakeelt und Unfug gestiftet hat in seiner Jugend mancher. Dass aber gerade Phil.Ier - bis zum Doktoranden - die doch um Geistes- und Kulturgeschichte, um soziale Strukturen und psychologische Gesetzmässigkeit wissen sollten, derart tolpatschig "Katalysatoren" der korrumpierten Gesellschaft - manchmal gerade bedauernswert naiv (deshalb gerne belächelt) - spielen wollen, zeugt doch nur von einer versteckten tiefliegenden und weitgreifenden Hilflosigkeit, ja Haltlosigkeit.

 

Aufbauende Gedanken fehlen

 

Klar, die traditionellen Werte sind von der - nun ratlosen - älteren Generation zerstört worden, und Elternhaus, Schule und Kirche hatten keine neuen anzubieten. Doch muss sich die Verzweiflung darüber irn Werfen von Pflastersteinen, Errichten von Barrikaden, Anzünden von Autos und Besetzen von Gebäuden entladen?

Dass derart zielloses und von unklaren, verwirrten Ideen getragenes Randalieren auch noch Mitbestimmung (nicht nur Vernehmlassung) in Universität und Parlament fordert, ist ein bisschen anmassend.

Beim Leserbrief von W., wie auch sonst, springt das Fehlen jeglichen weiterführenden aufbauenden Gedankens in die Augen. Mit "Bestandesaufnahmen, Aufdecken und Publikmachen" ist das von kaum jemandem bestrittene enorm komplexe Problem keineswegs zu lösen. Zu Reformen braucht es, sollen sie Bestand haben, viel Zeit, ernsthafte Überlegung und harte Arbeit. In der Gemeinschaft zählt allein die Leistung.

 

Doch den ungeduldigen Progressiven ist es um Provokation, Auffallen zu tun. Wenn sie noch "Diskussion" - wo jeder auf seinem Standpunkt beharrt - wünschen, so sind sie dazu meist nicht imstande, weil niemand sie das gelehrt hat und sie die Sache nicht selbst intensiv durchdacht haben, sondern nur davon gelesen und nicht verdaut. So geraten sie ins Schwitzen und. gar Schreien, wo doch das "Gespräch" die einzig fruchtbare Begegnung unter Menschen wäre.

 

Missachtung elementarster Psychologie

 

Verblüffend ist die fehlende eigene Erfahrung der enorm langsamen Wandlungsfähigkeit des Menschen, also die Missachtung elementarster Psychologie, siehe die Fassungslosigkeit der französischen Umstürzler (z.B. Cohn-Bendit) über den neuerlichen Wahlerfolg der Gaullisten - auf deren Versagen die Unruhen zurückgehen.

 

Auch die schweizerischen Fortschrittlichen sehen nicht, dass sie, indem sie alles zugleich wollen, mit dem Eintopf von Vietnam-Krieg, Dritter Welt, Rassismus, Marxismus, Mao, freier Liebe, Ausserparlamentarischer Opposition, Machtkonzentrationen, Hochschulreform und Vereintem Europa den Bürger nur vertäuben. Man kann nicht gleichzeitig gegen die gesamte Gesellschafts-Maschinerie, so morsch sie sein mag, Sturm laufen, sie verdammen und dann erwarten, dass das Volk (das den Anliegen der Intellektuellen ohnehin nicht immer wohlgesinnt ist) den fahnen- und plakatetragenden Umgestaltern Kredite für mehr Dozenten, Hörsäle, Laboratorien und Mensen bewillige.

 

Mit Zwang und Anrempeleien lässt sich sehr wenig erreichen, und wie in der Physik ruft Druck einen gleichgrossen Gegendruck (Gewalt) hervor.

 

Was ist der Erfolg der Strassenschlachten? Die Währungskrisen, Finanzknappheiten und Zunahme von Kriminalität und Gewalttaten gehen einher mit Streiks, welche Wirtschaft und Staaten schwächen, dergestalt, dass beim "Wiederaufbau" zuerst das Geld und dann erst der Geist kommt. Ob das etwa in Frankreich beabsichtigt war?

 

Der unausgegorene Konformismus des Protests, des Revoltierens übt einen gefährlichen, faszinierenden Sog aus; hoffentlich steigert er die Schweizer Jugend nicht zu derselben Arroganz hin. (Bis jetzt übte sie lobenswert "brave" Zurückhaltung.)

 

In Unzulänglichkeiten leben

 

In Unzulänglichkeiten, Konflikten und weltweiter Betroffenheit zu leben und dennoch Humor zu behalten ist schwer; auch manchem resignierenden Älteren, unerfüllt und unbefriedigt, scheint die Welt sinnentleert. Um „Mass und Mitte" und die Sprengung der Fesseln von Knechtschaft, Ausbeutung, Restauration und Reaktion ist schon lange gerungen worden, und das Fatale ist immer, dass alles mindestens von zwei Seiten betrachtet werden kann.

Es ist auch nicht abzustreiten, dass für viele heutige Vorkommnisse keine Präzedenzfälle in der Geschichte aufzufinden sind, vor allem in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht - doch der Mensch ist - leider - immer der alte geblieben und wird es wohl noch eine zeitlang bleiben.

 

Selbstbesinnung üben und das Naheliegendste tun

 

Was gibt es da zu tun? Jeder Einzelne hat sich auf sich selbst zu besinnen und schlicht nach bestem Können und mit bewusster Verantwortung das Vordringlichste und ihm Naheliegendste zu tun und sich eines Vertrauens würdig zu erweisen, so dass der Lernende von den Lehrenden auch für erwachsen und voll genommen werden kann.

 

Das ergäbe vorerst eine Beschränkung auf die Studienreform. Dann erst, nach dieser gemeinsamen Tat aller Studenten in gepflegter Zusammenarbeit mit den Dozenten, liesse sich eine wirkungsvolle Erneuerung der übrigen Widerwärtigkeiten in Angriff nehmen.

 

Solange die demonstrierenden Studenten, die sich einfach selbst ein bisschen zu wichtig nehmen, aber auf der ganzen Strecke genau dieselben Fehler begehen, die sie den "Alten" vorwerfen, ist ihr Kredit nicht gross - so berechtigt sie ihre Finger auf offen zutage liegende faule Stellen legen. Wünschen wir, dass sich das Mephisto-Wort auch heute noch bewahrheite: "Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein."

 



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