Home Hanser-Umweltforschung: Biologie, Friede und Zukunft

 

Hansjochem Autrum: Biologie – Entdeckung einer Ordnung. 1970; als dtv-Taschenbuch 1975.

Wolfgang Wieser: Genom und Gehirn. 1970; als dtv-Taschenbuch 1972.

Michael Lohmann (Hrsg.): Wohin führt die Biologie? 1970; als dtv-Taschenbuch 1977.

Dieter Senghaas (Hrsg.): Friedensforschung und Gesellschaftskritik. 1970; als Fischer Taschenbuch 1973.

Helmut Krauch: Prioritäten für die Forschungspolitik. 1970; 2. Aufl. 1971.

Michael Lohmann (Hrsg.): Gefährdete Zukunft. 1970; als dtv-Taschenbuch 1973.

alle Carl Hanser Verlag, München

 

 

Nachdem der Mensch weniger aus bösem Willen, denn durch seine Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit bereits Gewaltiges im Raubbau an der Natur, in Ihrer Verschmutzung und Zerstörung geleistet hat, zeichnet sich seit etwa zwei Jahren eine neue "Lawine". ab: bedrucktes Papier über die Umweltprobleme.

 

Schon beginnt man, der unaufhörlichen Mahnungen überdrüssig zu werden - bevor man sich der Tragweite des Problems bewusst geworden ist - und möchte von den pessimistischen Warnern in Ruhe gelassen werden. Auf diese Weise ist der unerfreulichen Situation nicht beizukommen. Wir müssen uns täglich mit ihr auseinandersetzen. Deshalb hat der dynamische Carl Hanser Verlag, München, begonnen, eine ganze Buchreihe unter dem Titel *Umweltforschung“ herauszugeben. Sechs Bände liegen vor. Drei befassen sich mit Biologie, die drei andern mit Forschung und Zukunft.

 

Hansjochem Autrum: Biologie – Entdeckung einer Ordnung.

 

Der Zoologieprofessor Dr. h. c. Hansjochem Autrum hat allgemeinverständliche Essays über die Wissenschaft vom Leben zusammengestellt.

 

Er beginnt bei der Entstehung lebendiger Organismen auf unserer Erde vor Milliarden von Jahren, geht auf die Entdeckung einer Ordnung in der lebendigen Natur ein und spricht schliesslich. von der "Präzision" in der Natur, von der wunderbaren Genauigkeit der Sinnesorgane oder der Verdoppelung der Kernsäuren (Reduplikation) als Grundlage der Fortpflanzung.

Weiter berichtet er über das Farbensehen, den Blutkreislauf und die "tierische Elektrizität“, das heisst die elektrischen Ladungen und Veränderungen in den Nerven. und Muskelzellen. Einer Betrachtung der Funktionsweise der Muskeln folgt diejenige der wissenschaftlichen Erforschung des Menschen durch. Leonardo da Vinci und ein Essay über tierische und menschliche Sprache.

Überlegungen zu Massenvermehrungen Im Tierreich und heute auch des Menschen, in Zusammenhang mit dem Verteidigen eines Territoriums, beschliessen das Bändchen.

 

Wolfgang Wieser: Genom und Gehirn

 

Der Zoophysiologe Wolfgang Wieser bietet eine Sammlung meisterhafter Aufsätze. Er möchte die Entwicklung der Naturwissenschaften weniger als einen sozialen Prozess sehen, sondern als den Versuch, eine neue Sprache zu finden, „in der wir Menschen dem Reichtum der Welt und dem Reichtum unserer Beziehungen zu dieser Welt in bisher ungeahnter Differenzierung Ausdruck zu geben vermögen.“

 

Dieser Versuch geht auf zwei Wegen. Die eine Sicht fasst den Organismus als Produkt eines Wechselspiels, einer Vermischung oder Verknüpfung von Elementen (Empedokles) auf, die andere sieht hinter den zielorientierten Leistungen schöpferische Kräfte (Aristoteles) oder ein normierendes Prinzip der Natur. Heute bedient man sich einer dynamischen Systemtheorie, welche die Organisation biologischer Vorgänge nicht spezifischen Kräften, sondern spezifischen Verknüpfungsweisen zuordnet. „In Verknüpfungsmustern dieser Art gibt es nur relative Autonomie der Teile und, daraus folgend, jeweils nur relative Autorität.“

 

Von Kleists Marionettentheater führt diese historisch und sachlich fundierte Schrift zu den Delphinen und damit zum Problem der Sprache sowie zur Kybernetik. Wiener warnt vor einer kritiklosen Anwendung kybernetischer Modelle wie vor ihrer Ignorierung. Kybernetische Systeme sind im Gegensatz zu Automaten offen zur Umwelt und komplex organisiert; sie können handeln, das heisst reagieren, lernen und planen.

 

Der genetische Code, das heisst, das "Programm“ des Individuums rückt anschliessend ins Zentrum der Ausführungen, die auch Auswüchse der Molekularbiologie kritisch beleuchten.

Dann werden die beiden Hauptformen der Anpassung von Organismen beschrieben: die genetisch über das Genom (die Erbsubstanz) gesteuerte, deren Träger die Population ist, und die zentralnervös über das Gehirn gesteuerte, deren Träger das Individuum ist.

 

In den Problemkreis der Menschenzüchtung oder „Verbesserung der Menschheit" durch genetische Manipulationen führen die nächsten Kapitel. Intelligente, mutige, friedliche und aggressive Menschengruppen können bereits durch soziale Isolierung gebildet werden, man denke an Intellektuellengettos, die Wikinger oder Ute-Indianer (K. Lorenz). Dass Erbkrankheiten durch Sterilisation vermindert werden können, steht wie das Umgekehrte fest: die Vermehrung schädlicher Genkombinationen.

Die Menschenzüchter ermangeln genau definierter Ziele, denn der "vollkommene" Mensch ist keine Addition positiver Eigenschaften, sondern eine "glückliche Fügung", die unserem Zugriff entzogen ist.

 

Von hier aus ist ein kleiner Sprung zum Diskussionsobjekt: "Der Mensch und seine Zukunft"; doch lehnt Wieser das spielerische Entwerfen von Modellen der Wirklichkeit nicht etwa ab.

 

Wohin führt die Biologie?

 

Mit der "organismischen und mechanistischen Betrachtung des Lebendigen" befassen sich im nächsten Band acht Referenten, die manches Vorherige wieder aufgreifen. Neben dem Altmeister der biologischen Systemtheorie„ Ludwig von Bertalanffy, kommt erneut Wieser zu Wort, der den Unterschied von Computer und Lebewesen allein in Selbstvermehrung, Entwicklung und Stoffwechsel der letzteren sieht; erstere haben nur Energie- und Informationsaustausch.

 

Auf das Leib-Seeleproblem geht ein Physiker und Virusforscher ein, Die Bedeutung der neurologischen Forschung auf die Erkenntnistheorie wird betont. Genau werden die Leistungen der neuronalen Netzwerke unter die Lupe genommen.

 

Ebenfalls mit erkenntnistheoretischen Fragen quält sich der Psychologe und Verhaltensforscher Norbert Bischof herum; ähnlich der Chemiker und Naturphilosoph Hans Sachsse, der ganz ins Allgemeine, ausgreift, Wie üblich ist das Register unvollständig.

 

Friedensforschung und Gesellschaftskritik

 

Der Band "Friedensforschung" befasst sich mit der nuklearen Rüstung und ideologischen Verfeindung, mit Nationalismus, Rassismus und anderen Vorurteilen und Konflikten. Solche Forschung wird, vom Zweiten Weltkrieg unterbrochen, seit 10/15 Jahren mit zunehmender Intensität betrieben, in den USA, in Kanada, Holland und Skandinavien.

Hingearbeitet wird auf friedliche Konfliktregelung und eine Strategie der Friedenssicherung, die gleichzeitig auf gesellschaftliche Veränderungen drängt.

 

Acht Essays versuchen Probleme und Wege in globaler und interdisziplinärer Betrachtung aufzuzeigen.

 

Dieter Senghaas stellt, fest, dass der Trend wächst: Nationen verlieren die von ihnen selbst begonnenen Kriege. 90 % der etwa 700 Milliarden DM betragenden Weitrüstungsausgaben werden von den hochindustrialisierten Staaten des Nato- und Warschaupaktes aufgebracht. Die Wachstumsrate, unter Berücksichtigung Inflationärer Tendenzen, beträgt 9 % jährlich.

Claus Koch stellt die Frage: Sind wirr auf dem Weg zur Rüstungs-, resp. Abschreckungsgesellschaft? Bleibt uns wirklich nur die organisierte Friedlosigkeit, in welcher wissenschaftliche Forschung mit Rüstung verflochten ist?

Im "modernen Imperialismus", den Fritz Vilmar kritisch beleuchtet, hat sich der Staat mit der Wirtschaft verbündet.

"Den Imperialismus bekämpfen heisst heute nicht mehr nur  gegen die ökonomische Ausbeutung der Dritten Welt ankämpfen, sondern auch den ideologischen Absolutheitsanspruch der Machteliten in Ost und West radikal infrage stellen.“

Skeptisch zum Weltstaat und zur Weltgesellschaft äussert sich Eva Senghaas-Knobloch. Es gibt über 200 staatlich und 2 200 privat getragene internationale Organisationen.

46 Seiten widmet Klaus Horn der psychoanalytischen Theorie der Aggression.

Theodor Ebert erläutert schliesslich die "gewaltlose direkte Aktion" als "soziale Verteidigung".

Reiche Literaturangaben zeichnen diesen Band aus.

 

Helmut Krauch: Prioritäten für die Forschungspolitik

 

Helmut Krauch, Leiter der Studiengruppe für Systemforschung, Heidelberg, untersucht im Band "Prioritäten für die Forschungspolitik" die Diskrepanz zwischen Wünschen der Öffentlichkeit und staatlichen Vorhaben. Letztere haben ihr Schwergewicht in Militär-, Atom- und Weltraumforschung, Die Öffentlichkeit jedoch wünscht Forschungen über Medizin, Ernährung, Umwelthygiene, Bildung, Energie und menschliche Beziehungen.

 

Sehr schlecht schneidet - auch bei Fachleuten und Studenten - etwa die Zukunftsforschung ab. Krauch schliesst: Die Behörden wie die Wissenschafter tendieren zur Sicherung bestehender Machtverhältnisse, das heisst sie versuchen, gesellschaftliche Komplexität zu ignorieren und politischen Konflikten auszuweichen.

 

Ein besonderes Kapitel gilt der Entscheidungs- und Spieltheorie in Zusammenhang mit der Nutzenfunktion und Optimierung.

 

Über die "Simulation gesellschaftlicher Realität" lässt sich J. D. Saltzman aus.

Ein Exkurs "Ernährung im Jahre 2000" schliesst an.

 

Gefährdete Zukunft

 

Im letzten Band schliesslich nehmen 12 angloamerikanische Wissenschafter Stellung zum Thema "Gefährdete Zukunft".

 

Der Historiker Lynn T. White jr. spürt den jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Geisteshaltung nach, welche Studium und Ausbeutung der Natur durch den Menschen als Erfüllung des göttlichen Willens betrachtet. Deshalb kann auch ein noch so grosser Einsatz von Wissenschaft und Technik die ökologische Krise nicht beheben helfen, "sofern wir nicht zu einer neuen Religion finden oder unsere alte überdenken".

 

Dasselbe meint auch der Biologe Garrett Hardin. Sogar Nationalparks fallen fortschreitenden Zerstörungen durch Menschenmassen anheim. Das Problem ist: Wie kann man durch Gesetze und administrative Vorschriften Mässigung erzielen? Schuldgefühle zu erzeugen oder an den Sinn für Verantwortung zu appellieren, hilft nichts; das kann nur gegenseitiger Zwang, der durch "gegenseitige Übereinkunft der Mehrheit" eines Volkes bestimmt wird.

 

Das hält Beryl L. Crowe, Politikwissenschafter, für fragwürdig; er spricht von den zerfallenden Werten und fordert ein Umdenken der Wissenschaft; desgleichen der Anthropologe Edmund Leach: Der Wissenschafter kann sich nicht mehr von der Verantwortung drücken, er muss "persönlicher" werden.

 

Kingsley Davis und Bernard Berelson kritisieren die unzureichenden Familienplanungs-Programme. Bei einer Umfrage unter Studenten und Dozenten befürworteten 84 % eine Begrenzung der Familiengrösse, aber nur 5 % sprachen sich dafür aus, nur ein oder gar kein Kind haben zu wollen. 49 % (auch Biologen) wussten nicht über die Folgen einer Sterilisation Bescheid.

 

Der Biologe Barry Commoner zeigt, dass die Vergiftung unserer Umwelt "nicht durch unbedeutende sondern durch wesentliche Fehler unserer Technik verursacht wird". Die Technik wird zwar wie geplant perfekt und erfolgreich angewendet, jedoch bevor die Gefahren bekannt waren. Stickstoffdünger, Insektizide, Abwässer und -gase sowie Kernreaktoren. sind die Hauptsünder. So müssen wir uns fragen: Lohnen sich die Kosten, die finanziellen wie die gesundheitlichen?

 

Dem Problem der "Megalopolis" auf technischem Weg zu begegnen, bringt hohe Kosten. Automatisierter Verkehr und Fernsehtelefon könnten vielleicht einiges helfen, sind aber nur Stückwerk und bringen neue Probleme. Die immer grösser werdende Kluft zwischen Reich und Arm, beziehungsweise zwischen (wirtschaftlich und sozial) Entwickelten und Unterentwickelten ist beängstigend, ja "niederschmetternd". Wir exportieren zwar Hygiene aber nicht Wohlstand, welcher mit der Industrialisierung zusammenhängt. Der Nobelpreisträger P. M. S. Blackett empfiehlt deshalb den Verkauf von Lizenzen für Maschinen und Produktionsprogramme. Doch da steht die Zahlungsbilanz als Riegel dazwischen.

 

Erneute Gedanken über "Prioritäten der Forschung" macht sich der Genetiker C. H. Waddington. Die Organisation des Wissenschaftsbetriebes ist letztlich politisch und wird weniger vom Möglichen bestimmt als von der „Widerborstigkeit der menschlichen Natur", von Zögern und Prestigedenken.

 

Die enorme Entwicklungsbeschleunigung auf allen Gebieten betrachtet John Platt. Er stellt die Krisen zusammen, die in den nächsten zehn Jahren den Explosionspunkt erreichen könnten: nukleares Wettrüsten, Hunger, Mitbestimmung, Rassenkonflikte, Kompetenz-Krise der Verwaltung usw. Er zeichnet ein besorgniserregendes Bild und sieht nur eine Lösung durch Forschung in speziellen Arbeitsgruppen.

 

Die Aufgabe ist deutlich, das Programm riesengross und die Zeit "entsetzlich kurz".

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 19. März 1971

 


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