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Spiel - Symbol - Vorstellung

 

"Symbolik" in einem modernen Film

 

Der Film „L’Année dernière à Marienbad“ hatte seine Premiere am 25. Juni 1961 in Paris

Drehbuch und Dialoge: Alain Robbe-Grillet; Regie: Alain Resnais

 

 

Mit dem "nouveau roman" hat sich in der Literatur unvermittelt die Schwierigkeit ergeben, dass die herkömmlichen Begriffe von Allegorie und Symbol nurmehr sehr beschränkt und äusserst vorsichtig angewandt werden können. Die neue Erzähl- und Kompositionstechnik hat sich soweit in die Tiefen der menschlichen Erlebens- und Empfindungswelt hinabgewagt, dass die dort unten geprägten Bilder nun nicht mehr durch das Bewusstsein umschrieben dargestellt werden, sondern gewissermassen selber sprechen, direkt aus ihren tiefen Gründen heraufkommen und sichtbar werden.

 

Für den etwas gehobeneren Sprachgebrauch bedeutet Allegorie die gleichnishafte, rational fassbare Darstellung eines Begriffes in einem Bild, und das Symbol ein Sinnbild, ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen, das wegen seiner Transparenz etwas Höheres (einen Sinngehalt, eine Ganzheit) durchscheinen lässt und durch das in bildhafter Vertiefung beziehungsweise Verdichtung gegebene Einzelne das Allgemeine erschliesst, indem es auf das Gefühl wirkt. Nach solch einfach umrissenen Bildern nun in den Werken des "nouveau roman" zu suchen, wird recht schwer fallen.

 

Ähnlich ist das Problem beim "nouveau film" (der sich übrigens scharf von der Nouvelle Vague abgegrenzt wissen möchte) gelagert. Es ist ja ein Film, der von der Literatur herkommt, wenn auch nicht direkt als Roman-, Erzählungs- oder Theateradaptation, so doch insofern, als nicht mehr Filmschöpfer, sondern Dichter ihre Inspirationen in die filmische Form umzusetzen versuchen. Es sind also nicht routinierte Schreiber, die literarische Vorlagen in Drehbücher umgiessen, indem sie mit Vorliebe bewegte Handlungsabläufe und "bildhafte" Darstellungen übernehmen und in die "Symbolsprache" des Filmes transponieren, sondern es sind Künstler, die ihrem Erleben im Literarischen nun ein filmisches anzugliedern versuchen, sei es über den Weg eines bereits geschriebenen Werkes, das sie selber umschreiben, oder sei es, dass sie ohne Zwischenstufe gerade ein Drehbuch verfassen. (- Allerdings überlassen sie die endgültige Umsetzung in die Filmform einem Regisseur; sie sind also nicht etwa das Pendant zu einem Filmkünstler, der seine Drehbücher selber schreibt. -)

 

In dieser Hinsicht scheint mir der geglückteste und bis anhin einzige gelungene Versuch "L'Année dernière à Marienbad" zu sein. Dieses aus einer noch selten so intensiven Zusammenarbeit zwischen einem Schriftsteller (Alain Robbe-Grillet) und einem Regisseur (Alain Resnais) hervorgegangene Werk bedeutet, mehr als das ihm vorausgegangene "Hiroshima, mon amour" und die ihm nachfolgende "Muriel", in seiner stilistischen Vollkommenheit und Geschlossenheit einen Wendepunkt in der Entwicklung des Films, etwas beinahe grundlegend Neues, das aber in seinem Gelingen zur Einmaligkeit verdammt scheint; die Schwelle in ein Neuland wurde überschritten und dieses gleichzeitig mit solcher Perfektion und Beherrschung exploriert, dass man sich daneben höchstens noch Ähnliches vorstellen kann, nicht aber etwas, das darüberhinausweisen könnte; einsam steht es in seiner Art.

 

Schon das führt uns geradewegs zur "Symbolik"; der ganze Film ist bereits ein Symbol: für nichts mehr und nichts Geringeres als das Leben. Wenn Goethe sagt, "alles, was geschieht ist Symbol, und indem es sich selbst vollkommen darstellt, deutet es auf das Übrige", so gilt das auch hier; in der ganzen Anlage dreht sich der Film immer um dasselbe, um das Leben, wie man es auffassen könnte, oder wie es der Dichter auffasst. Bereits der Beginn des Dialoges weist eindrücklich darauf hin: "Une fois de plus - je m'avance, le long de ces couloirs, à travers ces salons, ces galeries, dans cette construction – silencieux, déserts, surchargés d'un décor sombre et froid de boiseries, de stuc ...".

Ist das nicht ein "Bild" für die endlosen und gleichmüssigen Wiederholungen in unserem Leben, für das immerwiederkehrende Schreiten und oft auch Irren durch dieselben Regionen, nur allzubekannt, einmal erfüllt mit dumpfem Gemurmel oder undeutlichem Flüstern, einmal gespensterhaft leer und kahl, kalt, so dass Angst aufzusteigen beginnt, das Grauen darüber, dass man eingeschlossen ist in diesem goldenen Käfig (bestehend aus einem immensen Gebäude mit umliegendem, geometrisch angelegten Garten), aus dem kein Entrinnen möglich ist und worin man glaubt, sich nicht verirren zu können und man sich dann doch sogleich verliert ... Manchmal ist Tag, der einen fahlen Schein in die Salons und Korridore wirft, manchmal Nacht voll Düsternis und Unheimlichkeit; grelles Licht wechselt mit schummerigen Schatten ab, und die Zeit scheint stillzustehen oder überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein; eine andere Zeit tut sich auf. "Und diese geistige Zeit ist genau das, was uns interessiert, mit ihren Seltsamkeiten, ihren Löchern, ihrer Zudringlichkeit, ihren dunkeln Winkeln, weil es die Zeit unseres Erlebens, unseres Lebens ist", sagt Alain Robbe-Grillet.

 

Dass diese vielschichtige Darstellung menschlichen Denkens und Empfindens sich nicht mehr mit den "klassischen" Mitteln der Rückblende und des Kommentars bewerkstelligen lässt, scheint einleuchtend. Und doch geht Alain Robbe-Grillet von der Auffassung aus, dass eben doch gerade der Film ein besonders geeignetes Ausdruckmittel dafür sei, weil er in Bildern Geschehensabläufe zeigt und nicht nur Bezüge, wie es die Literatur zu leisten vermag. "Und was sind denn im Ganzen gesehen diese Bilder?" fragt er und gibt die Antwort darauf selber: "Es sind Vorstellungen; und eine solche, wenn sie genügend lebendig ist, ist immer Gegenwart. Die Erinnerungen, die heraufsteigen, Zukunftsplane ... sind wie ein innerer Film, der fortlaufend in uns abrollt, so dass wir unsere Umgebung völlig vergessen können, zwar nur in gewissen Augenblicken, dann wieder mit allen Sinnen sie bewusst wahrnehmen."

 

So ist also "L'Année dernière" auf grosse Strecken ein innerer Film, mit all den Unschärfen und Rätselhaftigkeiten, welche die Vorstellung eben mit sich bringt. Die Entscheidung über die Wichtigkeit dessen, was nun wirklicher sei, die äussere Erscheinungswelt oder die innere, ist dabei gar nicht vonnöten, denn wesentlich und damit wirklicher ist jeweils das, was sich den Sinnen der in Frage stehenden Person gerade darbietet: Realität oder Vorstellung.

Es ist aber zuzugeben, dass Alain Robbe-Grillet das Gewicht etwas auf die Seite der Vorstellungsbilder verlagert, doch darf ihm dies nicht zum Vorwurf gemacht werden, da der vorliegende Film nämlich auch noch gleichzeitig einen innern Film des Autors darstellt (indem er ja seine Vorstellungen vom Leben sichtbar zu machen versucht), ganz abgesehen davon, dass auch bei andern Menschen die Vorstellungswelt (wenn auch meist sich erschöpfend in Erinnerungen oder Zukunftsträumen) gegenüber der konkreten Erscheinungswelt den Vorrang einnimmt, und auch diese innere Welt sich doch letztlich auch wieder auf Ereignisse und Wahrnehmungen aus der äussern abstützt oder sogar dadurch begründet wird.

 

Hier nun noch von Symbolen sprechen zu wollen, scheint unangebracht. Wenn ich im Folgenden gleichwohl so tue, als ob, dann nur um der Vereinfachung willen. Alain Robbe-Grillet sagt dazu selbst: "Der ganze Film ist eigentlich die Geschichte einer Verführung (Überredung): es handelt sich um eine Realität, die der Held durch seine eigene Vorstellung (Vision), durch sein Wort schafft - und gerade das kann uns der Film besonders gut zeigen, da er, als Kunstwerk, mit Formen Realität schafft." Und weiter, jetzt im Bezug auf den vorliegenden Film: "Es gibt kein letztes Jahr, und Marienbad findet sich auf keiner Karte mehr. Diese Vorgänge hier haben genausowenig Realität wie der Unbekannte X ausserhalb des Momentes, in dem sie mit genügender Kraft vorgestellt werden; und wenn dieses Geschehen oder X schliesslich den Sieg davontragen, sind sie ganz einfach Gegenwart geworden, wie wenn sie niemals aufgehört hätten, es zu sein."

 

Den äussern Rahmen bildet also das Gefängnis des Hotels beziehungsweise Schlosses, wo die Leute Gäste sind, einen Erholungsaufenthalt geniessen, sich ausruhen. Nur ganz nebenbei werden Geschäfte getätigt, wird gehandelt; Politik und Wissenschaft sind ferngehalten, man ergeht sich in den Gängen, die nirgendwohin führen und das Einzige, das man eifrig, neben Theater- und Konzertbesuchen, betreibt, ist das Spiel, sei es Domino, Bridge oder Schach. Das Leben ist also nichts anderes als ein Spiel? In seiner allerletzten Vereinfachung "symbolisiert" durch das einfache, kurze mathematische Kombinationsspiel Nim. Derjenige, der das Spiel nicht kennt, verliert. immer. Wer aber um die Spielregeln weiss, und das sind nur wenige Auserwählte, vermag zu sagen: "Je peux perdre - mais je gagne toujours".

 

Einfacher und beklemmender geht es nicht mehr. Und in dieses fatalistische Schicksal ergeben sich die Eingeschlossenen; sie flüstern ängstlich oder plaudern, unbeteiligt und mit müden Gesten, gesellen sich zu ständig wechselnden Gruppen, tanzen, trinken und schweigen, finden keine Beziehung zueinander. Nur selten sieht man in den Garten hinaus, wenn aber, dann ist man geblendet von der schreienden Kälte dort draussen; es fröstelt allüberall, trotz der überreichen Dekorationen und überladenen Verzierungen.

Und Angst macht sich breit, die sich in einem erlösenden Schrei endlich verliert und einer Hoffnung Platz macht: in diese Welt der Starrheit und genau eingehaltenen Konventionen, des trägen Gleichmasses in äusserer Ordnung und Vornehmheit bricht etwas ein, was man mit Liebe bezeichnen könnte. Ein kleines Fensterchen des Kerkers könnte sich öffnen; ein zartes Geflecht von Vergangenheit, die gar nie war und auch noch nicht vorbei ist, breitet sich zögernd aus; wäre ein Entrinnen möglich? Da kommt das bange Warten, das Bitten um Aufschub, die Furcht vor der Entscheidung, sich aus der Geborgenheit lösen zu müssen, die doch keine ist, denn man lebt zwar miteinander, aber "côté à côté, comme deux cercueils placés côté à côté sous la terre d'un jardin figé lui-meme ...".

 

Dennoch versucht sich Alain Robbe-Grillet in einem zuversichtlichen Schluss: Der Unbekannte, der drängte und überredete, hat die sich wehrende Frau einem Manne weggelockt, der vielleicht ihr Ehegefährte ist; sie finden zusammen, "comme si c'était depuis toujours", aber das Weitere bleibt im Ungewissen, der Park nimmt sie auf, Nacht verschluckt sie, wer weiss, ob sie bereits beginnen, sich zu verirren?

Des Unbekannten Hartnäckigkeit im Schaffen einer Vergangenheit und seine Überredungskunst, sie als Gegenwart lebendig zu machen, haben zwar den Sieg davongetragen, nachdem er ein Labyrinth von falschen Wegen, Seitenpfaden und Abzweigungen, von Scheitern und Wiederbeginnen durchmessen hat - aber wird ihm nicht ein weiteres warten?

 

So entlässt uns Alain Robbe-Grillet mit Nachdenklichkeit aber auch Ratlosigkeit - wie dies das Leben auch manchmal tut -, und nicht umsonst wird diesem Dichter nachgesagt, er versuche die Wege menschlicher Erfahrung mit nahezu laboratoriumshafter Objektivität und ohne persönliche Teilnahme spürbar werden zu lassen in einem experimentell-phänomenologischen "Bericht" nachzuzeichnen.

 

(verfasst Ende September/ Anfang Oktober 1964; erschienen in

„Film + Radio“, 24.10. und 27.11. 1964 sowie in

„Cinema“, Nr. 40, Dezember 1964)

 

 


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