Home Kontrolle der Technostruktur durch Systemanalyse, Elektronik und Disziplin

 

Karl Steinbuch: Mensch, Technik, Zukunft. Basiswissen für die Probleme von morgen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1971; Taschenbuchausgabe bei Rowohlt 1973.

Nigel Calder: Technopolis. Kontrolle der Wissenschaft durch die Gesellschaft. Econ Verlag, Düsseldorf und Wien, 1971 (engl. 1969).

 

 

Eine neue Ordnung und eine neue Moral brauchen wir, eine solidarische Zusammenarbeit der Spezialisten und Generalisten, eine Verwirklichung humaner Absichten mittels technischem Sachverstand und über den Weg von Optimierung und Kompromiss sowie auf Grund definierter Wert- und Zielvorstellungen.

 

Karl Steinbuch [1917-2005] schreibt klar, prägnant und ist in seinen Formulierungen weitsichtig und unzimperlich. Dornen im Auge sind ihm die Konservativen und die philosophierenden Naturwissenschafter (C. F. von Weizsäcker, Werner Heisenberg), ebenso die Neue Linke.

Für die arbeitsteilige, auf dem Leistungsprinzip basierende Produktionsform der Gegenwart, die durch Manager gelenkte Technostruktur, gäbe es nur die Alternative des Abbaus auf ein niedriges Kulturniveau, und das ist kaum wünschbar. Also her mit rationaler Zukunftsplanung, die mit Systemanalyse arbeitet, welche alles Geschehen als ein Geflecht von Ursachen und Wirkungen sowie unbekannten Einflüssen erkennbarer Wahrscheinlichkeit versteht.

Einen Hauptpunkt wird hierbei das Recycling, d. h. die Wiederverwendung von gebrauchten Gütern bilden.

 

Leider vereinfacht Steinbuch manches, um die Fülle des Materials, worin einzig die Medizin, Biochemie und -genetik fehlen, in ein einziges Buch pressen zu können. Er meint, die Wissenschafter im Osten hätten der "Russischen Biologie praktisch längst" abgeschworen (vgl. demgegenüber Shores A. Medwedjews Schriften), eine grosse Anzahl von Zeitschriftenveröffentlichungen sei ein Zeichen für Kreativität, die Transparenz des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen - nicht aber des soziotechnischen - Geschehens nehme zu, Sicherheit beim Auto verkaufe sich schlecht und die Massenmedien sollten gegen den hemmungslosen Verkehr und für bewussten Verzicht werben; dem Verzicht der USA auf den Bau des SST (Supersonic Transport) traut er nicht, sein Vertrauen auf den Computer ist bekannt. Was aber nützen solche gigantischen Anlagen, wenn qualifiziertes Personal fehlen wird?

 

Sehr wertvoll ist Steinbuchs Hinweis, dass die kompliziertesten Gebilde aus Menschenhand nicht Computer, Atomreaktoren und Raumfahrzeuge sind, sondern das weltweite Telephonsystem mit 250 Millionen "Sprechstellen" und 400 Milliarden Gesprächen jährlich - und die Städte, deren Komplexität die Fassungskraft des menschlichen Bewusstseins überschreitet auch das von Alexander Mitscherlich, den Steinbuch einer "diffamierenden Irrationalität" bezichtigt.

 

Ob Steinbuch vor fünf Jahren der Umweltvergiftung bereits ebensolche Aufmerksamkeit geschenkt hätte wie in diesem Buch?

Umweltschutz ist bis heute von den Futurologen nämlich recht stiefmütterlich behandelt worden. Nun taucht er In dieser Basisinformation zusammen mit "psychosozialen" Problemen an allen Ecken und Enden auf; ein eigenes Kapitel ist ihm gewidmet, genau wie den Bereichen: Rohstoffe und Energie, Raumplanung und Verkehr, Informationsübermittlung und Massenmedien, Computertechnik, Automatisierung und programmierte Instruktion.

 

Der Weg des Umweltschutzes ist schmal; er muss zwischen zwei Voraussetzungen unserer Existenz durchführen-: ausreichende Produktion und. menschenwürdige Umwelt. So scharf dieser Grat ist, so breit sind die interdisziplinären und internationalen Verflechtungen, die zur Richtungsfindung notwendig sind.

 

Auch Steinbuch ist der Ansicht, dass der „technische Fortschritt“ nicht mehr in der bisherigen Art fortgeführt werden könne; er muss mit technikadäquaten Mitteln unter Kontrolle gebracht werden - unter aussertechnischen Bewertungen allerdings, die auf einer Vielfalt konkurrierender Beurteilungsweisen beruhen.

 

"Wir haben einen Überschuss an Geschimpfe auf die Technik, aber .einen totalen Mangel an praktikablen Alternativen ... Das eigentliche Problem ist offensichtlich gar nicht die Technik, sondern sind die Menschen, die ausserstande sind, angesichts der unmässigen Möglichkeiten der Technik sich mässig zu verhalten".

 

Disziplin, d. h. "reflektierte Bindung" tut not, eine Moral technischen Handeins, die nicht von partikulären und wirtschaftlichen Interessen bestimmt ist, sondern vom Wunsch einer menschenwürdigen Existenz.

 

Dasselbe in grün - nur weniger gekonnt

 

Auch Nigel Calder [*1931], Sohn Lord Ritchie-Calders, lamentiert über das "Versagen der Kontrolle der Prozesse technischer Neuerungen". Das liegt daran, dass die Politik die Wissenschaft immer noch nicht ernst nimmt.

 

In verschiedenen Kapiteln wird die wechselvolle Geschichte der Zusammenarbeit Politik - Wissenschaft beschrieben. Nicht Forschung Ist primäres Ziel sondern Nationalprestige (force de frappe, Apollo-Projekt, T. D. Lyssenko). Dennoch gibt es internationale Zusammenarbeit. Calder nennt das Zentrum für Physik in Triest, das CERN in Genf und das Internationale Geophysikalische Jahr sowie das Airbus-Projekt, ferner das Nonproliferationsabkommen für Kernwaffen, den Weltraumvertrag und die Pugwash-Konferenzen, später etwa die Welt-Wetter-Wache.

 

Wie Steinbuch vernachlässigt auch Calder das Problem der Kreativität keineswegs. Gerade weil sich Forschung und Entdeckung nicht planen lassen, diese Vorgänge der Wissenschaft also nicht nach strengen Regeln ablaufen, hätte die technische Zivilisation einen andern Gang nehmen können. Es führt auch kein glatter Weg von der Forschung zur Anwendung. Deshalb ist heute eine "Anwendungs-Ethik" nötig, die im komplizierten Wegsystem zwischen Wissenschaft und Anwendung regulierend eingreift. Denn wir können uns nicht mehr leisten, alles theoretisch Mögliche auch in die Praxis umzusetzen. Elektronische Kommunikation und Kontrolle wird darüber befinden müssen.

 

Auch Calder rüttelt am Sockel des höchsten bundesdeutschen Idols, C. F. von Weizsäcker. Anderseits warnt er aber vor dem Optimismus der Systemanalytik à la Steinbuch oder Herman Kahn. Er weist sich über recht gute Sachkenntnis aus; seine 440seitige Bestandesaufnahme ist stellenweise unterhaltend geschrieben.

 

Nur schade, dass das Buch miserabel übersetzt ist. Vorsorglicherweise hat der Verlag die Namen der Schuldigen verschwiegen. Kembs (bei Basel) heisst hier Krembs, Eutrophierung Eutrophizierung, Klärschlamm Abwässerschlamm, Kraftwerk Kraftstoff. Kann man Salze einem Fluse stromaufwärts hinzufügen, was sind Abfälle aus Kaliumsalzen? Dies einige sprachliche und gedankliche Kuriositäten der beiden Seiten 229 und 230. Auf Seite 234 hätte man ruhig den deutschen Text der "Wasser-Charta" des Europarates beiziehen dürfen: Ein "Gewässer" ist. keine "Quelle". Sind "Communications Arten Kommunikations-Künste, heisst José Delago nicht Delgado und ist er nicht eher Psychologieprofessor als Physiologe, kann man den Hirntod als "Stillstand des Gehirns" bezeichnen?

 

Calder bestreicht sämtliche Sektoren, die auch Steinbuch abgefahren hat, und lässt sich zusätzlich zu den Problemen der Dritten Welt, oder Genmanipulation, der Drogen und Weltraumfahrt aus. Hier gilt, wie bei vielen Anhäufungen der letzten Zeit: Weniger wäre mehr gewesen. Seine Ausführungen zur Verflechtung oder Hassliebe zwischen Politik und Wissenschaft verdienten nämlich grösste Beachtung. Doch wer klaubt schon gerne Bedenkenswertes aus einem Wirrwarr von Namen, Daten und Fakten heraus.

 

"Die Argumente sind oft vielleicht nicht völlig ausdiskutiert, denn ich wollte keine kritische Gelehrtenarbeit schreiben." Dieses Geständnis Calders mag` in seiner Naivität entwaffnend sein doch davon haben wir heute genug. Es wäre an der Zeit, dass nur noch Werke auf den Büchermarkt geschmissen würden, die durchdacht sind - sonst bringt man auch die Zukunftsplanung in Misskredit. Und das kann sich die wissenschaftliche Welt kaum noch leisten.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 5. Januar 1972

 


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