Home Mit dem Schlafwagen nach Belgrad

 

                     Ein Erlebnisbericht

 

erschienen in den Basler Nachrichten, 16. Juni 1971 unter dem Titel:

“Abfahrt 13.32 – Ankunft 13.22: Im Schlafwagen nach Belgrad“

 

 

(rot = Weglassungen der Redaktion; dafür wurden die Zwischentitel von der Redaktion gesetzt)

 

1340 Kilometer nach Osten zu reisen, um den Westen nochmals zu finden, d. h. 24 Stunden Bahnfahrt, um in einem Ostblockstaat Coca Cola, den "Playboy" und Pro-Dixan-Reklamen anzutreffen, ob das sinnvoll ist? Sicherlich - wenn das Reiseziel Belgrad, seit 1918, resp. 1945 Hauptstadt Jugoslawiens und der Sozialistischen Republik Serbien, ist. Der Überraschungen sind viele.

 

Mit gemischten Gefühlen bestieg ich mittags um halb zwei Uhr in Basel den Zug: welch beängstigende Aussicht, einen ganzen Tag in ein rollendes Kämmerchen eingesperrt zu sein. Doch vorweg sei gesagt, die Stunden verfliessen, im Flug - so langsam die Verbindung Basel-Zürich-Innsbruck-Zagreb-Belgrad sein mag. Der Unterbruch durch einen auf der Tauernstrecke stark gerüttelten Schlaf verkürzt die Zeit enorm.

 

Was war der Anlass? Es galt, den Schlafwagenkurs Basel-Jugoslawien auszuprobieren, der seit dem 21. Mai, dem Inkrafttreten des neuen internationalen Eisenbahnfahrplans, diese Strecke befährt.

"Die zunehmende Beliebtheit Jugoslawiens als Ferienland und die vermehrten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben die staatlichen Jugoslawischen Eisenbahnen veranlasst, moderne Schlafwagen ihrer nationalen Schlaf- und Speisewagengesellschaft (KSR) erstmals auch in der Schweiz einzusetzen",

hiess es in der Einladung der Generaldirektion SBB.

 

Leider hielt es der angemeldete Vertreter der grössten Basler Tageszeitung nicht für nötig, zu erscheinen. So gelangten nur die BN und die "AZ" sowie drei Zürcher Zeitungen in den Genuss der ganz aussergewöhnlichen jugoslawischen Gastfreundschaft.

 

Westlicher Standard

 

Die blauen Schlafwagen, in Jugoslawien hergestellt, entsprechen genau dem westlichen Standard. Sie bieten maximal 30 Personen in zehn Abteilen Platz. Hin- und Rückfahrt kosten eine Einzelperson allein im Abteil gut 600.- Franken. Für drei Personen in einem Abteil reduziert sich der Preis pro Person auf die Hälfte! Die Coupés weisen Betten mit Matratzen, Leintüchern, Wolldecken und bezogenen Kopfkissen auf sowie ein verdecktes Brünnchen. Zwei Toiletten stehen zur Verfügung. Die Wand zwischen zwei Abteilen kann leicht versenkt werden, was sich vor allem bei Gruppenreisen empfiehlt - und lässt einen geräumigen Tagesraum entstehen.

 

Vorderhand fährt noch kein Speisewagen mit. Dafür verkauft der Schlafwagenschaffner zahlreiche Getränke (Wein, Schnaps, Bier, Fruchtsaft, Mineralwasser, Milch, türkischen Kaffee) und bereitet ein Frühstück (1.90 Fr.). Im Herbst soll ein Buffetwagen zur ständigen Begleitung angehängt werden.

 

Man verschläft also auf Hin- und Rückfahrt die reizvollen österreichischen und slowenischen Landschaften. Dafür wird man zwischen Ljubliana und Zagreb (der Hauptstadt Kroatiens) auf 30 Km von einer Dampflokomotive gezogen. Im Herbst soll diese Strecke elektrifiziert sein. Von Ljubliana (Ankunft morgens um halb Fünf) kann man selbstverständlich nach Triest, Pula und Rijeka, von Zagreb (Ankunft morgens 8 Uhr) nach Rijeka, Split und Ploce, kurz an die adriatische Küste, abzweigen.

 

Störche, schwarze Schweine, Pflaumen

 

Viereinhalb Stunden dauert die Fahrt dann die gut 400 km Zagreb-Belgrad durch das fruchtbare, breite und flache Tal der Save, des längsten innerjugoslawischen Flusses. Störche stehen im Sumpf, Hühner und schwarze Schweine tummeln sich in den Höfen hinter den kleinen Häuschen. Kleinparzellig werden Weizen und Mais, Gemüse, Sonnenblumen und Pflaumen angepflanzt. An leichten Anhöhen in der Ferne befinden sich Weinberge. Ab und zu steht ein Zugpferd oder ein Esel im Feld; eine Frau, ein Kind oder ein Mann häckelt, allein in der unermesslichen grünen Weite der Posavina, im pannonischen Tiefland.

 

Gross-Belgrad hat heute doppelt soviel Einwohner als in den neuesten deutschen Lexika angegeben ist, nämlich 1,1 Millionen. Erstaunen weckt das westliche Gesicht dieser Stadt. Ausser der Festung Kalemegdan einer keltischen Gründung an der Mündung der Save in die Donau, von den Römern zur befestigten Gartenstadt und seit dem 7. Jahrhundert von Slawen als Residenz- und Verteidigungsbastion ausgebaut - und einem halben Dutzend Gebäuden im alten balkanischen Stil - mit vorstehendem erstem Stockwerk, erinnernd an die insgesamt 350 jährige, bewegte türkische Herrschaft - sind wenig Zeugen der kriegerischen Vergangenheit Belgrads übriggeblieben.

 

Neo-Belgrad – eine riesige Satellitenstadt

 

Neoklassizistische Bauwerke, stark deutsch beeinflusst, vermischt mit Renaissance und Barock, französisch und russisch veredelt, werden immer mehr von Beton- und Glas-Palästen modernsten Gepräges abgelöst.

 

Schon machen sich die ersten Anzeichen der Industriezivilisation bemerkbar. Überall werden Häuser und riesige Strassenanlagen gebaut. Fabriken verpesten die Luft, und der Stadtverkehr ist gewaltig, Parkplatznot auch hier. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf der sandig-morastigen Fläche am gegenüberliegenden Save-Ufer mit der Errichtung einer grosszügig konzipierten Satellitenstadt, Novi-Beograd, begonnen, Über die ersten Gebäude im plumpen Stil des russischen Sozialistischen Realismus spricht der Reiseführer mit Verachtung in der Stimme. Seit 1948, der "Abwendung" von der UdSSR wurden gigantische "Wohnmaschinen" errichtet, in denen heute sage und schreibe 380 000 Einwohner leben. - Der Fremdenführer unterlässt es übrigens auch nie, auf die absichtlich nicht reparierten Beschädigungen an Denkmälern und Malereien durch Türken und Deutsche hinzuweisen.

 

Zumindest äusserlich ist der Anschluss Belgrads an den Westen vollzogen: Hotelzimmer mit Telephon, Toilette und Bad-- samt Badehaube und Rasieranschluss - zu 20 Franken inklusive Frühstück; Fiats (Eigenbau), grosse Busse, Mercedes und französische Modelle auf den Strassen, grosse Servicestationen, Parkingmeter und Billettautomaten, in den Schaufenstern die neuesten Filmapparate, Tonband- und Hi-Fi-Geräte, Fernseher, Kühltruhen und Elektroherde. Der Kioskaushang zeigt - für unsere heutige Kultur anscheinend unvermeidlich - haufenweise grossformatig nackte Damen in verschiedensten Posen. Als Leser von Sex-Heftchen sah ich nur Frauen, junge und alte.

 

Textilien, Lebensmittel und vielerlei technische Geräte kosten Bruchteile vom Preis, der bei uns bezahlt werden müsste. Ein qualifizierter Maurer verdient 3000 Dinar, also etwa 800 Franken nach dem viel günstigeren Belgrader Kurs. Eine Zweieinhalbzimmerwohnung kostet ihn etwa 80 Franken - weniger als eine Parkgarage bei uns. Ein Fiat 600 mit Steuer und Versicherung kostet 4000 Franken.

 

Englische, deutsche, französische Buchhandlungen

 

Die 20 Universitäts-Abteilungen, verstreut in der engeren Stadt, zählen 50 000 Studenten, wovon eine Menge im Studentenviertel von Neu-Belgrad wohnt. Englische, amerikanische, französische und deutsche Buchhandlungen beleben zusammen mit zahlreichen grossen Warenhäusern, Fachgeschäften, Strassencafes und funkelnd-neuen Fussgänger-Unterführungen - mit Rolltreppen, Restaurants und Läden - das Stadtbild.

 

Viele schöne Ausflüge in die Umgebung sind möglich. Ausserhalb Neu-Belgrads liegt das von den Kreuzfahrern zerstörte und dann zur Festung ausgebaute Zemun. Ein beliebter Ausflugsort der Belgrader ist Topcider mit dem daran anschliessenden ehemals fürstlichen Jagdwald von Kosutnjak. Auch das 75 km von Belgrad entfernte Novi Sad ist umrahmt von lohnenswerten Zielen, vor allem in der bewaldeten, wein- und klosterreichen Fruska Gora. An der Donau locken Strände, Promenaden, Parks und historische Gebäude und eine 100 km lange Schlucht verheisst Abenteuer.

 

Vom Avala-Berg, wo das Denkmal des unbekannten Helden steht, geniesst man, 150 Meter über dem Boden, auf der Plattform oder vom Restaurant des Fernsehturms aus eine weite Rundsicht über Belgrad und die Donau in die Kornkammer nordwestlich und über die sanfte, liebliche mit Buschwerk und Wäldchen durchsetze Hügellandschaft im Süden; im Osten blinkt die Morava. Auf dem Oplenac bei Topola - 85 Km von Belgrad entfernt - steht unweit des Hauses des Führers des ersten serbischen Aufstandes 1804, Karadjordje, das 1933 fertiggestellte marmorne Mausoleum des Hl. Georg; in der krypta die Gräber der serbischen Könige – die heute wenig Sympathie geniessen.

 

Das Essen schliesslich ist - sehr entgegen der weitverbreiteten Meinung - ausgezeichnet, abwechslungsreich und enorm reichhaltig. An den Fleischgerichten - vom Rost - einer Mahlzeit hätten wir hier eine ganze Woche zu essen.

 

Eine Überraschung - abgesehen von den etwa sechs Nachtclubs und den unzähligen heimeligen Spezialitäten-Restaurants mit Zigeunermusik - sei zum Schluss verraten: Neben luftigen und bunten Maxi und Midi tragen die vielen hübschen Jugoslawinnen, deren Arbeitstenü Pullover und kurzer Jupe, seltener ein Kleid oder Hosen, bilden -  auch die Schulmädchen sind, wenigstens auf Exkursionen, nicht in Nationaltrachten uniformiert -, Hot pants.

 

 

Bildlegenden

 

1. Der Markt "Zeleni venac" im Herzen der Altstadt umrahmt von Büro- und Hotelhochhäusern.

 

2. Meistens sind es die Produzenten selbst, nicht Händler, die ihre Produkte auf dem Markt feilbieten. Jeder Kohlkopf, jede Zwiebel, Tomate oder Erdbeere wird von der Kundin mit der Hand gedrückt und ausgewählt.

 

3. Eines der architektonisch und kulturell wertvollsten Gebäude: Das Nationalmuseum am belebten und von Strassencafés umsäumten Platz der Republik. Projektiert unter dem Einfluss des deutschen Akademismus sowie der deutschen und Wiener Sezession, mit viel von der französischen Architektur übernommener Eleganz. Davor das Fürst Michael-Denkmal.

 

4. Eingeklemmt zwischen neueren Wohnbauten und Palästen in Mischstilen (Romanik, Renaissance, Barock) westlichen Gepräges: Eines der wenigen erhaltenen Häuschen aus der Türkenzeit im balkanischen Stil mit vorspringendem ersten Stock.

 

5. Die zielstrebig nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Satellitenstadt Novi Beograd mit heute 380 000 Einwohnern: eine Wohn -und Schlafstadt mit einem kleinen Versorgungs-, Vergnügungs- und Sportzentrum. Im Vordergrund der Lenin-Boulevard.

 

6. Am Rande von Neu-Belgrad. Der markante Akzent des 24stöckigen "Gebäudes der gesellschaftspolitischen Organisationen", des ZK.

 


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