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Von Dieter Bachmann

 

Am 2. August 1980 hat der Schriftsteller, Zeichner und Wandersmann Arnold Kübler seinen 90. Geburtstag - der rechte Augenblick, seinen «Oeppi» wieder hervorzunehmen.

 

„Tages Anzeiger Magazin“, Nr. 31, 2. August 1980, Seiten 12-15

 

 

dazu einige Links:

 

Arnold Kübler lebte von 1890-1983, siehe:

http://www.bibliomedia.ch/de/autoren/Kuebler_Arnold/306.html

http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D12051.php

 

Umfangreicher Nachlass in der Zürcher Zentralbibliothek:

http://www.zb.uzh.ch/Medien/spezialsammlungen/handschriften/nachlaesse/kueblerarnold.pdf

 

50 Jahre „Du“: Hommage an Arnold Kübler, März 1991

http://www.du-magazin.com/de/magazin/nachbestellungen/detailheft.htm?heftid=32

 

Rezensionen von „Der verhinderte Schauspieler“ (1934):

http://www.nzz.ch/2006/06/10/ku/articlee72m0_1.38245.html

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/leben-ist-sprechen-1386482.html

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/507233/

http://zueri-berlin.blogspot.com/2006/11/zri-berlin-pionier-arnold-kbler.html

 

Rezension von „Sage und schreibe“ (1969):

http://www.crea-cultura.org/Victor_Willi_Kuebler_Si_%20padre.asp

 

Das Gasthaus „Löwen“ in Wiesendangen:

http://www.loewen-wiesendangen.ch/seiten/geschichte.htm

 

 

 

Niederdorf, das Flitter- und Glitzersträsschen, das Zürichs Vergnügungszentrum zu sein behauptet mit ein paar Schummerbars und seinem Publikum aus Strizzis, Rockern, ewiger Bohème, Voyeuren und ein bisschen Halbwelt; ein Hauch von Montmartre, zwinglianisch unterkühlt.

Morgens um acht herrscht propere Leere. Von der Zentralbibliothek herunter durch die Spitalgasse und gegenüber dem «Hirschen» abgebogen - womit schon mindestens zwei Punkte berührt sind, die Arnold Kübler berühren: im Lesesaal der Zentralbibliothek hat er gesessen und gezeichnet, freundlich notiert den Wissens- und Erkenntnisdrang, der die Stätte zu beherrschen scheint; im «Hirschen», als da das Nudelbrett der Kabarettbühne noch benützbar war, in den sechziger Jahren, hat er, der damals Fünfundsiebzigjährige, sein Einmannprogramm gezeigt.

 

Beim «Malatesta» also um die Ecke und zwischen zwei Vitrinen mit modischer Herrenkonfektion durch die Haustür, dann vier Etagen hoch. Wenn man klingelt, ruft es von drinnen vernehmlich Entrez!; die Tür ist offen, und entgegen kommt schon der kleine alte Mann, beschwingt, leichtfüssig in seinen gestrickten Hüttenfinken, in Manchesterhosen, in weichem Hemd mit kleiner Krawatte, darüber eine mächtige, geräumige Strickjacke. Die Hände steckt er in deren Seitentaschen und geht durch den Durchgang neben dem kleinen Schlafzimmer voran ins Arbeits- und Schreibzimmer.

 

Welchen Stuhl hatten Sie das letztemal, fragt er, den Korbstuhl da zwischen den beiden Arbeitstischen oder den Schaukelstuhl zur Rechten? Den Korbstuhl, und damit sitzt man wieder, das Fenster auf die Hinterhöfe im Rücken, eingekeilt zwischen Büchern und Papieren, festgepflanzt sozusagen in Zuhörerstellung, während er bald von seinem Schreibstuhl aufsteht, im freien Raum auf und ab geht, sich dann auch bald einmal vor dem sitzenden Gast aufbaut, beweglich aufbaut, und ihn von oben herab mit freundlichen Erzählungen traktiert. Der alte Oeppi, immer noch mit der Beweglichkeit des Schauspielers und dem zum Witz tendierenden Duktus des Causeurs.

 

Unglaublich, was das immer noch für ein Kobold ist - oder ist es vielleicht so, dass mit dem Alter der Kobold sich nur deutlicher herausschält, wo nun alle äusserliche Bedeutsamkeit überflüssig geworden ist?

Ich kenne Arnold Kübler nicht lange genug, und wer überhaupt kann einen Neunzigjährigen noch überblicken? Am Telefon hatte er das Ansinnen mehrfach abgewehrt, mit ihm sprechen zu wollen, um dann über ihn schreiben zu können. Er sei ein alter Kracher, bei dem es mit dem Gedächtnis zu hapern beginne. Über sein Schreiben könne er nicht sprechen, habe es auch noch nie getan.

«Sie bringed nüüt Gschyds us mir use. Ich bin en alte Chlütteri.»

 

Ein andermal meinte er, was er da alles zu erzählen habe, was alles in diesem Leben zusammengekommen sei, dafür habe es in der Zeitung gar keinen Platz. Als wir ihm ein paar Magazine zusandten, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, stöhnte er beim nächsten Besuch: Zwischen diese Seiten, also da wolle er nicht dazwischen. Warum denn nicht, in aller Welt? Zu viel Reklame! Er habe da einen Steckgrind.

 

Der Besucher auch. Er möchte den unruhigen Gedanken kennenlernen, der in diesem weitausgefältelten Lebenswerk von geschriebenem und gesprochenem Wort, diesen unzähligen Zeichnungen, der langjährigen editorischen Tätigkeit an «Zürcher Illustrierten» und «du» steckt.

 

Ein tänzelnder Geist in einem beweglichen Körper. Unablässig entstehen neue Zeichnungen; da wurde er vor kurzem von einem Bauplatz beim Stadelhofen verjagt, weil er unbefugt skizziert hatte; er hat dann, typisch Kübler, nicht lockergelassen und sich eine Zeichenbewilligung beim zuständigen Architekturbüro verschafft. Und in den letzten Tagen war er wieder in Wiesendangen, seinem Heimatdorf in der Nähe von Winterthur; und wieder ersteht in seinem Skizzenbuch die Landschaft der Jugend, in der regenschweren Melancholie dieses ersoffenen Sommers.

 

Zwanzig Jahre sind es her, seit er dies notiert hat:

«Schöne Erfahrung: das Leben füllt frühere Wortschalen mit Inhalt, Segen ist's, ein alter Kerl werden zu dürfen, von Jahr zu Jahr werden die grossen Wörter der Menschen süsser, voller, saftiger, gleich herbstlichen Früchten.»

Das ist die Sprache eines Lesers, dem Literatur soviel ist wie das Leben, direkte Daseinserfahrung, und Sprache eines Schreibers, der sich ein Leben lang mit Wörtern abgemüht hat (zum Beispiel in der Auseinandersetzung eines Helvetiers mit dem Grossdeutschen).

 

Auch in diesem Bemühen gibt es kein Ende: vor Arnold Kübler liegen auf dem Schreibtisch die grossen Folioblätter, die er von links nach rechts und von oben nach unten ohne den geringsten Rand vollschreibt, in seiner mäandrischen, krakeligen Handschrift - da entsteht nämlich, und darauf war der Besucher nun wirklich nicht gefasst, nach 2100 Seiten der bis 1964 erschienenen autobiographischen «Oeppi»-Romane Oeppi Numero fünf; der Verleger dränge, sagt Arnold Kübler, und das sei ihm in seiner ganzen schriftstellerischen Laufbahn noch nicht passiert.

 

«Oeppi von Wasenwachs» hiess der erste Band von Küblers monumentaler, romanhafter Autobiographie, die einsetzt mit jenem Schock, als der Zwölfjährige die Mutter verliert; dieser erste Band ist 1943 erschienen. Der vierte also 1964; und in seinem Titel, «Oeppi der Narr», stellt Kübler ein Bild für seinen Lebenslauf ins Licht. Der Narr: man darf an Tarot-Karten denken, wo diese Figur den puer aeternus bedeutet, den ewigen Jüngling und also eine Lebenskraft, die sich stetig erneuert; jene Figur, die alles versucht und alles anpackt; jenen Wanderer mit dem Windbeutel auf dem Rücken, der sich vor Lebensluft bläht. Einer, der nicht ist, sondern wird - « Fast vierzig Jahre alt war er werdend geworden», heisst der letzte Satz in «Oeppi der Narr».

 

 

Nein, nein; es geht ihm nun nicht darum, den letzten «Oeppi», der etwa mit dem Jahr 1930 abschliesst, in die Gegenwart weiterzuführen. Das Familienleben will er beschreiben, das von damals, als er eine Frau heiratete, die zwei Kinder in die Ehe brachte, seine «Eva», der er schon in den bisherigen «Oeppi»-Bänden ein Riesen-Zärtlichkeitsdenkmal hingeschrieben hat.

 

Er kehrt also mit Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen und einem Gedächtnis, das für jene Zeiträume durchaus noch funktioniert, noch einmal in die dreissiger Jahre zurück.

«Vor der Aufgabe, zwei Buben zu erziehen, die nicht die eigenen sind, hat man vielfach versagt - ich hatte mir da etwas aufgeladen.»

Der Zeitlupen-Entwicklungsroman, den er da schreibt, dieser immergrüne Arnold, will offenbar keine Nuance seiner biographischen Verschlingungen unbelichtet lassen - was von fern an den Joyceschen Versuch erinnert, mit dem «Ulysses» einen Tag im Leben des Annoncenakquisiteurs Bloom vollständig wiederzugeben.

 

Die ersten drei «Oeppi»-Bände sind vergriffen. Der vierte ist bei Ex Libris noch zu haben. Der Autor, der am fünften schreibt, sagt lachend, er glaube, dass das ganze «Oeppi»-Werk längst vergessen sei. Ein Nachlass zu Lebzeiten, den keiner anrührt? Davon ist etwas wahr: die ersten drei Bände, zwischen 1943 und 1951 erschienen, sind in den Schatten der jüngeren Schweizer Literatur gekommen, jener jungen Schweizer, die zwischen 1950 und 1960 die Szene betraten; Adrien Turel, Max Pulver, Hans Hamo Morgenthaler, Meinrad Inglin, Jakob Bührer, Friedrich Glauser sind Generationskollegen, denen es nicht anders erging. Arnold Kübler ist als Autor in der merkwürdigen Lage, dass man sein Hauptwerk zu Lebzeiten wiederentdecken könnte ...

 

Nun gibt es bei Arnold Kübler, dem alten Mann, nicht den geringsten resignativen Zug zu entdecken. Zwar erzählt er etwas widerstrebend vom Damals – sein Gedächtnis lottere, weil ihn das heute alles nicht mehr interessiere -, aber seine ganze Betriebsamkeit, die literarische und die zeichnerische, zeigt immer noch jenen Aufschwung, den ein schöpferischer Mensch erfährt, wenn er sich von seinem Brottberuf freigemacht hat.

 

Als er Ende der fünfziger Jahre die Redaktion des «du» verliess, da tat er dies unter anderem - denkwürdiger Gegensatz zum verbreiteten Versorgungsdenken -, weil er bei Conzett + Huber nicht pensioniert werden wollte, «ha nöd neimeds wölle blybe, bis me mich pensioniert, ha wölle zeichne, schrybe».

Da war er gegen die Siebzig, und mit Achtzig sägte er dann noch einmal lustvoll an dem Ast, auf dem er sass, indem er sein Haus in Oerlikon auflöste und Hab und Gut unter die Kinder verteilte: «Das niemer mues warte, bis er chann erbe. Mues jetz min Zeis verdiene», sagt er und lobt die AHV und seine Freiheit.

 

Bekannt, geschätzt war er als «du»-Macher, weniger als «Oeppi»-Verfasser; weitere Berühmtheit als geistreicher Kauz und Eigenbrötler fand er erst mit Siebenundsiebzig: als seine geschriebene und gezeichnete Reportage «Paris-Bâle ä pied» erschien. 500 Kilometer zu Fuss in 28 Tagen, in seinem Alter - das gab einen Erfolg, der nicht zuletzt darin beruhte, dass hier ein Senior vorlebte, was alle Jüngeren gern selbst gemacht hätten.

 

 

Aufbrechen!

Das Buch des Alten ist erfüllt von dieser Taugenichts-Laune:

«Am Wegrand standen die Gräser, hoch, ungemäht noch, der Wind spielte mit ihnen, und sie warfen ihre tanzenden Schatten in immer neuem Wechsel weithin über den Weg vor meinen Schritten. Eine Leichtigkeit bemächtigte sich meiner, wie ich sie lange nicht gekannt hatte, und die alltäglichen Atemzüge wurden Genuss. Freundlich begrüsste ich unterwegs einen anderen Frühaufsteher, .der an einer Haltestelle auf der Strasse den Morgenbus erwartete, und spürte dabei nicht die geringste Versuchung mitzuwarten.»

 

Aufbrechen! Das hat er ja nun immer wieder gelebt und vorgelebt. Als Kind, das vom Dorf Wiesendangen jeden Tag nach Winterthur in die Schule lief. Als Jüngling, der nach Zürich an die Uni ging, Geologie studierte. Nach drei Semestern legte er mit einem Freund ein Zwischensemester in Rom ein - und Rom, die grosse Verwandlerin, machte aus dem Studenten einen Künstler:

Als er nach Zürich zurückkam, gab er dem verdutzten Kristallographieprofessor das Mikroskop zurück und fing an zu zeichnen.

 

«Ich ha i dr Vorläsig nümme chönne zuelose, einfach nümme chönne lose», sagt er heute, immer noch verdutzt, kopfschüttelnd. «Ich hatte ja nicht gewusst, dass Italien so lebensgefährlich ist.»

Atelier im Seefeld, Aktzeichnen, Skizzen, Bildhauerei - und dann eines Abends eine schwedische Dame im Atelier, der er den Unterschied vormacht zwischen jenem Gang, mit dem er in die Uni ging, und dem Gang jetzt zum Atelier. Sie sollten Schauspieler werden, sagt die Dame, und Kübler versenkt seine Statuen beim Zürichhorn und wirft sich auf die Schauspielerei. Schreibt Komödien, von denen die eine, der «Schuster Aiolos», an mehreren Bühnen gespielt wird, geht nach Berlin, wo er als Schauspieler wie als Kneipier einer Bierwirtschaft nur mittleren Erfolg hat. Aber so, wie er sich beim Zeichnen zum ersten Mal selbst gefunden hat, so findet er sich als Schauspieler ein zweites Mal.

 

Aber Kübler ist noch lange nicht bei sich angekommen.

In seinem Buch «Zeichne, Antonio!» sagt er im Zeitraffer, was er in den «Oeppi»-Romanen ausführlich erzählt hat:

«Ein kriegserfahrener Chirurg zersäbelte mir während eines Ferienaufenthalts in Dresden wegen eines Oberlippenfurunkels mein Gesicht so nachdrücklich, dass ich mich auf dem Theater nicht mehr zeigen konnte. Entstellt! Die Bühne verlor mich. Ich kehrte in die Heimat zurück, heiratete eine liebende Frau, die immer noch grosse Stücke auf mich hielt, bewarb mich um die ausgeschriebene Stelle eines Bildzeitungsleiters und erhielt sie.»

 

Aufbruch, Ausfahrt, Fremde, Scheitern und Heimkehr - es wäre das Muster, das seit Kellers «Grünem Heinrich» sich in der schweizerischen Literatur nur zu oft wiederholt hat, hätte Kübler nach diesem Schlag resigniert. Aber das Schreiben und die Verbindung von Zeichnen und Schreiben, die im Alter schliesslich sein eigenster Ausdruck geworden ist, lagen erst noch vor ihm.

 

Er war knapp vierzig, als er die Leitung der «Zürcher Illustrierten» übernahm, fünfzig, als er das «du» in wenigen Wochen auf die Beine stellte, siebenundsechzig, als er die Zeitschrift abgab.

 

In dieser Spanne hat er die vier « Oeppi»-Romane geschrieben, frühmorgens im Zürcher Bahnhofbuffet III. Klasse, an seinem Stammtischchen beschützt von der Serviertochter Babette, die ihm Tinte bereitstellte; kein Kaffeehausliterat, sondern ein Schreibarbeiter, der sich zwischen den Ansprüchen der Familie und denen der Redaktion den Arbeitsfreiraum dieser Morgenstunden herausboxte. Der Schriftsteller im frühmorgendlich tellerklappernden und gläserklirrenden Bahnhofbuffet, das ist bekannt und Anekdote geworden durch seinen eigenen Bericht; was es ihn gekostet hat, das unökonomisch wuchernde Romangebilde der Ökonomie der Zeit abzutrotzen, das hat er nie gesagt.

Zum Klagen ist er nicht begabt, hingegen bewahrt er bis heute ein Zeichen auf, das einen Hinweis gibt auf die Belastung durch so viele Wörter im .Schreiben und im Reden. Auf einem Bücherbord im Niederdorfzimmer steht nämlich ein kleiner Karton, auf dem er, nebst säuberlichem Datum vom 29. XII. 44., mit Farbstift hingemalt hat: « Ich darf heute nicht reden.» Den Karton hat er an manchen Tagen des Monats allen hingehalten, die ihn zu sprechen wünschten, hat kein Telefon entgegengenommen, in der Familie kein Wort gewechselt; und das ist denn das Signal für die Kehrseite des Aufbruchs: den Rückzug auf sich selbst.

 

Ein klein wenig vom grossen Verstummen des Robert Walser gibt es auch bei Arnold Kübler, mit dem er nicht nur das Scheitern in der Fremde und den immer wieder durchbrechenden Wandertrieb teilt, sondern auch die melancholische Abschattung des Schalks, den Hang zur Idylle - bei Walser freilich viel brüchiger und geisterhafter als bei Kübler -, die Kleinmeisterlichkeit, die angenommene Bescheidung ins Schweizerische. Die entsetzliche Einsamkeit eines Walser hat Kübler nicht erleiden müssen; und wo bei jenem dann die Trauer in den dunkelsten Farben durchschlägt, obsiegt bei diesem der wirklichkeitsnahe Witz, ein ganz und gar zürcherischer Realitätssinn.

 

 

Einmischung in den Gang der laufenden Ereignisse.

Konservativ und im Einklang mit dem Zeitgeist während des Zweiten Weltkriegs: es muss doch erstaunen, heute, wie viele schöne Seiten und Nummern das «du» in seinen ersten Jahrgängen (nach 1941) den erhabenen Schweizer Bergen und dem schönen Schweizerland widmete, diese freilich glänzend und kompetent gemachten Nummern über Kühe und Bienen: Ganz abgesehen von der Innigkeit, mit der der erste «Oeppi»-Band die Heimat beschwört, unter dem Zeichen des Verlusts, natürlich.

Geistige Landesverteidigung, nicht martialisch, sondern indem, aus Anhänglichkeit, Treue, die eigenen Werte heraufgerufen werden. Unmittelbar nach dem Krieg aber auch die berühmten Nummern aus dem zerstörten Ausland, das «du» als Organ für beste dokumentarische Photographie und als ein Ort, von dem aus zur Solidarität mit den Opfern, mit allen Opfern aufgerufen wird.

 

Einmischung in den Gang der laufenden Ereignisse: der Redaktor ist dazu verpflichtet, der Kabarettist Arnold Kübler tut das höchst eigenwillig. Er hat in den dreissiger Jahren mit dem «Cornichon» zusammengearbeitet - eines seiner stärksten Dialektlieder, «De Räbehächler», gesungen damals von Heinrich Gretler, stammt aus dieser Zeit -, und als er das «du» verlassen hat, steht er wieder auf der Bühne, nicht irgendwo, sondern in jener Fleischhalle am Limmatquai, die abgerissen werden soll, wogegen sich Kübler mit anderen wehren will: «Ab 7. September 1960 täglich 20.30 - Arnold Kübler, täglich wechselnd, zwei Programme.»

 

«Das Haus der vielen Bogen, einzigartige Form in Zürich, war mitsamt der Hauptwache und ihren klassischen Säulen zum Verkehrshindernis erklärt worden. Verkehr: zeitgenössisches Allerweltswort, vor dessen Tyrannei so ziemlich jedermann in die Knie geht, und von solchem Ansehen, dass man gemeinhin es gar nicht mehr richtig durchdenkt.»

Der Siebzigjährige auf der Seite der jungen; es hat nichts «genützt» («seitdem bin ich mit Zürich zerfallen!»), aber Kübler bleibt im Kontakt mit den Leuten, als «Kabarettist auf der Stör», und auch in Kontakt mit den Jungen: Man sieht ihn auf der Strasse, an Veranstaltungen mit jungen Autoren. Als er vor ein paar Jahren aufgefordert wurde, einen Text für eine Anthologie einzureichen, da spielte seine Erzählung draussen in der Roten Fabrik.

 

Aufbrechen. Der Bericht «Paris-Bâle ä pied» entsteht, und im Auftrag eines Solothurner Privatverlegers schreibt und zeichnet er ein Büchlein über Cognac. Er veröffentlicht den Bericht eines Zürchers über Basel («Das Wagnis»), und er macht ein Buch über ein israelisches Kinderdorf. Die kabarettistischen Texte erscheinen («Sage und schreibe») und ein Band mit Zeichnungen und Texten aus ganz Europa («Verweile doch!»).

 

Küblers unruhiger Geist atmet, im Alter noch einmal befreit, den Duft der Fremde, des Abenteuers ein. «Unterwegs sein ist Gleichnis des Lebens», notiert er in Frankreich.

«Der Mensch ist unterwegs in der Welt, Viele grosse Lehrer der Menschen, grosse Vorbilder bieten uns in solcher Sicht sich dar: Homer, der fahrende Sänger, Zarathustra, der Wanderer durch die Berge, Jesus auch und der cherubinische Wandersmann ... Seinen Lebensweg zu gehen ist jedes Menschen Los und Auftrag, da gibt's keine kunstvollen Erleichterungen. Haben die Grossen mich im verborgenen auf die Strasse gelockt?»

 

Bei genauerem Lesen erkennt man freilich, dass Küblers Unterwegssein sich nährt aus der Sicherheit, beheimatet zu sein. In bezug auf die ungegenständliche Kunst, die «fort von Zeit und Ort ins Unbegrenzte» strebe, hat er von sich gesagt: « Ich hange, stockzürcherisch, am Präzisen, am Beheimateten.» Dieses Heimatliche hat mitunter das Wesen des Idylls.

 

 

Die Welt von Wiesendangen, im «Oeppi» Wasenwachs genannt, wird bei Kübler eine Sprachwelt, in der der Diminutiv spriesst wie auf den Wiesen das Wiesenschaumkraut. Die alemannische Verkleinerungsform auf -lein und die helvetische Tendenz, die Welt als Puppen- oder Zwergenstube zu sehen, treiben da mitunter merkwürdige Blüten.

Eine Lateinstunde:

«Oft lagen sauber herausgeholt aus den dicken Wörterbüchern die Wörtlein da, der Sinn der fremden Wörtlein lag ebenfalls zutage, die einfache Feststellung war leicht zu fassen (...); aber da noch war um die Sätzlein ein Geheimnis, ein Geräusch und Geknacke von Tod, Geistern, Moder und Knochenklappern (...). An diesem Modergerüchlein aber schnupperte die Klasse nicht mit Lust und Schauder, was ging das alte Gestänklein sie an, die eben blühten und wuchsen.»

 

Das Milchbüchlein, das Rauchwölklein, das Zeitungsblättlein, das Trüpplein, das Abschnittlein, das Tröpflein, das Brettlein, das Köpflein - was kann eine solche Wörtleinwelt (sic!), aus wenigen Buchseiten willkürlich zusammengesucht, bedeuten? Macht sich da einer klein in einer Welt, die ihm zu klein ist, passt er sich an? Kuschelt sich der Schreiber mit seinem Sprachgestus unter die warme Decke des Zuhause? Duckt sich die Sprache, anstossvermeidend, unter den niedrigen Plafond der helvetischen Heimatwelt? Wird da verklärt, was einem, dem mit Zwölf die Mutter gestorben ist, gefehlt hat: Nest und Nestwärme?

 

Jedenfalls bedeutet der Diminutiv bei Kübler eine Grenze, auch eine Grenze seiner Wirkungsmöglichkeit. Den «missglücktesten Roman in angestrengt deutscher Sprache» nannte im «General-Anzeiger für Bonn» ein deutscher Rezensent den vierten «Oeppi»; ihm war die «heitere Rührung», mit der Kübler auf den Oeppi zurückblickt, in den falschen Hals geraten.

Begreiflich, wenn man sich vor Augen hält, was 1965 in der deutschen Literatur gängig ist, und verständlich, wenn man im «Oeppi» liest, wie der Schweizer mit den Deutschen so umgeht, wie diese sonst mit Schweizern umgehen: Er nimmt sie nicht ganz ernst. Das Buch handelt ja von jenem Oeppi dem Schauspieler, der sich um ein hohes reines Deutsch bemüht, redlich bemüht - wobei der Autor listig durchblicken lässt, dass die ersehnte Glätte des Bühnendeutsch dem Saft des Helvetischen doch immer wieder unterliegen muss.

 

Küblers Sprache bezieht ihre Spannung aus diesem stets gegenwärtigen Reflex auf den Dialekt; dem entspricht die thematische Verpflichtung ans Hier und jetzt. Das «Beheimatete» ist das «Präzise», doch bedeutet dies zugleich eine Grenze, eine selbstauferlegte:

Arnold Kübler ist ein Schweizer Dichter oder, noch enger, ein Zürcher Dichter geblieben. Küblers Leserschaft ist eine Gemeinde oder Grossfamilie, was sich etwa am Absatz seines «Oeppi der Narr» ausdrückt: 2000 Exemplare durch den Buchhandel gestreut, über 10 000 aber durch die Buchgemeinschaft Ex Libris vertrieben.

 

Das wird, was den gesamtdeutschen Raum betrifft, so bleiben. Was die Schweiz angeht, so bleibt Küblers «Oeppi» noch zu entdecken. Es gibt in diesem Jahrhundert keinen helvetischen Entwicklungsroman von dieser Fülle und diesem Gewicht.

 

Die Wörtleinwelt.

In seiner Dachstube im Niederdorf erweist es sich in unseren von langen Pausen durchlöcherten Gesprächen, dass Arnold Kübler wusste, was er sagte, als er am Telefon meinte, er könne über sein Schreiben nicht sprechen. Darin ist er weniger Intellektueller als Künstler: Er hat es ja gemacht, man kann es nachlesen. Es gibt bei Kübler kein Nachdenken über das Schreiben, sondern nur das Schreiben selbst.

Als ich ihm sage, wie es mir auffällt, dass das schöne Wort «Heiterkeit» so oft bei ihm vorkommt, ruft er erschrocken: «O je!» Warum - o je? Da sagt er: «Devo sött me nöd rede, me sött si haa.»

 

 

Er lacht sein leichtes, wegwerfendes Lachen, sein koboldisches, in dem Heiterkeit mit Melancholie gemischt vorkommt. Wir verabreden uns auf ein Glas, gelegentlich.

Inzwischen schreibt er wohl am «Oeppi» weiter.

 


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