Home Die Welt durch gebrauchte Socken gefiltert

 

Don Widener: Kein Platz für Menschen. Der programmierte Selbstmord. Verlag Goverts, Stuttgart 1971; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag 1972

(engl.: Timetable for Disaster. Los Angeles: Nash 1970).

 

Hans Reimer: Müllplanet Erde. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 1971; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag 1973.

 

 

 

Richard Kaufmann leitet die von ihm wenig überzeugend geleistete Übersetzung aus dem Amerikanischen mit dem Hinweis auf die menschliche Dummheit, die wirtschaftlich-politische Verflechtung und die Tatsache ein, dass "alle Errungenschaften Nordamerikas mit einem Verzug von drei bis sieben Jahren bei uns einzutreffen pflegen" - auch die ökologische Krise.

 

Don Widener berichtet mit viel Humor - Galgenhumor? -, wie Rahel Carson ("Der stumme Frühling“, 1962), die Vorkämpferin gegen DDT und Pestizide, als verrücktes altes Mädchen und "Vogelbeobachterin" abgestempelt wurde - von der "chemisch-landwirtschaftlichen Bruderschaft", also dem Gespann Shell-Chemie/ Landwirtschaftsministerium.

 

DDT hat keine einzige Schädlingsart radikal ausgelöscht, dafür 150 Arten immunisiert; seine Rückstände reichern sich in den verschiedensten Lebensmitteln, in Phytoplankton, Fischen und Vögeln an, dezimieren Fischschwärme und fördern durch Vernichtung der natürlichen Räuber der Seestern-Eier die explosionsartige Zunahme der "Dornenkronen", welche sich von Korallenriffen ernähren. (Unterdessen wurde der Gebrauch von DDT in Kanada, Zypern, Skandinavien, Ungarn, Norwegen, Japan, der BRD und – bald auch - in der Schweiz verboten; in den USA - ausser in einigen Bundesstaaten - ist das noch lange nicht vorgesehen.)

 

„Wir. Die sauberen Amerikaner.“

 

Noch in den USA glauben viele Städte, dass es "Smog bei uns nicht geben kann". Kinderglaube nennt das Widener. Erkrankungen und Tod an Lungenemphysemen nehmen zu, keine Überraschung, wenn schon Bäume (z. B. die Ponderosa-Pinien in den San Bernardino-Bergen) absterben und Mäuse eine geringere Lebensdauer im Smog haben.

Doch in Kalifornien scheint das nur wenige zu kümmern, obwohl die finanziellen Verluste der durch die Luftverschmutzung geschädigten Zitrusbäume und Zierpflanzen in diesem Staat auf eine Milliarde Franken jährlich beziffert werden. Einen Schaden von fast 50 Milliarden Franken "hat der Smog innerhalb der letzten 20 Jahre in Südkalifornien angerichtet ... Nur ein Schweizer Bankier kann solche riesigen Summen überhaupt begreifen."

 

Geradezu toll sind die Machenschaften und Absprachen der Automobilindustrie: Ausschaltung des freien Wettbewerbs bei der Erforschung und Entwicklung von Abgas-Reinigungsanlagen und von 1961 an ständige Hinausschiebung der Installation von solchen sowie Unterdrückung der Öffentlichkeitsarbeit in diesen Fragen. 1968 wurden die Luftdüsen im Vergaser bei Chevrolet vergrössert, um mehr Luft in die Zylinder zu lassen und die luftverschmutzenden Partikel im Auspuff zu verringern - das lässt dafür den Anteil an Stickoxid um das Zwei- bis Dreifache steigen. (Der neueste Slogan: „Wir. Die sauberen Amerikaner.“)

 

Blei im Gehirn

 

Ein Freund Wideners, Dr. Milton Farber, hat eine Anlage, einen "Muffler" entwickelt, der Stickstoffoxide um mehr als das Dutzendfache reduziert. Statt Blei könnte man dem Benzin Alkohol für die Klopffestigkeit zufügen.

 

50'000 bis 400’000 Kinder in den USA sollen bereits an Bleivergiftung leiden und 200 im Jahr daran sterben. Wenn man Versuchstiere Bleikonzentrationen im Luftstaub aussetzt, wie sie "auch etwa über der Schweizer Hauptstadt Bern" (2500 ppm) zu finden sind, entstehen pathologische, histologisch nachweisbare Veränderungen im Gehirn und im Rückenmark, berichtet Dr. Claire C. Patterson vom California Institute of Technology in Pasadena. (Widener muss ein Lügner sein, stellte doch die Eidgenössische Kommission für Lufthygiene Anfang dieses Jahres ausdrücklich fest, dass bislang nirgendwo, weder bei Menschen und Tieren, noch bei Pflanzen Gesundheitsschäden durch Bleiabgabe hervorgerufen worden seien.)

 

Rostwasser gegen Blutarmut?

 

Im Trinkwasser von Pasadena tauchten eines Tages Mückenlarven auf. In 96% der Wasserproben von 1100 Gemeinden wurden Pestizide festgestellt. Widener: "In meiner Heimatstadt … sieht Wasser aus der Leitung oft gestreift aus, als habe man es gerade durch gebrauchte Socken filtriert."

Als in Washington D. C. Rostwasser in der "Farbe von kräftigem Kaffee" aus den Hähnen kam, sagte der Chef der Wasserwerke: Wenn Sie "blutarm sind, dann ist dieses Wasser für Sie möglicherweise gesünder als das Wasser, das Sie bisher getrunken haben.“ Auf Kelley's Island im Eriesee wurde das mit Chemikalien behandelte Wasser leuchtend gelbgrün, der Strand dagegen blau.

 

Der „Stinkpfuhl“ Eriesee

 

Vom Eriesee hat. der Autor den "Eindruck, dass irgendwann in letzter Zeit unsere kranke Weit hier Durchfall gehabt habe". Die Rettung dieses "Stinkpfuhls" würde 60 Milliarden Dollar kosten und ein paar Generationen dauern. Der Eriesee hat eine grösste Tiefe von 60 Metern, bedeckt eine Fläche von mehr als der Hälfte der Schweiz und nimmt jährlich 160 Milliarden Liter ungeklärte Abwässer aus Städten und Industrien auf. 50 Tonnen Phosphate bleiben täglich im See und werden in organische Materie (Algen) verwandelt.

Zur Vernichtung der im See deponierten organischen Abfälle würde jährlich eine Viertelmilliarde Tonnen reiner Sauerstoff gebraucht. Zählungen der Kolibakterien an den Stränden "ergaben, dass ihre Konzentration heute tausendmal höher ist als der festgesetzte Sicherheitspegel".

 

Auch bald kein Fluss mehr ist nicht eine mit Müll, Industrieabwässern und Algen gefüllte Kloake, die womöglich noch durch ein Kernkraftwerk aufgeheizt wird. Selbst die Würmer fühlen sich darin nicht mehr wohl.

 

Eine langsame Hinrichtung

 

Der Tod kommt nicht dramatisch, es ist eher eine langsame Hinrichtung. "The Slow Guillotine" hiess denn auch ein Fernsehdokumentarfilm Wideners über die Umweltverpestung.

Städte verfallen unter Industriestaub, Verkehrs- und Baulärm, Abgasen, -fall und -wasser und erstarren in Asphalt, Beton und Glas. Durch blinde Profitgier, Gleichgültigkeit, Vertuschung und Trölerei haben wir uns selbst zum Untergang verurteilt. Selbstreinigung der Ökosphäre und ausreichende Verdünnung der Giftstoffe ist Vergangenheit.

Was tun? Harte Gesetze aufstellen und deren Einhaltung streng überwachen; Industrie und Gemeindeverwaltungen heranziehen. Phantastische Geldmittel sind einzusetzen, sollen unsere verzweifelten Bemühungen nicht dem Manne gleichen, der mit einer Hutnadel einen Kavallerieangriff aufhalten wollte.

 

Einzige Chance: Abfall-Steuer?

 

Dipl.-Ing. Dr. Hans Reimer, Müll-Fachmann, sieht dagegen wenig Chancen in Gesetzen, die nur den Teufel - missverstandene Technik - mit dem Belzebub - eine neue Technik: der Umweltschutz - austreiben.

 

Tiefgreifende gesellschaftspolitische Änderungen wären nötig. Ursachen, nicht Wirkungen wären zu bekämpfen. Methoden sind bekannt, nur Geld zu ihrer Anwendung ist nicht vorhanden.

 

Nach einer Analyse des deutschen "Abfallberges" fielen 1970 pro Kopf der Bevölkerung an:

• Hausmüll: 300 kg

•Industriemüll: 300 kg

• Mineralölhaltige Abfälle: 15-30 kg

• Kommunale und industrielle Klärschlämme, bei Reinigung aller Abwässer: 800-1000 kg

• Autoschrott: 10 kg

 

Das macht total etwa 1½ Tonnen oder 3 Kubikmeter. Davon sind 100 kg "lebensnotwendig" - "der Rest entfällt auf manipulierten Massenkonsum".

Hinzu kommt, dass aus Schornsteinen und Auspufftöpfen jährlich 350 kg pro Einwohner staub- und gasförmige Verunreinigungen in die Luft gepufft werden.

 

Nochmals: Was tun? Die Abfälle sind kontrolliert zu beseitigen, und eine bessere Zerstörbarkeit der Produkte der Technik nach ihrer Verwendung ist anzustreben. Abfall-Steuern könnten eingeführt werden; Reimer schlägt 65 DM jährlich vor. (Am 1./2. Mai 1971 schickten die Luzerner die Erhebung einer Kehrichtabfuhrgebühr - 50 Franken pro Haushalt - massiv bachab.)

Parallel dazu müsste Public Relations für Umweltschutz betrieben werden. Erforderlich wäre auch überregionale Infrastrukturplanung: Umweltschutz ist integriert, nicht aufgesplittert zu betreiben.

 

Drastische Fotos sowie zahlreiche Tabellen und Zeichnungen von Müllverwertungsanlagen beschliessen den aufgeblasenen, aber informativen. Band.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 19. Mai 1971

 



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