Home Tuotilo (ca. 850-913)

                     Ein kleines Charakterbild

 

 

Die Schweiz hat über mehr als ein Jahrtausend immer wieder grosse Geister hervorgebracht. Einer der ersten war Tuotilo aus dem Kloster St. Gallen.

 

Aktive Bischofssitze und Klöster

 

Die Anfänge der Schweizer Geistesgeschichte kann man mit dem 4. und 5. Jahrhundert nach Christus ansetzen, als die ersten Bischofssitze im Welschland, in Aventicum und in Chur entstanden. Bald nach 500 traten ihnen Klöster zur Seite (z. B. St. Maurice), und in Chur wurde die Priesterschule St. Luzi eingerichtet. Ein Schüler derselben, Johannes, wurde um 620 Bischof von Konstanz, ein weiterer Schüler, Otmar, hundert Jahre später erster Abt des Klosters St. Gallen.

 

Nach dem Tod Karls des Grossen (814) erlebte das Kloster St. Gallen eine erste Blütezeit, die bis nach der Jahrtausendwende dauerte. Enge Verbindungen bestanden zum Kloster Reichenau (Klosterplan von 820; Walafrid Strabo 809-849) und zum Bistum Konstanz (Salomon III.), aber auch zu Norditalien und Frankreich.

 

Tuotilo

 

Tuotilos Lebenszeit wird von der Forschung auf ca. 850-913 bestimmt. Er stammte aus der alemannischen Ostschweiz. Sein Name könnte von "diet = das Volk" hergeleitet sein, vgl. heute noch Dietegen.

 

Er war wohl schon als Kind als Oblatus des Klosters St. Gallen aufgenommen worden und galt als Schüler der inneren Schule unter den Lehrern Iso und Marcellus. Er amtete als Wirtschaftsverwalter (cellerarius), Mesmer (sacratarius, custos) und später Hospitarius, welch letzterem die Betreuung der Gäste und die Verwaltung von Pfründen oblag. Mehrere Reisen sind von ihm bezeugt.

 

Schon bald nach seinem Tod wurde er als "doctor nobilis et celator" bezeichnet: als erfolgreicher Lehrer und Künstler, insbesondere Reliefbildhauer.

 

Am berühmtesten wurden seine Elfenbeinschnitzereien für das sogenannte "Evangelium longum". Dafür benützte er die Rückseite zweier Schreibtafeln (eines Diptychons), die Karl der Grosse beim Schlafengehen neben sein Bett zu legen pflegte. Ihre Ausmasse betragen 32 x 15 cm. Die Innenseiten waren mit Wachs zum Einritzen von Notizen belegt gewesen.

Aus dem Nachlass Karls des Grossen gelangten sie nach Mainz. Erzbischof Hatto von Mainz - u. a. auch Abt von Reichenau - übergab sie 894 in Konstanz dem dortigen Bischof Salomon, der gleichzeitig Abt von St. Gallen war. Dieser beauftragte Tuotilo mit dem Beschnitzen der Tafeln und Sintram mit dem Schreiben des Evangeliums (285 Seiten). Zwei Initialen (Anfangsbuchstaben) hat der Bischof selbst gemalt und vergoldet.

 

Die Kunstwerke sind heute noch erhalten und werden in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrt. Johannes Duft und Rudolf Schnyder haben sie (1984) eingehend beschrieben. Von den Tafeln wurden 1971-72 im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich Abgüsse hergestellt. 1984/85 waren sie dort in einer Ausstellung zu besichtigen.

 

Eine eingehende Analyse dieser Tafeln führte Ernst Gerhard Rüsch (1953) zur Überzeugung, Tuotilo sei "auch zur originellen und in die Tiefe führenden Gestaltung eines Werkes fähig" gewesen. "Bei allem engen Anschluss an eine selbstverständlich aufgenommene Tradition bekundet er den Willen zur selbständigen Abwandlung überkommener und zur Aufnahme neuer Motive." Er "muss von einer seltenen Weite und Spannkraft des Geistes gewesen sein".

 

Tuotilo schrieb auch "Tropen"; das sind durch Einschaltungen bewirkte Ausschmückungen eines liturgischen Textes. Solche hat er beim Besuch Kaiser Karls III. in St. Gallen 883 zur gesanglichen Aufführung gebracht. Der Kaiser hat ihm weitere Tropen in Auftrag gegeben.

 

Da Tuotilo aber auch von aussergewöhnlichen Körperkräften war, hätte ihn der Kaiser lieber in seinem Gefolge als hinter Klostermauern gesehen, ja er schalt denjenigen, welcher "einen Menschen von solcher Naturanlage zum Mönche gemacht" hatte.

 

Tuotilo war "ein Mensch von Muskelarmen und von allen Gliedern so, wie Fabius die Athleten auszulesen lehrt". Er war beredt und schlagfertig, ein "reisefertiger und weit der Länder und Städte kundiger Mensch", beharrlich und redlich, temperamentvoll und ehrfürchtig, belesen und tief religiös, kurz "in göttlichen und menschlichen Dingen" beschlagen.

 

Der pfiffige Tuotilo „hat den Teufel gefangen“

 

Die wohl bekannteste Szene aus dem Leben dieses "ausserordentlich vielseitigen, urwüchsigen Mönchs und Künstlers" hat uns - wie alles Erwähnte, ausser den Ämtern - Ekkehard IV. (um 1030) geschildert:

 

 

Tuotilo pflegte mit den Mönchen Notker (Balbulus = der Stammler) und Ratpert eine enge Freundschaft: Sie waren "fürwahr ein Herz und eine Seele". Jeder ein grosser Gelehrter und Künstler, waren sie doch unzertrennlich, daher erscheinen sie in den Erzählungen oft gemeinsam, als die drei "Senatoren".

Nicht immer war indessen der klösterliche Friede ungetrübt. Ein Störenfried war Sindolf. Er plagte und schikanierte seine Mitbrüder, wo er konnte. Das machte ihn so missbeliebt, dass er bei jedem Gespräch anderer Mönche fürchten musste, sie redeten über ihn. Also begann er zu lauschen. Als er eines frühen Morgens sein Ohr von aussen an ein Fenster drückte, hinter dem die drei "Senatoren" in der Schreibstube diskutierten, und dies Tuotilo merkte, beschloss dieser, ihm einen Streich zu spielen.

Er schickte den furchtsamen Notker in die Kirche, Ratpert aber veranlasste er flüsternd, eine Peitsche zu holen und um den Chor der Kirche herum hinter Sindolf zu schleichen. "Wenn ich denke, dass du ungefähr da seiest, reisse ich das Fenster auf, ergreife jenen beim Schopf und ziehe ihn fest an mich. Du aber, mein Herzblatt, sei stark und kräftig und schlage ihn mit der Peitsche aus Leibeskräften, und räche Gott in ihm." Dies geschah, und als Sindolf zu brüllen anfing, eilten andere Brüder herbei. Tuotilo versicherte, er habe den Teufel gefangen, welcher im Finstern umherschleiche, suchend, wen er verschlinge, und bat, ihn bei Licht zu untersuchen, damit kund und zu wissen würde, unter wessen Gestalt er sich verhülle. Als dann einige fragten, wo denn Notker und Ratpert (der inzwischen unerkannt weggeschlichen war) sich befänden, antwortete Tuotilo: "Die beiden sind in die Kirche gegangen, wie sie den Teufel kommen hörten, und haben mich mit ihm allein gelassen. O, wisset doch alle, dass ein Engel vom Himmel jenes Scheusal geschlagen hat."

 

Tuotilo wurde vom Volk als Heiliger betrachtet

 

Von späteren Geschlechtern wurde dieser gelehrte Künstler hoch verehrt. Noch nach Jahrhunderten dachte man im Kloster bei der Betrachtung grosser Kunstwerke aus der Vergangenheit in erster Linie an Tuotilo als Urheber.

Im 13. Jahrhundert wurde er vom Volk als Heiliger betrachtet. Bald hiess er "sant Tütel"; daraus wurde "Gütel". Als "S. Gütlen" wurde er noch zur Zeit der Reformation verehrt. Doch überflügelte ihn bald Notker, der 1513 offiziell seliggesprochen worden war.

 

Immerhin beschreibt 1548 Johannes Stumpf in einer Chronik noch ein überraschendes Werk von Tuotilo: "Seiner arbeit werdend noch etliche gar kunstliche astronomische taflen und austeilung des gestirns und himmelslauff, auff mösch (Messing) gar rein gestochen, in der Librarey zu St. Gallen behalten, die ich selbs nie künstlicher gesehen hab."

 

Literatur

 

Ernst Gerhard Rüsch: Tuotilo. Mönch und Künstler. Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte, herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, Bd. 41, 1953, S. 1-89.

Georg Rudolf Zimmermann, jun.: Ratpert, der erste Zürchergelehrte. Ein Lebensbild aus dem neunten Jahrhundert. Basel: Felix Schneider 1878, S. 119-122.

Johannes Duft, Rudolf Schnyder: Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibliothek St. Gallen. Beuron: Beuroner Kunstverlag, Reihe Kult und Kunst, Bd. 7, 1984.

 

Ferner zu Ratpert:

 

Eberhard Url: Das mittelalterliche Geschichtswerk „Casus sancti Galli“. Eine Bestandesaufnahme. 109. Neujahrsblatt, herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen. 1969, S. 1-58 (zuerst teilweise Diss. Univ. Innsbruck 1967).

Peter Stotz: Ardua spes mundi. Studien zu lateinischen Gedichten aus St. Gallen. Bern: Lang 1972.

Peter Osterwalder: Das althochdeutsche Galluslied Ratperts und seine lateinischen Übersetzungen durch Ekkehart IV. Berlin: de Gruyter 1982.

 

Text für ein Weihnachtskärtchen, Dezember 1986

 



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