HomeMenschenbilder in Staat und Wirtschaft

 

Vortrag, 17. März 1982

 

 

Die drei wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Strömungen von Ideen, aber auch von Praxis, welche seit 200 Jahren unser Leben bestimmen, sind die liberale, die konservative und die sozialistische, um einmal diese plakativen Etiketten zu gebrauchen. Wir müssen und immer vor Augen halten, dass die Sache im einzelnen viel differenzierter ist.

 

 

 

Sehr vieles, was unsere Auffassungen vom Menschen, von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft heute noch prägt, ist in den Jahren von 1600 bis 1850 von klugen Köpfen ausgedacht worden.

 

 

1. Die Vorbereitung und Entwicklung der Aufklärung resp. des Liberalismus, von etwa 1600 bis 1800

 

Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien können auf drei Weisen begründet werden:

  • anthropologisch, d.h. durch ein Menschenbild,
  • funktional, d.h. durch Angabe von Zwecken oder Aufgaben und
  • autoritativ, d.h. durch die Rückführung auf eine theologische oder moralische Kraft oder auf eine utopische Vision.

 

In einer ganz groben Vereinfachung kann man mit der anthropologischen Begründung den Liberalismus, mit der funktionalen den Sozialismus und mit der autoritären Begründungsweise den Konservatismus verbinden, obwohl selbstverständlich auch im Sozialismus und Konservatismus Menschenbilder wirksam sind. Doch bei der liberalen Linie lässt sich das Menschenbild am deutlichsten verfolgen.

 

Der Liberalismus ist unlöslich mit der Aufklärung verbunden. Er richtet sich gegen Dogmatismus und Autoritätsgläubigkeit und verlangt den freien Menschen, den mündigen Bürger, der sich zum Guten oder zum Richtigen entscheiden kann.

 

Aus der Fülle der nährenden Stränge seien hier die beiden in Oxford geschulten Privatgelehrten und Erzieher Thomas Hobbes und John Locke, die beiden Sachsen Samuel von Pufendorf und Leibniz, die beiden Holländer Huig de Groot und Baruch De Spinoza sowie die beiden französischen Mathematiker und Physiker (und Philosophen) Descartes und Pascal näher betrachtet.

Mag es auch drei- bis fast vierhundert Jahre her sein, manche Argumentation ist uns auch heute noch vertraut.

 

Hugo Grotius: Verträge und Versprechen müssen gehalten werden

 

Nach Huig de Groot (auch Grotius genannt; 1609/25) ist dem Menschen ein natürliches Rechtsgefühl "ins Herzen geschrieben" und er verfügt über einen natürlichen Selbsterhaltungs-, aber auch Geselligkeitstrieb (den appetitus socialis). Mit seiner Vernunft erkennt er, was mit dieser seiner Natur übereinstimmt. Das ist das "Naturrecht" als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens.

Alles Recht beruht auf der Voraussetzung, dass Verträge und Versprechungen gehalten werden müssen, und diese Voraussetzung beruht wiederum auf einem - wenn auch nur stillschweigend geschlossenen - ursprünglichen Vertrag.

Der Staat ist durch den Willen der einzelnen entstanden. Das ist die Volkssouveränität.

Für das Zusammenleben der Staaten braucht es ein Völkerrecht. Ein Krieg zwischen Staaten ist nach den Grundsätzen der Humanität zu führen und nur gerecht, wenn das natürliche oder das auf der Bergpredigt basierende göttliche Recht verletzt worden ist. De Groot trat auch schon für die Handelsfreiheit und die Freiheit der Meere ein.

 

René Descartes: Folge den Gesetzen und beherrsche dich selbst

 

Descartes' (1637/49) Unterscheidung von Seele und Körper ist bekannt. Die Seele ist sich selber im Denken bewusst: "Je pense, donc je suis", denkend bin ich. Das Geistige ist also leichter zu erkennen und gewisser als das Leibliche. Und während in der Sphäre des Körperlichen, des Ausgedehnten, eine rein mechanische Gesetzmässigkeit herrscht, herrscht in der Sphäre des Immateriellen Zweckmässigkeit und Freiheit.

Der Mensch ist von Gott mit Erkenntnis und der Freiheit des Willens begabt. Dank dieser Wahlfreiheit (arbitrii libertas) darf sich der Mensch als "Abbild und Gleichnis Gottes" betrachten. Der Körper ist das passive Prinzip, die Seele das aktive. Ist sie allein tätig, so geschieht das im reinen Denken und Wollen. Aus dem Wechselbezug der Seele zum Körper aber ergeben sich die Passionen, die Leidenschaften, von denen Descartes sechs unterscheidet:

  • Bewunderung und Erstaunen,
  • Liebe und Hass,
  • Freude und Traurigkeit.

Der freie Wille soll diese Affekte beherrschen. Das edelste aller Gefühle ist die geistige Liebe zu Gott (amor intellectualis).

Für das Handeln hat Descartes drei Maximen aufgestellt:

  1. Folge den Gesetzen, Sitten und der Religion deines Landes.
  2. Sei in deinen Handlungen auch auf die Gefahr des Irrtums hin konsequent.
  3. Beherrsche dich selbst und verliere dich nicht an äussere Dinge.

 

Thomas Hobbes: Alle Menschen müssen sich einer übergeordneten Macht verpflichten

 

Descartes hat sich nicht mit dem Staat befasst; das tat erst wieder Hobbes (1642/58). In seinem legendären "Leviathan" (1651) geht er von folgenden Überlegungen aus:

"Die Natur hat die Menschen sowohl hinsichtlich der Körperkräfte wie der Geistesfähigkeiten untereinander gleichmässig begabt; und wenngleich einige mehr Kraft oder Verstand als andere besitzen, so ist der hieraus entstehende Unterschied im ganzen betrachtet dennoch nicht so gross, dass der eine sich diesen oder jenen Vorteil versprechen könnte, welchen der andere nicht auch zu erhoffen berechtigt sei..."

Dennoch geraten die Menschen in Streit. "Mitbewerbung, Verteidigung und Ruhm sind die drei hauptsächlichsten Anlässe, dass die Menschen miteinander uneins werden.

  • Mitbewerbung zielt auf Herrschaft und veranlasst Streit über Gewinn;
  • Verteidigung hat Sicherheit zur Absicht und streitet für Wohlfahrt;
  • Ruhm strebt nach einem guten Namen und bewirkt oft über geringfügige Dinge Uneinigkeiten wie z. B. über ein Wort, ein Lächeln, eine Äusserung und über jeden Beweis der Geringschätzung."

 

Der Mensch ist also dem Menschen ein Feind (homo homini lupus),und damit besteht ein "Krieg aller gegen alle" (bellum ommium contra omnes). Darunter versteht Hobbes nicht den herkömmlichen Krieg, sondern einen Kampf, der so lange dauert, "wie der Vorsatz herrscht, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben". Dieser Zustand ergibt sich aus den menschlichen Leidenschaften, aber er ist unbefriedigend.

Gerade der Selbsterhaltungstrieb und der Wunsch nach einem gesicherten oder gar bequemen Leben fordert die Schaffung einer regulierenden Macht, des Staates. Der Mensch muss also seinen natürlichen Hang zur Freiheit und zur Macht hintanstellen und sich, zusammen mit allen andern, einer übergeordneten Macht verpflichten.

Diese Macht personifiziert Hobbes als das Ungeheuer Leviathan, als "sterblichen Gott, dem allein wir unter dem ewigen Gott Schutz und Frieden verdanken".

Dieser Staat "ist eine durch Vertrag eines jeden mit jedem gegründete Vereinigung aller zu ein und derselben Person. Jeder einzelne sagt gleichsam: Ich gebe mein Recht, über mich selbst zu bestimmen, auf und übertrage es diesem anderen Menschen oder dieser Versammlung - unter der alleinigen Bedingung, dass auch du ihm deine Rechte überantwortest und ihn ebenfalls zu seinen Handlungen ermächtigst."

 

Dieser Staat muss absolute Autorität und sichtbare Macht haben: Der Leviathan trägt das Schwert und den Krummstab. Er bindet die Menschen durch Furcht vor Strafe und zwingt ihn zur Einhaltung der Naturgesetze. "Denn jene Naturgesetze - Gerechtigkeit, Gleichheit, Bescheidenheit, Barmherzigkeit, kurz alles, was in dem Satz zusammengefasst werden könnte: Handle deinem Mitmenschen gegenüber so, wie du wünschest, dass auch an dir gehandelt werde - laufen unseren natürlichen Trieben zuwider."

 

Man hat Hobbes häufig als Propagandisten der Monarchie bezeichnet. Ihm kam es aber gar nicht auf die Monarchie an, denn die "vielen Menschen", welche sich vertraglich gegenseitig binden, können "irgend jemandem oder einer Gruppe von Menschen" das Recht übertragen, sie zu vertreten, also ihr Repräsentant zu sein. Wichtig ist, dass sich alle Menschen "zu einer Person vereinigen".

Dabei muss sich jeder Bürger bei der Wahl des Souveräns, also des einzelnen oder der Versammlung, dem Urteil der Mehrheit fügen. Stimmabstinenz entbindet ihn nicht von der Unterordnung. Dafür erhält er ja auch Schutz, denn das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz. Und dieses Wohl des Volkes besteht darin, "die Menschen ohne Furcht vor feindlichen Einfällen oder den Übergriffen ihrer Mitmenschen ihres Fleisses und des Bodens Früchte geniessen und friedlich für ihren Unterhalt sorgen zu lassen".

 

Blaise Pascal: Wir müssen das Herz sprechen lassen

 

Gegenüber dieser fast mechanistischen Vernunftgläubigkeit ist die Philosophie Pascals (1645/69) aus der Verzweiflung geboren. In unnachahmlichen Worten hat Pascal den Menschen geschildert:

"Welche Chimäre ist also der Mensch! Welche Neuheit, welches Monstrum, welches Chaos, welches Gefäss des Widerspruchs, welches Wunder! Richter aller Dinge, armseliger Erdenwurm; Verwalter der Wahrheit, Kloake der Unsicherheit und des Irrtums: Herrlichkeit und Auswurf des Weltalls.

Die Grösse des Menschen ist gross darin, dass er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt sein Elend nicht.

Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht."

 

Der Mensch ist also für Pascal ein Zwischending zwischen nichts und allem ("un milieu entre rien et tout"), die er beide nicht begreift. Zwar kann er, geleitet durch das "natürliche Licht" und auf Grund klarer Prinzipien zu mathematischer Erkenntnis gelangen.

Aber Freude und Glück, die ein "allen Menschen Gemeinsames" betreffen und mehr wert sind als die "ganze Geometrie selbst", sind der Vernunft verschlossen. Ja, die leiblichen Sinne und die Vernunft betrügen einander. Wir müssen also das Herz sprechen lassen: "Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît pas." Die göttlichen Wahrheiten gelangen "vom Herzen in den Geist". Nur in Gott und im Glauben an Gott und Unsterblichkeit findet der elende und irrende Mensch Ruhe, Frieden und Glück.

 

Baruch de Spinoza: Alle Menschen sollten von der Vernunft geleitet werden

 

Verficht Pascal noch ganz die christliche Gottesvorstellung, so hat Spinoza (1663/77) an den Pantheismus der Stoiker und von Giordano Bruno angeknüpft.

Das reine Denken der Vernunft erkennt Gott oder die Natur (deus sive natura) als Absolutes, als eine einzige Substanz. Alle Einzelwesen, auch die Menschen, sind nur Modi oder Affektionen dieser einen Substanz. Und Denken und Ausdehnung sind die zwei einzigen klar und deutlich erkennbaren Attribute dieses Absoluten.

 

Es ist schwierig, Spinozas Lehre bildhaft verständlich zu machen. Am ehesten könnte man sagen, der Mensch ist ein Teil des Ganzen oder, poetischer, wie eine Welle im Ozean. Als Modus Gottes ist er zugleich denkend und ausgedehnt und er strebt, in seinem Sein zu verharren.

Über die Formen dieses Strebens hat Spinoza eine ganze Lehre von den Affekten und der Tugend entwickelt. Wichtig ist dabei, dass es gilt, sich der Knechtung durch die Affekte zu entziehen. Das geschieht, in dem wir nach der "Leitung der Vernunft" (ex ductu rationis) handeln. Nur soweit die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, sind sie beständig in Übereinstimmung mit der Natur.

 

Das gilt auch im politischen Leben. Es gibt nichts Nützlicheres für den Menschen als den Mitmenschen, wenn dieser gleichfalls von der Vernunft geleitet wird; dann fördern und erhöhen beide gegenseitig ihr wahres Glück und ihre Vollkommenheit.

Wenn nur das Wörtchen wenn nicht wäre! Spinoza klagte einmal: "Jeder lässt sich von seinen Lüsten beherrschen, und Habgier, Ehrsucht, Neid, Zorn usw. nehmen meist den Geist dermassen in Besitz, dass für die Vernunft kein Raum mehr bleibt."

Immerhin gibt es einsichtige Menschen. Und "weil wir unter den Einzeldingen nichts Herrlicheres kennen als einen Menschen, der von der Vernunft geleitet wird, so kann niemand in höherem Grade zeigen, wieviel seine Kunst und sein Geist vermögen, als indem er die Menschen so erzieht, dass sie schliesslich dem eigenen Gebot der Vernunft gemäss leben".

 

Dann ist die Bildung eines Staates nach den von Hobbes gegebenen Anweisungen möglich. Freilich möchte Spinoza dem Staat nicht soviel Macht und Absolutheit zugestehen wie Hobbes. Die Monarchie muss durch Volksrechte beschränkt werden. Als Bürger der holländischen Generalstaaten und Anhänger der liberalen Richtung, trat er für eine aristokratische Regierung ein, die sich aus einer grossen Zahl gewählter Patrizier zusammensetzt, denen aber auch ausgewählte Männer aus dem Volke zur Seite treten sollten.

 

Samuel von Pufendorf: Der Mensch hat ein Geselligkeitsbedürfnis

 

Auch Pufendorf (1660/73) ist von Grotius und Hobbes beeinflusst und setzt wie Spinoza einerseits auf den Selbsterhaltungstrieb, anderseits auf die Vernunft.

Anders als Spinoza schreibt er dem Menschen, wie Grotius, noch ein Geselligkeitsbedürfnis (socialitas) zu. Der Friede ist naturgemässer als der Krieg.

 

Pufendorf blieb für über hundert Jahre die deutsche Autorität für Recht und Staat.

 

John Locke: Freiheit heisst, sich in die Pflicht nehmen lassen

 

Die Staatsphilosophie von Locke (1689/95) wird häufig als Gegensatz zu derjenigen von Hobbes gesehen. Doch hat er zumindest manche Elemente aus dieser übernommen. Nur der Ansatz ist anders.

Nach Hobbes und auch Spinoza ist der Mensch ursprünglich des Menschen Feind. Pufendorf hatte demgegenüber schon präzisiert, dass der angebliche "Naturzustand" nicht ein Krieg aller gegen alle sei, aber er wäre ein Zustand der Unsicherheit, dem der Mensch durch den schützenden Staat entgeht. Und dieser Staat ist eine "moralische Person". Die Freiheit des Menschen ist eins mit der Fähigkeit, sich in die Pflicht nehmen zu lassen.

 

Locke schliesst sich einerseits der liberalen Staatsauffassung von John Miltons "Paradise lost" (1667) an, anderseits will er die "Glorious Revolution" von 1688 verteidigen und den Thron von König Wilhelm, des "Wiederherstellers der englischen Freiheit", festigen.

 

Locke formuliert die Entstehung des Staates mit folgenden schönen Worten:

"Die Menschen sind von Natur alle frei, gleich und unabhängig, und niemand kann ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstossen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, dass man mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammen zu schliessen und eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander zu leben - in dem sicheren Genuss des Eigentums und in grösserer Sicherheit gegenüber allen, die ihr nicht angehören."

In dieser Gemeinschaft oder Regierung bilden die Menschen "einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen Glieder mit zu verpflichten".

 

Der Staat wird also durch einen freiwilligen Vertrag der Menschen untereinander gebildet. Die Zustimmung, sich einer Regierung oder dem Beschluss der Mehrheit zu unterwerfen, kann ausdrücklich geschehen oder stillschweigend. Letzteres geschieht schon allein dadurch, dass jemand irgendwelchen Besitz hat oder sich irgendeines Stückes Land innerhalb des Herrschaftsbereiches irgendeiner Regierung erfreut." Kurz: Eigentum verpflichtet zum Gehorsam!

 

Weshalb legt der Einzelne seine Gleichheit und Freiheit "in die Hände der Gesellschaft"? Weil ihm die Vernunft zeigt, dass er so seine Freiheit und sein Eigentum besser erhalten kann.

Damit dann der Staat Friede, Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes garantieren kann, muss die gesetzgebende und die ausübende Gewalt getrennt werden. Die gesetzgebende Gewalt geht vom Volk aus, indem dieses Vertreter in die gesetzgebende Versammlung entsendet. Die Rechtssprechung wird von "unparteiischen und aufrechten Richtern" nach diesen Gesetzen vollzogen. Der König steht unter, nicht über dem Gesetz und geht durch Missbrauch der Gewalt seiner Würde verlustig.

Locke begründet damit den Konstitutionalismus.

 

Im übrigen hat Locke ein "vernunftgemässes Christentum" vertreten, das im Glauben an Jesus und in einem Leben besteht, das den Lehren des Evangeliums gemäss ist. Der Mensch muss aber dem göttlichen wie dem bürgerlichen Gesetz gehorchen und drittens, wie Locke als Realist gesehen hat, muss er sich sogar nach der öffentlichen Meinung (dem law of opinion) richten.

 

Ganz im Sinne des grossen Pädagogen Comenius (1657/58) hat Locke schliesslich auch die Erziehung gesehen. Durch sorgfältige Beobachtung und sanfte Lenkung sollen die Anlagen des jungen Menschen naturgemäss entwickelt werden.

Lebendige Anschauung statt gelehrten Formelkrams, Abhärtung und Übung des Körpers, Ausbildung des sittlichen Charakters sollen ein nützliches Glied der Gesellschaft heranbilden. Aufs Eindrücklichste hat sich dieses Ideal an dem von Locke erzogenen Grafen von Shaftesbury (1699/1711) gezeigt, dem Urtypus einer "schönen Seele", einem fortschrittsgläubigen Optimisten voll vertrauender Menschenliebe und nicht ohne Humor. Für ihm fallen Schönheit und Wahrheit ("All beauty is truth") in einer "inneren Harmonie" zusammen.

 

Gottfried Wilhelm Leibniz: "als ob Gott selbst noch Hand anlegte"

 

Mit der Harmonie allen Seins hat sich auch Leibniz (1667/1710), einer der universalsten Gelehrten, auseinandergesetzt, wohl nicht zuletzt, weil er schon in der Jugend in den Kreis der Rosenkreuzer geraten ist.

Schon früh sah er in der christlichen Liebe das Band zwischen den Ansprüchen des Selbst und des Andern, wobei ihm die "Gerechtigkeit als caritas des Weisen" galt.

 

In eigenwilliger Weise hat Leibniz das schon von Descartes und Spinoza behandelte Substanzproblem aufgegriffen und in ein schwer  verständliches System gebracht. Die Welt besteht aus einer unermesslichen Zahl individueller Substanzen, die alle von einer Kraft erfüllt sind, die letzten Endes den "Ruhm Gottes" ausdrückt.

Leibniz nennt diese substanziellen Atome Monaden. Sie sind unteilbar und ewig, immateriell, lebendig, entwicklungs- und handlungsfähig. Sie haben, wie Leibniz so schön sagte, "keine Fenster", sind aber  "lebendige Spiegel des Alls" und begabt mit Vorstellungskraft (perceptio).

Diese Vorstellungen können sich in verschiedenen Graden verdeutlichen, von der "unbewussten Vorstellung" (den petites perceptions) über die "bewussten Apperzeptionen" bis zur göttlichen Vollkommenheit.

 

Die uns selber bekannteste Monade ist unsere eigene Seele. Sie wird als Zentralmonade aufgefasst, die von einer unendlichen Anzahl anderer Monaden als ihrem Körper umgeben ist, dessen Erregungen gemäss sie "wie in einer Art von Mittelpunkt die Aussendinge vorstellt": ihren eigenen Körper am deutlichsten, das übrige Universum mit geringerer Deutlichkeit.

Der Einklang von Körper und Seele wird durch die "prästabilierte Harmonie" geleistet, so "als ob Gott stets noch neben seiner allgemeinen Mitwirkung im Einzelnen Hand anlegte". Diese Harmonie beherrscht auch das gesamte All. Und da die vernünftigen Seelen der Menschen auch "Abbilder der Gottheit" sind, so existiert als eine Art Gottesstaat eine moralische Welt. Es gibt eine Gemeinschaft der Seelen (oder Geister) mit Gott, die durch das Verhältnis des Fürsten zu seinen Untertanen oder des Vaters zu seinen Kindern abgebildet werden kann.

 

Die Harmonie zwischen Körper und Seele steigert sich somit zur Harmonie "zwischen dem physischen Reich der Natur und dem moralischen Reich der Gnade". Dementsprechend bezeichnet Leibniz Gott als den "Architekten der Maschine des Universums" und "Monarchen des Gottesstaates der Geister".

Im unbedingten Vertrauen auf die Weisheit und Vorsehung dieses "Baumeisters" und "Gesetzgebers", der die "vollkommenste der möglichen Welten" geschaffen hat, sieht Leibniz auch das Böse, die Übel der Welt gerechtfertigt (das ist die "Theodizee"). Der Mensch ohne Sünde wäre nicht der wirkliche Mensch. Das Warum aber zu ergründen ist unmöglich, "solange wir blosse Wanderer hier auf Erden sind".

 

Auf dem Hintergrund dieser dürftig skizzierten Menschen-, Staats- und Weltbilder ist die Entstehung des Liberalismus zu sehen. Aber auch Ansätze zum Konservatismus und zum Sozialismus lassen sich finden.

 

Der Liberalismus wurde vorwiegend von Freimaurern getragen

 

Der Liberalismus wurde vorwiegend von Freimaurern getragen. Man denke nur an den Baron Montesquieu und den Grafen Mirabeau, an General Lafayette und Abbe Sieyès, Benjamin Franklin und George Washington im 18. Jahrhundert, an den Reichsfreiherr vom Stein und Staatskanzler Hardenberg, an Johann Gottlieb Fichte und Friedrich List oder Bolivar, Kossuth, Cavour und Jonas Furrer im 19. Jahrhundert.

Kernpunkte sind die Freiheit des Individuums und damit die Ablehnung von Dogmen und Autorität, verbunden mit der Pflege von Toleranz und Mitmenschlichkeit. Basis bildet das Vertrauen in die Vernunft, das Recht und die Erziehung.

 

Freiheit kann auf zwei Arten ausgelegt werden: Unabhängigkeit oder Selbstverantwortung

 

Nun kann die Freiheit auf zwei Weisen ausgelegt werden. Freiheit als blosse Unabhängigkeit gab es im Rokoko, das zu einem Teil gewiss als Sündenpfuhl bezeichnet werden kann, unzweifelhaft. Der spätere Regent, Herzog Philipp von Orléans, wurde von seinem Onkel Ludwig XIV nicht umsonst "fanfaron de vice" genannt. Philipp selbst bezeichnete die Genossen seiner Orgien als "Galgenvögel" und "roués" - die von allen Lastern Geräderten.

 

Freiheit im positiven Sinne verstanden besteht dagegen in der Möglichkeit selbstverantwortlichen Handelns unter der Leitung der Vernunft, wie das Kant am Ende des Rokoko so eindringlich gefordert hat. Es ist der freiwillige Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz und die friedfertige Loyalität gegenüber dem Staat. Und ein "guter Lebenswandel "ist das einzige, was der Mensch tun muss, "um Gott wohlgefällig zu werden" (Kant).

 

Neben diesem moralisch orientierten Liberalismus gibt es selbstverständlich weitere Arten, einen religiösen, metaphysischen, ästhetischen sowie einen politischen und wirtschaftlichen. Wir wollen die beiden letzteren etwas näher betrachten.

 

Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu: Jedes Volk muss seinen eigenen Weg zur Freiheit finden

 

Baron Montesquieu hatte in England das maurerische Licht erhalten und dort zwei Jahre lang die politischen Einrichtungen studiert. Auf Grund dieser Erfahrungen arbeitete er hernach sein vielbeachtetes und -gedrucktes Werk über den "Geist der Gesetze" (1748) aus. Es ist wohl das einflussreichste Werk eines Freimaurers.

 

Im Unterschied zur Naturrechtslehre und Hobbes vertrat er die Auffassung, dass Verfassung, Gesetze und Staatsformen vom "Volksgeist", von "esprit général d'une nation" abhängig sind. Und dieser "Geist der Nation" ist das Ergebnis der natürlichen und historischen Bedingungen.

"Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil. Aus all dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist. In dem Masse, wie bei jeder Nation eine dieser Ursachen mit grösserer Stärke einwirkt, werden die anderen dementsprechend zurückgedrängt".

Sitten und Lebensstil sind nicht bewusst geschaffene Verhaltensregeln, sondern "gewachsene Gepflogenheiten". Die Gesetze haben sich ihnen soweit anzupassen, dass ein "inniger Bezug" entsteht. Letztlich entspringen die Gesetze also der "Natur der Dinge", daher ist der Souverän nur scheinbar der Gesetzgeber.

 

Nach englischem Vorbild sah Montesquieu in der gesetzlichen Sicherung der Freiheit den bestimmenden Zweck jeder Staatsform. Dieser Zweck schien ihm am besten verbürgt durch die konstitutionelle Monarchie mit ihrer Dreiteilung der Gewalten in die gesetzgebende, richterliche und vollziehende sowie dem Zweikammersystem.

Doch auch in der Demokratie lässt sich diese Gewaltenteilung praktizieren, was dann unter dem Einfluss von Montesquieu bei der ersten Verfassung in Nordamerika (1787/89) auch geschah.

 

Montesquieu hat drei Regierungsweisen typisiert.

  • Die Despotie baut auf die Furcht (das haben wir bei Hobbes gesehen),
  • die Monarchie auf die Ehre und den Ehrgeiz und
  • die Demokratie auf die Tugend ihrer Bürger.

Jedes Volk muss gemäss den je besonderen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen seinen eigenen Weg zur Freiheit finden. Wichtig ist nur, dass es das jeweilige Prinzip nicht preisgibt. Denn das Prinzip bestimmt den Geist des Handelns, und die besten Gesetze werden wirkungslos, wenn sie nicht durch die innere Kraft des Staates belebt werden.

 

Besonders schöne Worte hat Montesquieu für die Demokratie gefunden:

"Die Tugend in einer Republik ist etwas. sehr Einfaches, nämlich die Liebe zur Republik. Sie ist ein Gefühl, nicht Folge von Kenntnissen; der geringste Mann im Staat kann dieses Gefühl ebenso gut haben wie der erste ...

Die Vaterlandsliebe erzeugt gute Sitten, und gute Sitten führen wieder zur Vaterlandsliebe ...

Die Liebe zum Staat in einer Demokratie ist die Liebe zur Demokratie, und die Liebe zur Demokratie ist die Liebe zur Gleichheit ... (und) zur Einfachheit ...

Durch die Liebe zur Gleichheit wird in einer Demokratie der Ehrgeiz auf das eine Verlangen und eine Glück beschränkt, dem Vaterlande besser dienen zu können als die Mitbürger ...

Die Liebe zur Einfachheit begrenzt das Verlangen auf den Besitz des notwendigen Unterhalts für die eigene Familie, aber von Überfluss für das Vaterland. Der Reichtum gewährt eine Macht, die der Bürger für sich nicht ausnutzen kann, weil er dann den anderen nicht mehr gleich sein würde."

 

Und noch ein bedenkenswertes Wort zur Freiheit:

"In der Tat scheint das Volk in den Demokratien zu tun was es will. Aber die politische Freiheit besteht nicht darin, zu tun, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf."

 

Vielleicht haben die Anführer der Französischen Revolution diese Bemerkungen zur Freiheit übersehen. Zu verführerisch war wohl die Parole der Gleichheit, auch in Bezug auf das Eigentum. Daher "Krieg den Palästen, Friede den Hütten" (1792), obwohl in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 neben Freiheit, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung auch das Eigentum als "unverletzbares und heiliges Recht" ausdrücklich festgestellt wurde.

 

Politik und Ökonomie sind stets verknüpft

 

Wie eng das politische Leben mit dem wirtschaftlichen, aber auch die politische Theorie mit der wirtschaftlichen verknüpft ist, zeigt sich nicht nur darin, dass die Volkswirtschaftslehre im 18. und 19. Jahrhundert ''Politische Ökonomie" hiess und in den letzten paar Jahren eine "Neue Politische Ökonomie" (z. B. Bruno S. Frey 1977) entstanden ist, sondern auch in der Entwicklung des Wirtschaftslebens.

 

Seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts hatte sich ja der absolutistische Staat immer mehr in das Wirtschaftsleben eingemischt. Auf der einen Seite versuchte er den Handel zu kontrollieren (die englische Navigationsakte von 1651) und gegenüber dem Ausland mit Zöllen zu belegen (der französische Minister Colbert, 1661-83), anderseits sollte die einheimische Industrie ausgebaut und durch Monopole und Steuern der Reichtum - und die Macht - des Staates gefördert werden.

 In Frankreich wurde allerdings vorab die Schatulle des Sonnenkönigs (Ludwig XIV.) gefüllt, durch höfische Luxusentfaltung und Kriege aber ständig geleert.

 

Der Reichtum kommt von der Landwirtschaft

 

Gegen dieses System des "Merkantilismus" regte sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Widerstand: Man entdeckte die Landwirtschaft. Der Reichtum eines Landes liegt nicht in den Industrieerzeugnissen und im Handel mit ihnen, sondern im Ertrag der Landwirtschaft.("La terre est l'unique source des richesses". Das ist die Lehre der französischen Physiokraten Victor de Mirabeau 1755, Quesnay 1758/68, Du Pont de Nemours 1768, Turgot 1784).

Die Bauern sind die tragende und eigentlich produktive Schicht eines Staates. Ihr Stand und ihr Los muss verbessert werden. Mittel dazu sind technische Verbesserungen, Landzusammenlegung und freier Handel. Das Schlagwort lautete: "laissez faire, laissez passer" (1758 de Gournay). Diese Lehre wurde vom schottischen Moralphilosophen Adam Smith erweitert. Kant hat ihn hoch geschätzt.

 

Adam Smith: Der Staat soll sich möglichst draussen halten

 

Smith hatte in Frankreich Voltaire, die Enzyklopädisten und die Physiokraten kennen gelernt. Nach seiner Auffassung ist die Quelle des "Reichtums der Nationen" (so der Titel seines zur Bibel des wirtschaftlichen Liberalismus oder gar des Kapitalismus gewordenen Buches, 1776) die Arbeit überhaupt resp. ihr Ertrag.

Deshalb kommt es auf eine möglichst günstige Gestaltung der Arbeit an. Durch Arbeitsteilung und Konkurrenz lässt sich der Ertrag der Arbeit erheblich steigern. Damit dies geschieht, muss sich der Staat aus dem Wirtschaftsleben möglichst draussen halten; er soll nur dafür sorgen, dass sich das wirtschaftliche Selbstinteresse des Menschen, das sich in Arbeit und Handel äussert und damit das mächtige Triebrad der Volkswirtschaft bildet, frei entfalten kann.

Smith geht also vom Eigeninteresse des Menschen aus und meint, aus dem freien Spiel der Kräfte ergebe sich eine Harmonie, die allen als Wohlstand zu gute komme.

 

Neben die Arbeit stellt Smith auch das Kapital. In dem von ihm geforderten Staat "hat jeder Mensch, solange er nicht die rechtlichen Schranken überschreitet, die vollkommene Freiheit, seine eigenen Interessen so, wie er will, zu verfolgen und seine Arbeit sowie sein Kapital mit der Arbeit und den Kapitalien anderer Menschen und anderer sozialer Schichten in Wettbewerb zu bringen ...

Nach dem System der natürlichen Freiheit beschränkt sich der staatliche Eingriff nur noch auf die Erfüllung dreier Funktionen:

  1. Die Nation gegen Gewalttätigkeiten und Angriffe ... zu schützen,
  2. jeden einzelnen Vertreter der eigenen Nation vor rechtlichen Übergriffen ... zu bewahren ...,
  3. bestimmte öffentliche Einrichtungen zu schaffen, deren Errichtung und Unterhalt der privaten Initiative nicht überlassen werden kann."

 

Die "unsichtbare Hand" reguliert den Markt

 

Wie aber ergibt sich die Harmonie? Durch den Mechanismus des Marktes: Im freien Spiel von Angebot und Nachfrage bildet sich der Preis der Güter. Entsprechende "natürliche" Mechanismen bestehen für Arbeitslohn, Kapitalzins und Grundrente. Arbeit, Kapital und Boden sind nach Smith die drei Produktionsfaktoren und er zeigt, wie sie im Wirtschaftskreislauf zusammenwirken.

Die regulierende Kraft, die entsprechend Montesquieus "Natur der Dinge" dahinter steckt, nennt Smith die "unsichtbare Hand". Er schreibt einmal folgendes:

"Der einzelne ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Lande den grössten Nutzen bringt".

Er wird also "in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise berücksichtigt hat".

 

Nun hat in der Tat durch die gleichzeitig einsetzende "industrielle Revolution" das Wirtschaftsleben, zuerst in England, einen ungeahnten Aufschwung genommen. Doch wie viele blieben auf der Strecke?

Smith hat diese Gefahr gesehen. Er ist zum Beispiel für hohe Löhne eingetreten, denn "Sicherlich kann kein Staat blühend und glücklich sein, wenn der bei weitem grösste Teil seiner Bürger in Armut und Elend lebt."

Umgekehrt findet er auch deutliche Worte gegen hohe Profite: "Unsere Kaufleute und Fabrikanten klagen sehr über die schlechten Wirkungen hoher Löhne ... Sie sagen aber nichts von den schlechten Wirkungen hoher Kapitalgewinne. Sie schweigen von den schädlichen Wirkungen ihrer eigenen Einkünfte und beklagen sich nur über die anderer Leute."

 

Leider haben die nachfolgenden Theoretiker diese Seiten in Smiths Werk nicht lesen wollen. Ja man begann sogar, das Elend bestimmter Schichten als naturgegeben anzunehmen (so etwa der Geistliche Malthus, 1798, und der wohlhabende Bankier und Börsenmakler Ricardo, 1817).

Dass sich auch die Praxis wenig um die soziale Seite der Industrialisierung kümmerte, ist hinreichend bekannt.

 

Die Auflehnung gegen Eigennutz und Missachtung der sozialen Seite: Sozialismus

 

Kein Wunder, dass sich gegen die Theorie der uneingeschränkten wirtschaftlichen Betätigung des Selbstinteresses und gegen die tatsächliche Nichteinmischung des Staates in England und Frankreich - ausser durch das Verbot für Arbeitnehmer, sich zusammenzuschliessen - Widerstand regte: der Sozialismus.

 

Er entstand angesichts des realen Elends, insbesondere der Kinderarbeit, der langen Arbeitszeit, der brutalen Antreiberei und der unzureichenden Entlöhnung zuerst in utopischer Form mit dem Grafen von Saint-Simon (1807/25), dann Charles Fourier (1808/29) und Louis Blanc (1841), aber auch in Bemühungen einzelner Fabrikherren wie Robert Owen, dann vor allem in so unterschiedlichen politisch wirksamen Formen wie

  • Kommunismus (1848) resp. Marxismus;
  • Staatssozialismus resp. Sozialdemokratie (Rodbertus, 1842; Lassalle, 1863; Liebknecht und Bebel, 1869; Adolph Wagner 1875/76);
  • Anarchismus (individualistisch: William Godwin 1793, Stirner 1845,  Belleguarigue, Mackay, 1891; kommunistisch: Proudhon 1840/63, Bakunin 1866/71, Kropotkin 1885/1902, Sorel 1908)
  • und auch in einem christlichen Solidarismus - man denke etwa an Lammais (1817/33) und Leroux (1834), die christlichen Jugendvereine (YMCA 1844), die "Innere Mission" (Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern), den Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler und Adolf Kolpings Gesellenvereine (1846) oder an die Enzyklika "rerum novarum" von Papst Leo XIII., 1891, aus der sich nicht nur eine solidarische Richtung der Nationalökonomie entwickelte (Heinrich Pesch, 1905), sondern auch eine eigentliche "katholische Soziallehre".

 

Damit ist aber das Stichwort gefallen. Was im Liberalismus bei seinem Pochen auf die persönliche Freiheit meist zu kurz kommt, ist die Solidarität, verstanden einerseits als den Bezug zu einem übergeordneten Ganzen, anderseits als Achtung des Mitmenschen als Person, getragen von einer aus dem Herzen kommenden Humanität mit einer vernunftgeleiteten Einsicht, dass alle Menschen voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind.

 

Die Verbundenheit aller Menschen

 

"Alles umfassend" wird durch die gr. Vorsilbe "pan" beschrieben; "das Ganze betreffend" heisst gr. "katholikos", der Bezug auf ein Ganzes lat. "universalis", "in solidum" oder, die Gattung betreffend, "generalis" und "das allen Gemeinsame" "communis", die Gemeinschaft "societas".

Das öffentliche oder Gemeinwohl heisst "salus publica", "bonum commune" oder "generale", in der schottischen Moralphilosophie "common wealth", beim Leibniz-Schüler Christian Wolff "gemeine Wohlfahrt".

Neben den Begriffen und Ideen von Freiheit, Gleichheit und Eigentum hat sich die Auseinandersetzung um die richtige Gestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gerade am Gemeinwohl, verbunden mit Fragen der Solidarität und Gerechtigkeit, entzündet.

 

Die Verbundenheit des Individuums mit etwas anderem kann sich je nach Perspektive sowohl als Sozialismus wie auch als Konservatismus in den unterschiedlichsten Formen äussern.

Als eigenständige Bewegungen sind sie beide Reaktionen auf verschiedene Aspekte der Aufklärung.

Man kann sagen, dass die Aufklärung um das Jahr 1789 in folgendem kulminierte:

  • politisch in der amerikanischen Verfassung (1787/89), in der Französischen Revolution mit dem Sturz der Privilegien und Autoritäten von Adel, Klerus und Militär sowie im Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten (1791-94).
  • Den künstlerischen Höhepunkt dieser Zeit bilden Schillers "Don Carlos (1787), Goethes "Torquato Tasso" (1789) und Mozarts "Zauberflöte" (1791).
  • Geistesgeschichtliche Glanzlichter bilden schliesslich Kants "kategorischer Imperativ" (1785/88), Jeremy Benthams Nützlichkeitsphilosophie, d. h. der Utilitarismus mit seinem Lust-Unlust-Kalkül (hedonistic calculus, 1789) und die "Rights of Man" (1791) des "common sense"-Philosophen Thomas Paine, aber auch Pestalozzis "Lienhard und Gertrud" (1781-87), Joachim Heinrich Campes "Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens" (1785-91), Adolf von Knigges "Umgang mit Menschen" (1788/90) und Karl Philipp Moritz' Autobiographie "Anton Reiser" (1790).

 

 

2. Lehren von 1600-1750, welche in besonderem Masse liberale, konservative und soziale Elemente in sich vereint haben

 

Für Konservatismus wie Sozialismus kann man aber, wenn man will, eine gemeinsame Wurzel wiederum bis auf Grotius zurückführen.

 

Hugo Grotius: Humanität, Toleranz und Kosmopolitismus sind vereint

 

Nach ihm beruht das Naturrecht einerseits auf dem göttlichen Willen und liegt andererseits in der zur Geselligkeit treibenden menschlichen Natur. Es wird als positives Recht (ius voluntarium), nämlich als ziviles und Völkerrecht, im Staat angewendet, der ja durch Vertrag zum Gemeinwohl (communis utilitatis) gebildet worden ist.

Frömmigkeit und Toleranz, Humanität und Friedfertigkeit, Patriotismus und Kosmopolitismus finden sich bei Grotius eindrücklich vereint.

 

Anton Ashley Cooper, Graf von Shaftesbury: lieblich und schön

 

Knapp hundert Jahre später findet sich bei Shaftesbury dieselbe glückliche Kombination, überhöht noch durch die ästhetische Grundstimmung, welche für die späteren Konservativen so bedeutsam war.

Hinzu kommt auf der einen Seite eine pantheistische Ausrichtung, die Gott als den in allen Dingen wirkenden "Weltgeist" sieht, auf der andern Seite die Auffassung, dass es neben den selbstsüchtigen Leidenschaften dem Menschen natürlich ist, das "Wohl der Gattung" und die Geselligkeit zu erstreben.

 

Jean-Jacques Rousseau: Das Volk ist Träger der Souveränität, und diese ist unteilbar

 

Ein weites Mal finden sich liberale, konservative und sozialistische Züge beim Genfer Rousseau (1750/82) vereint.

Seine Werke sind aus Konfession, Kritik und Wunschtraum geboren. Wie kaum ein zweiter hat er die Gedanken und Gefühle, die im Zuge der Zeit lagen, und mehr oder weniger bewusst in vielen Zeitgenossen schlummerten, klar und mit grosser Überzeugungskraft ausgesprochen.

Liberal ist bei ihm sein Bezug auf das Naturrecht: Alle Menschen sind von Natur frei und gleich. Was in der Geschichte aber geworden ist, ist die Entartung dieses ursprünglichen Zustandes. Daher Rousseaus Formel: "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten."

Deshalb entwirft er das Idealbild einer Demokratie. Im Gesellschaftsvertrag (daher der Buchtitel "Le contrat social", 1762) schliessen sich die Menschen in freier Übereinkunft zusammen, um der Unsicherheit zu entgehen, um Freiheit und Gleichheit zu sichern. Nun ist aber im Gegensatz zu Hobbes die Summe der Vertragsschliessenden, das Volk also, der Träger der Souveränität. Sie wird nicht auf eine Regierung übertragen und auch nicht durch gewählte Vertreter wahrgenommen: Das ganze Volk - verbunden in der "volonté générale", deren Kennzeichen der Mehrheitsbeschluss ist und die immer richtig ist, weil sie auf das allgemeine Beste abzielt - gibt die Gesetze und verpflichtet sich ihnen. Die Freiheit besteht darin, dem Gesetz zu gehorchen, das man sich selber gegeben hat. Gleichheit ist die Gleichheit vor dem Gesetz.

 

Eine solche reine Demokratie ist freilich nur in einem überschaubaren staatlichen Gebilde wie etwa der Republik Genf möglich. Das grössere Land fordert eine stärkere Zentralgewalt; und für ganz grosse Staaten empfiehlt sich die Konföderation, wie sie bald nachher etwa von den Vereinigten Freistaaten Nordamerikas gebildet wurde.

 

Die Souveränität des Volkes ist im Gegensatz zu Locke und Montesquieu unteilbar. Auch die exekutive und richterliche Gewalt ruhen beim Volk. Da es sie aber nicht selbst auszuüben vermag, wird sie an die Regierung übertragen, aber so, dass die Übertragung jederzeit rückgängig gemacht werden kann.

Rousseau schreibt:

"Die Inhaber der vollziehenden Gewalt sind nicht die Herren des Volkes, sondern seine Beamten, das Volk kann sie einsetzen und absetzen, wann es ihm beliebt. Sie haben keine Kontrakte zu machen, sondern zu gehorchen ...

Geschieht es also, dass ein Volk eine erbliche Regierung einsetzt, sei es eine monarchische in einer gewissen Familie, sei es eine aristokratische in einer gewissen Klasse von Bürgern, so übernimmt das keineswegs eine Verbindlichkeit; es ist nur eine einstweilige Form, die es der Regierung gibt, bis es ihm beliebt, anders darüber zu verfügen."

 

Damit ist das Signal zur Französischen Revolution gegeben. In der Tat ist die Verfassung von 1793, welche die konstitutionellen Ideen von 1791 überwand, von Robespierre und Saint-Just nach dem Muster des "contrat social" entworfen. Und die späteren Schöpfer demokratischer Staatsformen haben manche Ideen Rousseaus aufgegriffen, auch wenn sie Gewaltenteilung, Volksvertretung und Zweikammersystem wieder einführten.

 

Die bestehenden sozialen Verhältnisse sind nicht naturgemäss

 

Als sozialistisch kann man Rousseaus These von der Entstehung der "Ungleichheit unter den Menschen" (1755) auffassen. Dieser Übelstand entspringt der Entstehung des Eigentums, das sich alsbald mit Gesetz und Recht, mit Obrigkeit und mit Willkür und Gewaltherrschaft umgibt. Die bestehenden sozialen Verhältnisse sind nicht naturgemäss. Es gilt jetzt, wieder von vorn anzufangen und eine möglichst natürliche Gestaltung des menschlichen Lebens durch Erziehung und Staatseinrichtungen zu erreichen.

 

"Das Gewissen ist die Stimme der Seele"

 

Obwohl Rousseau in seiner Erziehungslehre an Locke anknüpft und wie die Aufklärung die Lehre von der Erbsünde abwehrt, verficht er doch gleichzeitig sozialistische wie konservative Grundzüge.

Es gilt, der natürlichen Entwicklung freie Bahn zu lassen und den aus der Hand des Schöpfers rein hervorgegangenen Menschen gegen die Degeneration durch Kultur und Geschichte zu schützen. Der "homme naturel" (die vom Herzen und seinen Leidenschaften geleitete Individualität) muss gegen den "homme artificiel" (den in Konventionen und Äusserlichkeiten befangenen Verstandesmenschen) verteidigt werden.

Der letzte Massstab ist das Gefühl; alle Weisheit entspringt den Tiefen der meditierenden unsterblichen Seele. Das Gewissen ist die Stimme der Seele, es täuscht uns niemals. In der Tiefe der Seele liegt ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, ein angeborenes Gefühl für das Gute, welches unabhängig von der Vernunft ist. Daher ist für Rousseau auch der Kern echter Bildung echte Religion und deren eigentliches Wesen die Pflichten der Moral.

 

Die Religion gründet sich auf das unverdorbene natürliche Gefühl des Menschen. Die stumme Bewunderung des Alls, Dankbarkeit und die innigste Entfaltung des Lebens- und Hingebungsdranges sind Erfüllung der Religion. Sie ist etwas von der Erkenntnis Grundverschiedenes, schreibt er doch: "Ich glaube also, dass ein Wille das Weltall bewegt und die Natur beseelt... Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und über mir, aber ich kann das Geheimnis seines Wesens nicht erkennen."

 

Rousseau wirkte auf Sturm und Drang, Romantik und Idealismus

 

Durch seine Betonung des Gefühls und des Irrationalen wurde Rousseau ein Wegbereiter des "Sturm und Drangs" (ca. 1760-80), durch sein christliches Glaubensbekenntnis und seine Pflichtmoral ein Vorläufer der Romantik, die etwa mit Novalis (1799/1802), Adam Müller (1809) und Friedrich Schleiermacher (1799/1835) erstmals den Konservatismus getragen hat.

Aber auch Kant und Fichte, Basedow und Pestalozzi waren von ihm beeinflusst. In seinem ganzen Leben hat Kant nur ein einziges Mal seinen legendär pünktlichen Morgenspazierung versäumt, nämlich als er Rousseaus "Emile" (1762) las.

 

Johann Gottlieb Fichte hat wohl als letzter das ganze Spektrum der Richtungen durchlaufen: Er begann radikal aufklärerisch mit jakobinischem Einschlag (1793), begründete mit seiner "Wissenschaftslehre" (1794-1810) den Deutschen Idealismus, verfocht radikale staatssozialistische Ideen (1800/13), war ein glühender Patriot (1807/8) und neigte sich schliesslich dem Mystizismus (1804/6) zu.

 

Ziemlich genau zur Zeit Rousseaus haben aber die Linien von Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus angefangen, sich auseinander zu bewegen.

 

 

3. Die ersten Ansätze sozialistischer Auffassungen

 

Es ist ausgerechnet ein Geistlicher, Abbé Morelly, der in einem - hundert Jahre für ein Werk von Diderots gehaltenen - Buch den Kommunismus philosophisch zu begründen wagte (1755-60).

 

Das Privateigentum ist der Grund aller Übel

 

Er meinte, alles Diskutieren über die beste Staatsform sei vergeblich, wenn man das Privateigentum und die in ihm begründete Habsucht nicht als die Wurzel aller Laster erkenne. In seinem Idealstaat soll daher jeder Bürger nur noch über die Dinge des täglichen Bedarfs verfügen und je nach Alter, Kräften und Gaben zum gemeinsamen Nutzen beitragen. Dafür erhält er nach seinen Bedürfnissen einen Anteil des Gesamtertrags. Eine staatlich anerkannte Moral und Metaphysik sorgt für die Aufrechterhaltung der von Gott eingesetzten natürlichen Ordnung. Wer dagegen verstösst, soll ausgestossen werden.

 

Auch ein anderer Abbé, Gabriel Bonnot de Mably, vertrat ähnliche Auffassungen auf der Grundlage der von Vernunft und Natur gewollten Gleichheit der Menschen.

Er forderte die Nationalisierung von Grund und Boden. Eine vollkommene Gütergemeinschaft lehnte er zwar ab, doch wollte er durch Aufhebung des Erbrechts, Gleichstellung der Stände und Verbot des Luxus sowie eine strenge moralische Erziehung die bestehenden Übel eindämmen (1776).

 

Kommunistische Ideale in der Französischen Revolution

 

Politisch markant wurden die Ideale des Kommunismus erstmals gegen Ende der Französisches Revolution im "Klub der Gleichen", der vom "Volkstribun" François Babeuf beherrscht wurde. Als Gajus Gracchus bereitete er 1796 einen Aufstand gegen das Direktorium vor, der aber verraten wurde. Babeuf wurde hingerichtet. Napoleon, ein Anhänger Rousseaus, nahm das Heft in die Hand, nachdem ausgerechnet Abbé Sieyès seinen Staatsstreich vom 18. Brumaire vorbereitet hatte.

Sieyès schrieb aber immerhin die neue Konsularverfassung von 1799. Erzkanzler Cambacérès, später Herzog von Parma, war massgeblich am "Code civile" (1804) beteiligt, der wenigstens neben dem privaten Eigentum auch die persönliche Freiheit und Rechtsgleichheit, Zivil-Ehe und Scheidung garantierte.

 

Die "Verteidigung der Frauenrechte" (1793)

 

Auch die Frauenbewegung und der Anarchismus sind viel älter als man gemeinhin annimmt.

Bald nachdem in der französischen Nationalversammlung im August 1789 die von Lafayette analog der "Virginia Bill of Rights" (1776) entworfene Erklärung der Menschenrechte angenommen war, hat Mary Wollstonecraft eine "Verteidigung der Frauenrechte" (1793) verfasst.

 

Der Anarchismus: gegen Privateigentum und Staatsgewalt

 

Ihr Mann, der Schriftsteller William Godwin, darf für sich in Anspruch nehmen, als erster den Anarchismus begründet und als einziger auch bis zur letzten logischen Konsequenz durchgeführt zu haben. Es gibt manche, welche den Anarchismus seinerseits als konsequente Fortsetzung des Liberalismus auffassen.

Auch Godwin sah in der zweibändigen "Untersuchung über politische Gerechtigkeit" (1793) die hauptsächlichen Ursachen für die zahlreichen Übel der bestehenden Gesellschaft, für soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit, für ungerechte Verteilung und Entlohnung, für Willkür und Unfreiheit, für Unwissenheit, Kriege und Völkerhass in der Herrschaft des Privateigentums und in der Staatsgewalt. Diese beiden müssen daher beseitigt werden, aber nicht durch Gewalt oder Anwendung von Zwang, sondern durch den Einsatz der Vernunft, durch Aufklärung, Erziehung und Bildung. Durch sie gelangen die Menschen zur höchsten Erkenntnis, zur sozialen Gerechtigkeit und zu sittlichem Handeln, und damit auch zur Freiheit und Glückseligkeit.

 

Godwin sah die Ehe als freiheitsbedrohende Institution an und forderte die freie Kindererziehung, in der nur das Interesse des Kindes auf Entfaltung, nicht aber ein "Recht" der Eltern gilt. Und wenn die Menschen einmal zur Überzeugung gebracht worden seien, dass eine Gesellschaft ohne Privateigentum und Zwangsregierung sehr wohl existieren könne, dann basiere eine auf Vernunft gegründete Gesellschaft nur noch auf Verträgen zwischen freien Individuen, die auf Zeit geschlossen werden.

 

Claude Henri, Comte de Saint-Simon als Prophet des Industrialismus und der Leistungsgesellschaft

 

Untrennbar mit dem frühen Sozialismus ist der Name Saint-Simon (1807/25) verbunden. Dieser Pariser Graf war ein Schüler von d'Alembert, kämpfte unter dem George Washington in Nordamerika und erwarb und verlor mehrmals riesige Vermögen. Er ist der Prophet des Industrialismus, der Leistungsgesellschaft und der Technokratie.

Die Industrie ist für ihn die Grundtatsache seiner Zeit und der einzige Quell aller Güter und allen Reichtums. Das Land muss eine einzige grosse Fabrik werden. Dazu bracht es eine neue soziale Ordnung. Die Regierung hat weniger politische Aufgaben zu erfüllen als die wirtschaftliche Leitung des Landes zu versehen, d. h. über die bestmögliche Verwendung der Produktionsmittel zu entscheiden und die Arbeit optimal organisieren.

 

Klassen wird es in dieser neuen Gesellschaft nicht geben, nur zwei Typen von Menschen: die Arbeiter und Müssiggänger, die "Bienen und die Drohnen". Dabei fasst Saint-Simon unter Arbeitern nicht nur die Handwerker, sondern auch Bauern, Händler, Transporteure und Fabrikanten, aber auch Künstler und Gelehrte. Diese Menschen sind es, von deren Tätigkeit das Wohl und Wehe der Gesellschaft allein abhängt, weil sie allein nützliche Arbeit leisten.

Nehmen wir an, sagt Saint-Simon, Frankreich verlöre mit einem Schlage seine 50 tüchtigsten Ärzte, Chemiker, Bankiers, Kaufleute, Landwirte, Hüttenbesitzer usw., das Land wäre im selben Augenblick ein Körper ohne Seele, sein Leben würde sofort stagnieren. Verlöre Frankreich dagegen mit einem Schlage alle Fürsten, Herzöge, Marschälle, Zeremonienmeister, Kardinäle, Erzbischöfe, Präfekten, Ministerialbeamten und die reichen Grossgrundbesitzer - der Verlust würde Trauer hervorrufen, aber für die Wohlfahrt der Franzosen würde aus ihm kein Schaden entstehen.

 

Wichtigste Aufgabe ist demnach die Eingliederung der "Müssiggänger" in den Kreis der "Producteurs".

Die Eigentumsordnung ist demgegenüber nicht bedeutsam; das wurde sie erst bei den Adepten Saint-Simons. Sie sahen im Eigentum "das Recht, eine Abgabe von der Arbeit anderer zu erheben". Es ist aber keine unveränderliche Erscheinung, sondern dem Wandel unterworfen. Da nun das Eigentum meist durch Erbschaft von einem Besitzer auf den nächsten übergeht, forderten die Saint-Simonisten "die Abschaffung aller Geburtsprivilegien ohne Ausnahme und folglich auch die des Erbrechtes, des grössten aller dieser Privilegien".

Sie fordern aber nicht eine "Gütermeinschaft", denn dies wäre eine Verletzung der Moralgesetze. Sie verlangen bloss, "dass alle Arbeitsmittel, der Boden und die Kapitalien, die heute den zerstückelten Stamm des Privateigentums bilden, zu einem einzigen gesellschaftlichen Vermögensstamme vereint werden, und dass dieses Ganze durch Assoziation, und zwar in der Form einer Hierarchie, bewirtschaftet werde, so dass die Aufgabe eines jeden den Ausdruck seiner Fähigkeit vorstelle, und sein Reichtum im Verhältnis zu seinen Leistungen stehe". Nicht unwichtig dafür ist die Volksaufklärung, Bildung.

 

Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi verlangt Interventionen des Staates gegen das Elend der Industrialisierung

 

Zur selben Zeit hat sich auch der Genfer Historiker Sismondi, 1813 Mitglied des Grossen Rats, mit der liberalen Wirtschaftstheorie auseinandergesetzt.

Er kritisierte sie methodisch, indem er das detaillierte und geschichtliche Studium der menschlichen und sozialen Zustände forderte und vor Verallgemeinerungen und dem Aufstellen von angeblich ehernen Prinzipien warnte.

 

Unter den Eindrücken des sozialen Elends und der Krisen, die er auf dem Festland und während einer Englandreise sammelte, griff er das Prinzip des freien Wettbewerbs an. Denn der Kampf um das billigste Produkt zwingt den Fabrikanten, sparsam zu wirtschaften. Er verlangt also vom Arbeiter eine immense Arbeitsleistung und zahlt ihm einen erbärmlichen Lohn. Durch dieses System wird der Vorteil, den die Allgemeinheit von billigen Erzeugnissen hat, weit überwogen durch die Schäden, die ein grosser Teil der Bevölkerung an Kraft und Gesundheit erleidet.

Mit deutlichen Worten greift Sismondi auch den Profit an:

"Der Profit eines Unternehmers ist manchmal nichts anderes als eine Beraubung des Arbeiters, den er beschäftigt; er verdient nicht, weil sein Unternehmen mehr hervorbringt als es kostet, sondern weil er dem Arbeiter kein genügendes Entgelt für seine Arbeit gewährt. Eine solche Industrie ist ein soziales Übel" (1819).

 

Sismondi sagte voraus, dass die Konzentration des Reichtums auf der einen, der Armut auf der andern Seite immer weiter gehen und zur Bildung von zwei sich schroff gegenüberstehenden Klassen führen werde. Wie könnte man dem entgegenwirken? Der Staat, die Regierung muss eingreifen. Sie muss Missbräuche korrigieren und die Schwachen schützen. Das Laissez-faire hat sich nicht bewährt. Sismondi ist der erste Interventionist.

Und er schlägt auch gleich Reformen vor: das Recht der Arbeitnehmer auf Zusammenschluss; Einschränkung der Kinderarbeit, der Sonntagsarbeit und überhaupt der Arbeitszeit; Verpflichtung der Arbeitgeber, die Arbeitnehmer bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter zu unterstützen.

Auf Grund seiner Erfahrung zweifelte er allerdings daran, dass die bisherige Entwicklung aufzuhalten und ein besserer Zustand herbeizuführen sei.

 

Marx und Engels: spöttischer Optimismus

 

Der Optimismus blieb Marx und Engels vorbehalten, die vieles von Saint-Simon und Sismondi aufgegriffen haben, nicht zuletzt die Einsicht, dass es mit der Harmonie von Einzelinteressen und Allgemeinwohl doch nicht so einfach ist.

Marx spöttelt einmal im "Kapital" (1867, II. Abschnitt, 4. Kap., 3.):

"Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches ... war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham ... Bentham! Denn jedem ... ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilisierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses."

 

 

4. Erste Ansätze konservativen Denkens

 

Die konservative Gegenwendung zur überspitzt individualistischen und rationalistischen Aufklärung lässt sich weniger scharf fassen.

 

Theosophen, Pietisten, Historiker und Traditionalisten

 

Da wären etwa die Theosophen Emanuel Swedenborg (1734/63) und Franz von Baader (1796/1832), die Pietisten Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Friedrich Christoph Oetinger sowie der Mystiker Marquis de Saint-Martin (1775/1800) zu nennen.

Ferner die in verschiedener Weise historisch denkenden und sich vor allem auch der Bedeutung der Sprache zuwendenden Philosophen wie Vico, Möser, Hamann, Herder, Jacobi und Lavater.

 

Hamann, Herder und Jacobi werden auch als Gefühls- oder Lebensphilosophen bezeichnet. Sie sind deutlich von Rousseau beeinflusst.

 

Ganz im Banne der Kirch stehen dagegen die französischen Traditionalisten: der Vicomte de Bonald (1796/1818) und der Comte Joseph de Maistre (1796/1821), letzterer der Begründer des Ultramontanismus, d. h. der Ausrichtung auf Rom, das jenseits der Berge liegt.

 

Edmund Burke: Weisheit statt Vernunft, und die liegt bei der Gemeinschaft

 

Wie bei den letzten beiden und dem späteren Aussenminister Chateaubriand (1797/1849) entzündete sich auch das Werk von Edmund Burke an der Französischen Revolution (1790).

Wie so häufig bei den Konservativen hat der junge Burke mit einer ästhetischen Untersuchung über unsere Ideen "des Erhabenen und Schönen" (1756) angefangen. Lessing, Mendelssohn, Kant (1764) und Schiller sind von ihm beeinflusst worden.

Burke misstraut allem, was nach vernunftgemässer Theorie aussieht. Nicht mit Vernunft und Logik kommt man den Problemen des Staates, der Gesellschaft und der Ethik bei, sondern mit Weisheit.

Die aber liegt nicht beim Individuum, sondern bei der Gemeinschaft, der Menschenart im ganzen. Die Art ist weise und handelt meist richtig. Die Gemeinschaft ist ein grosser Organismus; der einzelne und der Augenblick bedeuten wenig in ihr. Nur die Gemeinschaft übergreift und überdauert die Zeiten. Sie ist eine Gemeinschaft des Geistes, der Künste und Tugenden über die Generationen hinweg.

Man soll sie deshalb nicht kritisieren oder nach den Ideen, Theorien oder Bedürfnissen des Tages zu "verbessern" suchen. Man muss sie achten, lieben und verteidigen. Aus dieser Haltung heraus kritisierte Burke etwa die britische Kolonialpolitik in Indien als kurzsichtigen und schädlichen Eingriff in Gesellschaftsordnungen, die durch Jahrhunderte gewachsen waren. Umgekehrt setzte er sich für die nordamerikanischen Kolonisten ein (1765), und auch die Forderungen nach Pressefreiheit und Reform des Parlaments sind mit seinem Namen verbunden.

 

Das Bekenntnis von Burke lässt sich nach seinen Worten folgendermassen zusammenfassen:

"Es wäre frevelhaft, den Staatsverein wie eine alltägliche Kaufmannssozietät, wie einen unbedeutenden Gemeinhandel mit Pfeffer oder Kaffee zu betrachten ..., den man treibt solange man Lust hat, und aufgibt, wenn man seinen Vorteil nicht mehr absieht.

Ein Staat... ist nicht bloss eine Gemeinschaft in Dingen, deren die grobe tierische Existenz des vergänglichen Teils unseres Wesens bedarf, er ist eine Gemeinschaft in allem, was wissenswürdig, in allem, was schön, in allem, was schätzbar und gut und göttlich im Menschen ist.

Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen. Jeder Grundvertrag einer abgesonderten Staatsgesellschaft ist nur eine Klausel in dem grossen Urkontrakt, der von Ewigkeit her alle Weltwesen zusammenhält, die niedrigeren Naturen mit den höheren verbindet und die sichtbare Welt an die unsichtbare knüpft, alles unter der Sanktion eines unverletzlichen und unwandelbaren Gesetzes, vor dem nichts im physischen, nichts im moralischen Weltall seine angewiesene Stelle verlassen darf."

 

In der Folge hat sich der Konservatismus in zahlreichen Formen weiterentwickelt, wobei neben den erwähnten Romantikern vor allem die Nationalisten Fichte, Arndt (1803/58) und Görres (1805/42) bedeutsam sind.

 

Karl Ludwig von Haller: Der Mensch sei dem Fürsten untertan

 

Erwähnt sei hier nur, dass der Berner Patrizier und Grossrat Karl Ludwig von Haller der Epoche ihren Namen gab. Sein sechsbändiges Werk trug den Titel: "Die Restauration der Staatswissenschaften oder Theorie des natürlich geselligen Zustandes, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt" (1816-34).

Der Staat ist für ihn privatrechtliches Eigentum (Patrimonium) des nur Gott verantwortlichen Fürsten; dem Untertanen steht kein Recht, nur Unterordnung zu. Aufgabe des Patrimonialstaates ist - im Unterschied zum "Nachtwächterstaat" (Lassalle) der liberalen Theoretiker - die Erhaltung des Bestehenden, gestützt durch die Autorität der Kirche.

Man hat diese Art Konservatismus gerne als reaktionär bezeichnet. Die ersten Liberalen im Spanien der napoleonischen Zeit nannten die Konservativen sogar die "Servilen".

 

Johann Caspar Bluntschli fordert die Anerkennung der Persönlichkeit des Individuums

 

Doch es gab auch durchaus reformfreudige Konservative. Der Zürcher Johann Caspar Bluntschli hat schon 1844 eine "organische Staatslehre" begründet, die den Staat als Abbild des Menschen begreift.

In seinen Lebenserinnerungen schreibt er darüber: "Wenn der Grund des Staates in der menschlichen Natur zu finden und der Mensch ein 'staatliches Wesen' ist, so kann der Schlüssel zur Erkenntnis des Staates nur in der Ordnung der menschlichen Seele erblickt werden, welche die Psychologie aufdeckt und die den menschlichen Körper beherrscht".

 

Bluntschli setzte sich freilich in den vierziger Jahren wie auch in seinem Lehrbuch über Staatsrecht (1851) mit der Arbeiterfrage auseinander. Er meinte, es sei nur gerecht, wenn "diejenigen, die in guten Zeiten aus der Fabrikation Gewinn ziehen, auch verpflichtet werden, für die bösen Tage vorzusorgen".

Die gesetzliche Regelung dieser Pflichten betrachtete er allerdings nur als Notbehelf; die entsprechenden Massnahmen des Arbeitgebers hätten "als freies Werk der Humanität einen höheren Wert".

Einige Jahre später forderte er in einem Entwurf über das Verhältnis zwischen Fabrikinhaber und Arbeiter, dass die Kräfte des Arbeiters "nicht aus ökonomischen Interessen eines anderen" aufgezehrt werden sollten und begründete dies mit "der Anerkennung der Persönlichkeit des Individuums". Die gegenseitigen Beziehungen unter den Menschen müssten vor allen Dingen "so geordnet sein, dass die Menschen nebeneinander bestehen können".

 




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