Home Zum Kunstverständnis der Spätromantik

 

Eine Gedichtinterpretation, 5. Juli 1961

 

Eduard Mörike: Auf eine Lampe (1846)

 

„Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du

an leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,

die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.

 

Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand

der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,

schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.

 

Wie reizend alles! Lachend, und ein sanfter Geist

des Ernstes doch ergossen um die ganze Form

ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?

 

Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“

 

 

 

Wie die ganze Person von Mörike selbst ein Spätling der Romantik ist, so zeigt dieses Gedicht in klarer und einprägsamer Art und Weise, wie ein Symbol der Romantik langsam dem Vergessen, dem Verschwinden in der Vergangenheit ausgesetzt ist.

 

Es ist also recht gut möglich, dass Mörike sich selbst mit dieser einst Licht spendenden Lampe identifiziert, welche aber in seiner gegenwärtigen Zeit schon als ungebraucht der Verstaubung anheimfällt. Die einstige Bedeutung dieses kleinen, meisterhaft gestalteten und ornamentierten Kunstwerkes einer Lampe, welche einst als aktiv wirkende, strahlende Kraft, fein verankert die damalige Zeit erhellte, ist verschwunden. Mit Wehmut und auch zugleich glückhaftem Gedenken der Vergangenheit betrachtet er die Erscheinung der entschwundenen Zeit, die zwar noch vor ihm steht, doch für niemanden mehr die geringste Bedeutung hat.

Das Symbol besteht nur noch als Kunstgebilde, und als ein solches tritt es dem Betrachter vor die Augen; als Kunstwerk besitzt es einen unvergänglichen, von der Veraltung nicht zerstörbaren, fortlebenden Wert, als Gegenstand ist es wertlos geworden.

 

Darin besteht seine Existenzberechtigung, sein Vorhandensein in der Gegenwart; auch wenn die Bedeutung verblasst, der Wert des als künstlerisches Wesen Geschaffenen bleibt.

Das sagt die abschliessende, abrundende letzte Zeile des Gedichts: Ein Kunstwerk hat die nicht wegzudenkende Eigenschaft, dass es von einem ästhetisch reinen Gehalt erfüllt ist, eine Schönheit ausstrahlt, die, wenn auch unbeachtet und vergessen, unverrückbar in ihm ist und durch den Lauf der Zeiten nicht aus ihm gelöst werden kann. Das Kunstgebilde kann nur bestehen, wenn es etwas in sich trägt, was sein Wesen vom nur Materialistischen und Gegenständlichen abhebt.

 

Greifen wir die mögliche Annahme, dass Mörike sich selbst als diese Lampe betrachtet, auf, so will der Schluss des Gedichts besagen, dass er, wenn auch nicht anerkannt von seinen Zeitgenossen, im Vergessenen, im Ausgestossensein lebend, doch eine Existenzberechtigung hat, für die Gegenwart wie für die Zukunft, nämlich dass er als Künstler ungeachtet alles Äusserlichen wirken darf.

Mörike schafft sich mit diesem Gedicht einen moralischen Halt für sein in der kalten Realität so unglückliches Leben.

 

"...Wer achtet sein?

Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst."

 



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