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Fritz Wartenweiler: Kampf für die Kommenden. Natur gegen Technik - Technik gegen Natur? Rotapfel-Verlag, Zürich. 1972.

Barbara Ward/René Dubos: Wie retten wir unsere Erde? Umweltschutz: Bilanz und Prognose. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 1972; Sonderausgabe 1976 (engl. 1972; als Penguin-Book 1973; als Norton-Paperback 1983.

 

 

"Wir bangen um das Ganze, um den Menschen überhaupt, das menschliche Geschlecht.“ So eröffnet der 83jährige Fritz Wartenweiler [1889-1985] sein neuestes Werk: "Kampf für die Kommenden".

"Noch aber sieht es nicht aus als hätten wir, wir Zeitgenossen, zur Genüge davon Kenntnis genommen. Noch streiten wir um Belanglosigkeiten, während der letzte Entscheid unmittelbar vor uns steht ... Wir sind umgetrieben von allen möglichen Problemen niederen Ranges - und spüren nicht das Problem im Grunde und im Ganzen."

Der Zürcher Max Huber sah bereits:

"Die Dämonie liegt nicht in der Technik, sondern in den Menschen".

Wartenweiler doppelt nach: "Wir müssen uns vom falschen Weg abwenden, den wir bis jetzt gegangen ... Wir haben den Weg zu suchen, der uns nicht schmeichelt ... Die dringendste Aufgabe von heute heisst: Arbeit an uns selbst."

Diese Arbeit geschieht im Glauben, im Vertrauen auf Gott.

"Unsere Hauptaufgabe wird sein: daran zu arbeiten, dass Gottes Wille geschieht - soviel wie möglich mit unserm freudigen Willen ... Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, Gottes Wille, die Liebe im Leben."

 

Wartenweilers Buch mag unzeitgemäss sein, doch die ernsthaften und wesentlichen Schriften sind das meistens. Ein Buch mit Herzblut und Herzensgüte geschrieben, wer achtet sein? Dabei geht es uns alle an: Schüler wie Eltern, Besorgte und Entmutigte. Deshalb spricht er den Leser mit Du an. Seinem Appell zur Umkehr kann man sich kaum entziehen.

Seine "Vorbilder" sind Leonhard Ragaz, Albert Schweitzer und Fridtjof Nansen, Gandhi und Martin Luther King, Kämpfer für Freiheit, Frieden und Liebe unter den Menschen.

 

Anhand einzelner Beispiele schildert er die Überwindung des Bösen und des Leidens: David Wilkerson, Don Benedikt und Bill Webber nahmen sich der Verirrten und Rauschgiftsüchtigen in East Hartem, Annie Skau der Kranken in China und Hongkong an, der gelähmte Rolf Arnkil suchte nach dem Sinn des Lebens, der stimmlose Arnold vollzog den Weg von Dantes "Purgatorio" zum "Paradiso", der Arzt Tom Dooley heilte und half in Haiphong und Laos und gründete die MEDICO (Medical International Cooperation Organisation), Dom Helder Camara predigt und kämpft in Brasilien für die Entrechteten und den Frieden, Danilo Dolci setzt sich für die sizilianischen Landarbeiter und Erdbebengeschädigten ein, ficht mit der Mafia und eröffnete das Spital von Corleone.

 

Dies sind Beispiele für Mut und Einsatz, getragen von Hoffnung und Menschlichkeit.

 

Umweltschutz ist also zuerst Schutz und Entfaltung der Innenwelt, der innern Kräfte des Menschen: "Lernen, so zu leben, wie es für die Kommenden am erspriesslichsten ist".

 

Was Wartenweiler jedoch nicht sieht, ist die auch kulturgeschichtlich belegbare Tatsache, dass wir an einem Wendepunkt der Weltgeschichte stehen. Es geht heute um mehr als tätige Nächstenliebe und Bekämpfung von Übelständen. Wir treiben auf eine ökologische Katastrophe zu. Die ganze Erde ist in Gefahr, nicht nur der kranke, verletzte, ausgebeutete, erniedrigte und gequälte Mitmensch.

Diese globale Bedrohung ist neu; sie hat sich erbarmungslos auf das bisherige, oft unsägliche Leid des Menschen aufgepfropft. Ihr Ausmass ist von noch ganz andern Dimensionen als Feudalismus und Sklaverei, als Stammesfehden und Eroberungsfeldzüge, Elend, Armut und Hunger.

 

„Wie retten wir die Erde?“

 

"Die zwei Welten des Menschen, die ererbte Biosphäre und die selbstgeschaffene Technosphäre sind aus dem Gleichgewicht geraten", schreiben Barbara Ward [1914-1981] und René Dubos [1901-1982] in ihrer unter dem Patronat der Umweltschutz-Konferenz der Vereinten Nationen herausgegebenen Studie "Wie retten wir die Erde?".

 

Es ist ein kurioser Bericht, der unter Mitwirkung von 152 Beratern aus 58 Ländern - darunter die Schweizer Jean G. Baer und Jacques Piccard - für die Stockholmer Konferenz vom letzten Sommer zusammengestellt wurde. Zwar leicht lesbar und verständlich geschrieben, gibt er ein umfassendes Panorama der Umweltproblematik, doch da er zuwenig übersichtlich gegliedert, zuwenig präzis und straff ist, verwirrt er den Leser ungemein. Einerseits könnte er geradezu als Handbuch dienen, anderseits wühlt er den Benützer durch den raschen Wechsel von Pessimismus und "nüchternem Optimismus" auf.

 

Das liegt unzweifelhaft an der ungeheuren Komplexität und Vielschichtigkeit der Gegenwart und ihrer gigantischen Aufgaben, zu deren Bewältigung es nicht nur Pestalozzis und Dunants, sondern ebensosehr Kulturkritiker, kenntnisreiche Wissenschafter und entschlossene Technokraten braucht. Die vollumfängliche Anwendung von Herz und Kopf, Wissen wie Güte, Einsicht und Mitleid, Spontaneität wie Planung ist vonnöten, soll das Unheil der Ausrottung der Menschheit abgewendet werden.

 

Man darf dabei nicht nur, wie es auch Wartenweiler tut, an Atombomben, biologische und chemische Waffen, sondern muss auch an die Verschmutzung und Vergiftung der Umwelt, Verschandelung, Zerstörung und Ausbeutung der Natur, an Überproduktion und -konsum, Abfall, Verstädterung und Verkehrsmisere denken. Wir sind damit auf dem besten Weg, das technische wie das ökologische Gleichgewicht plump zu zerschlagen.

 

Wie konnte es soweit kommen?

 

Asphalt und Beton, Maschinen und Generatoren, Kunststoffe, Elektronik und Kernspaltung, Dampfer, Bahnen, Rundfunk, Flugzeuge und Autos, Welthandel, Tourismus, Hygiene, Medikamente und Werbung haben die Welt und unsere Lebensweisen von Grund auf und in ungeahntem Masse verändert. So sehr und so unbedacht, dass die Autoren zum Schluss kommen:

"Wenn alles, was der Mensch in den kommenden Jahrzehnten aufbieten kann, die gleiche Kombination an wissenschaftlichem Trieb, wirtschaftlicher Habgier und nationaler Arroganz aufweist, dann können wir die Chancen, dass bei Erreichen des Jahres 2000 unser Planet noch sicher funktioniert und unsere Menschheit noch lebensfähig ist, nicht sehr hoch veranschlagen."

 

Gut, mit den "unverantwortlichen Praktiken der Vergangenheit" muss aufgeräumt werden. Wenn aber, wie Wartenweiler zeigt, noch nicht einmal die Probleme des industriellen Zeitalters - und in diesem Bereich bewegt er sich ausschliesslich - gelöst werden konnten, wie vermögen dann die weit darüber hinausgehenden Probleme der nachindustriellen Gesellschaft auch nur annähernd verarbeitet und einer Lösung zugeführt werden?

 

Selbstverständlich gibt es Vorschläge. Sie reichen über

  • den Erlass von Gesetzen, Vorschriften und Verboten über
  • die Erhebung von Geldstrafen und Steuern und
  • die Durchführung technischer Kontrollen, Massnahmen und "umweltfreundlicher" Verfahren bis zu
  • moralischen Appellen zu Masshalten und sinnvoller Freizeitgestaltung.

Der Haken ist nur, dass damit schon die alten Hochkulturen vor Jahrtausenden mehr schlecht als recht zu Rande kamen.

 

Bislang gibt es, soweit man blickt, nur "Ansätze" - und das ist zuwenig. Gesamtwissen, -schau und -planung haben rudimentären Charakter, überhastete Sanierungsmassnahmen können bestenfalls als Symptomtherapie gelten, wenn sie nicht sogar ebensoviel Schaden anrichten, wie sie zu beheben suchen, und die Warnungen und ethischen Devisen verpuffen ins Leere.

 

Wenn man dann noch an die ungezählten andern Problemkreise denkt, die täglich in die Massenmedien Eingang finden, wie Information, Ausbildung und Bildung, Erziehungsanstalten, Terror, Kriminalität und Strafvollzug, Unfälle und Süchte, Währung und Teuerung, Klassenkampf, Überfremdung, Rassismus, Religions- und Sexualitätsfragen, Korruption, Transparenz und Mitbestimmung, Gesundheitswesen und Altersversorgung, dann könnte man verzweifeln.

Dies obwohl beide Bücher Zuversicht vermitteln möchten.

 

Sie gehören zu den wenigen, die man gelesen haben müsste - doch ihre Lektüre macht nicht froh. Es scheint eine schreckliche Zeit zu sein, in der wir leben. "Der Mensch muss sich seiner Verantwortlichkeit als Verwalter der Erde voll bewusst sein", fordern Ward und Dubos. Er muss aber auch - wie Wartenweiler zeigt - die Verantwortung seinem Mitmenschen gegenüber sehen.  Er braucht Moral und technisches Können, Weisheit und Organisation, Musse und Leistung.

Übersteigen diese mehrfach doppelten Aufgaben die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen?

 

Erschienen in der Zürichsee-Zeitung, 30. März 1973

 


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