Home Geschichte der Freimaurerei - neu gelesen

                     Kritik und Zusammenfassung

 

 

Andreas Gössling: Die Freimaurer. Weltverschwörer oder Menschenfreunde? München: Knaur Taschenbuch 2007.

 

 

Inhalt

Ein romaneskes Sachbuch

Clever zitiert, sauber gegliedert

Gespielte Entrüstung – leichthändige Zurückdatierung

Die Freimaurer sind Menschenfreunde, keine Weltverschwörer

Die Gretchenfrage: Warum traten wohlhabende und belesene Männern den Steinmetzinnungen bei?

„Ähnlichkeit“ mit Templern, Jesuiten, Suque, Isismysterien und Mithraskult

Hypothese: Die Steinmetzen verfügten über „hermetisches Geheimwissen“

Die Hiramslegende als „verschlüsselte kabbalistische Handlungsanweisung“

Originelle Idee: 1717 war ein Putsch der rationalistischen Aufklärer

Gleichwohl glüht im Innersten noch ein „archaischer Kern“

Die „atavistischen Relikte“ sind feierlich und seicht

1650-1750: Massenbewegung – Niedergang – explosionsartige Vermehrung

Die Hochgrade: Eruptionen, Fieberschübe, aufgepfropft

Freimaurerei heute: Statt Mystik und Magie Toleranz und Ethik

Freimaurerei morgen: Rückkehr zu Goldmacherei und magischen Handlungen?

Einige Fehler wären zu berichtigen

Fazit: unentschlossenen Aussagen, historisch schwammig

 

 

Ein romaneskes Sachbuch

 

Nach der ersten Lektüre denkt man erfreut: „Gut gemacht“. Je länger man dann den Inhalt analysiert, verändert sich das Urteil über „Gut gemeint“ zu: „Schlecht gemacht. Schade.“

 

Dieses handliche, fast 300seitige Taschenbuch hinterlässt also einen zwiespältigen Eindruck. Auf der Basis von bloss vier Büchern und einem Lexikon ist es dem Autor gelungen, eine spannende Geschichte der Freimaurerei zu schreiben und diese erst noch unter originellen Ansätzen darzustellen. Leider ist er in seinen Behauptungen und Argumenten inkonsequent. Der Autor hat Angst vor seinem eigenen Mut. Auch geht er mit Vermutungen und Zeiträumen recht grosszügig um. Das verträgt sich nicht mit dem, was historisch als einigermassen gesichert gilt. Daher kann man kann sich fragen, für wen hat er dieses Buch geschrieben und wozu.

 

Andreas Gössling (*1958) hat mit 27 Jahren in Germanistik doktoriert und begann bald darauf historische Romane und Sachbücher zu verfassen. Er befleissigt sich einer blumigen Sprache. Daher könnte man sein Werk als romaneskes Sachbuch bezeichnen. Als schöne Literatur liest es sich leicht, als Sachbuch ernst genommen, macht es einen zunehmend konfuser.

 

Clever zitiert, sauber gegliedert

 

Im Zitieren ist Gössling ein Schlitzohr. Er stützt sich auf die Werke von Lennhoff/ Posner (1932), Will-Erich Peuckert (1951), Charles von Bokor (1980; frz. 1977), Hans Biedermann (1986) und Dieter A. Binder (1988). Damit diese schmale Basis nicht so auffällt, bedient er sich beim Zitieren eines Tricks. Er gibt als Quellen solche an (z. B. eine „Ritualkunde“, Imhofs „Werklehre“; Wolfgang Scherpe, Serge Hutin, Erich Neumann), die Biedermann und Binder in ihren Anmerkungen nachweisen.

 

Der Aufbau ist ebenfalls geschickt, nämlich einigermassen chronologisch, seit etwa 1250 oder 1350 (35-37). Die Einteilung in 16 Kapitel ist sauber, allerdings ist die Bezeichnung „Maurerreisen“ dafür nicht sinnvoll, denn die Maurer machen 3, 5 oder 2 Reisen (z. B. 109, 171, 231). Gösslings Reisen führen - in seinen Augen - in eine „bizarre Welt“ (22) oder, in einer seiner krampfhaft bildhaften Formulierungen, „durch Labyrinthe und Ruinen des freimaurerischen Tempels“ (23; ähnl. 247).

 

  • Vier Kapitel gelten der Herkunft der Freimaurerei aus den Vereinigungen der Steinmetzen, sodann ihrer Verwandtschaft mit Isismysterien und Mithraskult (unter dem reisserischen Titel: „Mana, Stierblut und der Phallus eines Gottes“), Templern und Rosenkreuzern.
  • Fünf weitere Reisen führen durch die moderne Freimaurerei des 18. Jahrhunderts, samt Illuminaten und ägyptischer Maurerei.
  • Drei der Kapitel beschreiben - geschickt unter die andern eingestreut und sehr genau nach Binder - die Einführung des Lehrlings, seine Beförderung  zum Gesellen und die Erhebung zum Meister, wie sie heute in Deutschland vorgenommen werden, samt Zeichen, Wort und Griff.
  • In drei weiteren Kapiteln kommen die wichtigsten Gegner der Freimaurerei (katholische Kirche resp. die Päpste, absolutistische Herrscher, Verschwörungsphantasten, Nationalsozialisten) zu Wort.
  • Das Schlusskapitel stellt der weiblichen Hälfte der Menschheit die Frage, ob sie „ausgerechnet in den Ruinen eines männerbündischen Tempels“ (247) im Namen der Gleichberechtigung an Ritualen teilhaben möchten.

 

Die Liste „berühmte Brüder“ im Anhang enthält Angaben zu 69 Persönlichkeiten (darunter 1 Schweizer) und ist (abgesehen von Tschiang-kai-schek) tadellos. Das „kleine Maurerlexikon“ (264-282) ist zwar sachlich korrekt, aber unnötig; es wiederholt vieles, was vorher dargestellt wurde.

Ein Register fehlt (daher hier in dieser Rezension die vielen Seitenangaben).

 

Gespielte Entrüstung – leichthändige Zurückdatierung

 

Dauernd stichelt Gössling gegen die „orthodoxen masonischen Geschichtsschreiber“ (57) und die „aufgeklärte“, „blaue“ resp. „orthodoxe“ Freimaurerei. Ständig kritisiert er: „Bis heute gebärdet sich die englische Grossloge als eine Art Vatikan der Bewegung, als Wächter der reinen Lehre“ (11; ähnl. 43, 92-96, 182, 190-191, 201): Er bezeichnet sie auch gerne als Londoner „Gralshüter“ (11, 19, 87, 95, 123, 190, 191, 241, 246, 269).

 

Mehrfach entrüstet er sich, dass die „blaue“ Freimaurerei, gemäss den Alten Landmarken des amerikanischen Arztes Albert Gallatin Mackey von 1858 keine Frauen, Krüppel und Sklaven aufnimmt (19, 34, 239, 271; ähnl. 100).

 

Zweimal macht er sich darüber lustig, dass die Freimaurer einen Schurz tragen, „älter als das golden Vlies und der Römische Adler“ (119, 279).

 

Leichthändig datiert er gewisse Vermutungen weiter zurück.

Beispielsweise: Seit dem 13. Jahrhundert bestehe zwischen den Templern und den Freimaurern „eine innige Verbindung“ (51) – und zwar „ohne Zweifel“ (52).

Oder: In die Maurerlogen des „französischen Grand Orient … sollen bereits Anfang des 14. Jahrhunderts zahlreiche verfolgte Tempelherren eingetreten sein“ (54).

Oder: Der Vatikan habe schon „vor einem halben Jahrtausend“ die masonische Bruderschaft scharf verurteilt (250).

Schliesslich: Ein altenglisches Ritual aus der Hetzschrift „Sarsena“ von 1816, das Will-Erich Peuckert (1988, 607) „möglicherweise bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts“ hinaufreichen lässt, ist nach Gössling „wahrscheinlich auch bereits früher praktiziert worden“ (89).

 

Die Freimaurer sind Menschenfreunde, keine Weltverschwörer

 

Worum geht es Gössling? Jedenfalls nicht um die im Untertitel zu seinem Buch aufgespannte Alternative: „Weltverschwörer oder Menschenfreunde?“

 

Das Thema „Menschenfreunde“ wird erst auf der zweitletzten Seite (251) des Haupttextes kurz gestreift. Gössling meint, dass der Freimaurer „Nächstenliebe nicht nur im Mund führt, sondern auch praktiziert“, weil der Mitgliederbeitrag angeblich zwei Prozent des Jahreseinkommens beträgt [auch S. 13] und „regelmässige Spenden für karitative Zwecke“  abgegeben werden. Für die „zwei Prozent“  stützt er sich auf Binder, der einen solchen Beschluss aus dem Jahre 1953 der Wiener „Loge Gleichheit“ erwähnt. Ob das bei andern Logen auch so ist, darf bezweifelt werden.

 

Für „Weltverschwörung“ hat Gössling keine Anhaltspunkte gefunden:

„Trotz intensivster Nachforschung konnte der tausendfach geäusserte Verdacht nie auch nur mit dem Hauch eines Beweises untermauert werden.

Doch ebenso gewiss gab es in politisch bewegten Zeiten und Ländern höchst einflussreiche Logen und Brüder, von denen massgebliche revolutionäre Impulse oder fortschrittliche Ideen und Programme ausgingen“ (251).

Etwas weniger pointiert ist Gössling an andern Stellen (z. B. 13-14, 20, 126, 130, 138, 145-155, 162, 207, 222).

 

Die Gretchenfrage: Warum traten wohlhabende und belesene Männern den Steinmetzinnungen bei?

 

Worum geht es denn Gössling? Die Grundfrage, die er stellt, ist klug. Sie lautet: Warum um Himmels Willen haben sich in der Zeit von 1250 bis 1700 Geistliche und Adelige, Gelehrte und Kaufleute den Logen der Steinmetzen angeschlossen, also Logen von Menschen, die fast ausnahmslos Analphabeten waren und im Staub arbeiteten? Gössling formuliert es wie üblich blumiger: „Was könnte Scharen wohlhabender und belesener Männer überhaupt bewogen haben, der Steinmetzinnung beizutreten?“ (37; ähnl. 39).

 

Diese Frage wurde bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet (siehe: Zur Herkunft der Freimaurerei aus dem Bauwesen - Teil V: Gründe für den Beitritt von Nicht-Maurern zu Maurerlogen). Gössling vermutet, es müsse

„im verborgenen Innersten dieser Innungen einen geistigen oder spirituellen Magneten von überragender Anziehungskraft gegeben haben. Einen Schatz, den die in heller Schar herbeieilenden Novizen in den Logen nicht nur vermuteten, sondern tatsächlich vorfanden“ (41).

Dieser Schatz ist nun aber nicht etwa das „Erbe der Tempelritter“, wie etliche Gelehrte vermuten, sondern „das hermetische Geheimwissen der pansophischen Alchimisten“ (42).

 

Aber so einfach kann man die Sache mit den Tempelrittern nicht erledigen. Gössling muss noch eine Behauptung von Bokors aufnehmen:

„Ohne Zweifel“ kamen „bereits im 13. Jahrhundert zahllose Maurer und Steinmetzen auf templerischem Boden mit spekulationsfreudigen Philosophen und tiefgründigen Mystikern zusammen. Diesen Freigeistern, Alchimisten und Esoterikern bot ihrerseits die enge Gemeinschaft mit den Werkleuten reichlich Gelegenheit, über die symbolträchtige Erhabenheit des maurerischen und baumeisterlichen Wirkens zu sinnieren und zu disputieren“ (52-53).

 

„Ähnlichkeit“ mit Templern, Jesuiten, Suque, Isismysterien und Mithraskult

 

Doch das bedeutet noch keine „Abstammung“ (53), höchstens „eine engere Seelenverwandtschaft“ (67) und  „gewisse Verwandtschaften“, beispielsweise das „Aufnahmeritual der Templer“ (59). Doch auch ein „spirituelles Erbe“ haben die Templer den Freimaurern überlassen, symbolisiert durch den „berüchtigten Baphomet“ (63). Gössling wirft ihn auch sonst gerne ins Spiel (z. B. 46, 55, 66-68, 162, 165, 213, 268, 277), wie er auch genüsslich den bei Freimaurergegnern beliebte 30. Grad eines Hochgradsystems erwähnt, den „Ritter Kadosch“ (12, 60-63, 67, 125, 213, 273, 277). Gössling kommt zum Schluss:

„Die Ähnlichkeit von Bruderschaften wie den Templern und den Freimaurern reicht sogar weitaus tiefer, als blosse Abstammung oder geschichtliche Schicksalsgemeinschaft dies jemals könnten“ (67-68).

 

Eine weitere Ähnlichkeit sieht Gössling zwischen den Jesuiten und den Freimaurern, also keine „Abstammung“, aber eine „tiefere, gleichsam archaische Verwandtschaft beider Orden“ (153). Beide sind ihrerseits „späte Erben“, „unbewusste Epigonen“ einer „uralten Tradition“. Gössling greift – anhand von Peuckert - exemplarisch heraus: „die Suque, ein atavistischer Geheimbund von den neuen Hebriden, die ägyptischen Isismysterien und schliesslich der Mithraskult“ (158).

Die Suque wie die Freimaurer sind „gleichsam ein Geheimbund ohne Geheimnis“. „Das Geheime beider Geheimbünde besteht letztlich in ihrer männerbündischen Verschworenheit“ (160). Die Rituale der Freimaurerei sind den Isismysterien, wie sie Apuleius schildert, ähnlich (167), die „Weiherituale“ dem spätrömischen Mithraskult (169). Dass die Neophyten in der Freimaurerei wie in letzterem Kult  „durch einen Rauschtrank“ verwirrt werde, oder dass es um „den Kernbestand der christlichen Glaubenslehre“, darunter die „Wiederkehr des Erlösers“ (170), gehe, ist jedoch nicht bekannt.

 

Hypothese: Die Steinmetzen verfügten über „hermetisches Geheimwissen“

 

Nun aber zum „hermetischen Geheimwissen“. Hier gerät Gössling ins Schwimmen. Im Zusammenhang mit den Suque hatte er behauptet, die Freimaurer seien „jedenfalls ohne ein Mysterium, das sich wie ein esoterischer Weisheitsschatz oder eine okkulte Zauberformel weitergeben liesse“ (160). In Zusammenhang mit den Templern behauptet er, dass die „alten Werkmaurerlogen“ kein Initiationsritual kannten (59). Und ebenfalls anhand der Ausführungen von Bokors schliesst er aus, dass die Nicht-Werkmaurer bei den Steinmetzen „esoterisches“ Wissen aus alten Zeiten oder Geheimwissen suchten (37-39).

 

Dennoch verfügte die Bruderschaft der Maurer über einen „mystischen Kern“ (32), muss es „im verborgenen Innersten dieser Innungen einen geistigen oder spirituellen Magneten von überragenden Anziehungskraft gegeben haben“ (41). Das ist also das „hermetische“ Geheimwissen. Inspiriert von Will-Erich Peuckert behauptet Gössling,

„dass die spekulative Freimaurerei über Jahrhunderte hinweg ein Hort der sogenannten pansophischen und rosenkreuzerischen Esoterik war, hermetischen Geheimlehren, deren Verfechter sich unter anderem mit Magie und künstlichem Gold beschäftigten“ (43; auch 226: „jahrhundertelang“).

Später präzisiert er:

„In der vor-'aufklärerischen’ Freimaurerei, noch im 18. und dann abermals im 19. Jahrhundert scheint die Bruderschaft ein Hort alchimistischer Spekulationen und Experimente gewesen zu sein“ (265).

 

Gössling wirft hier kühn die Jahrhunderte durcheinander. Verhältnismässig unbestritten ist der Einfluss der Rosenkreuzeridee (seit 1614) und der pansophischen Vorstösse von Jan Amos Comenius (ab 1637) auf die Entwicklung der Freimaurerei. Aber von „Jahrhunderten“ zu sprechen, ist weit übertrieben. Und dass Rosenkreuzer ab 1620 „in grossen Mengen den Freimaurerlogen beitraten“ (89) ist nicht belegt.

Diese Behauptungen nimmt er daher andernorts zurück. Er präzisiert, dass „der Drang zur Maurerloge spätestens Ende des 17. Jahrhunderts die Züge einer Massenbewegung“ annahm (41), und behauptet, „in der Freimaurerei des späten 17. Jahrhunderts“ seien die „feierlichen Rituale und Legenden der mittelalterlichen Werkmaurerei … mit pansophischen und paracelsischen Augen neu gelesen“ (86) worden. Gössling übersieht dabei wiederum, dass wir von den mittelalterlichen Ritualen nichts wissen und die Rituale der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgesprochen karg waren.

 

Die Hiramslegende als „verschlüsselte kabbalistische Handlungsanweisung“

 

Den wichtigsten Hinweis auf „beträchtliche Schätze hermetischen Geheimwissens oder zumindest esoterischer Spekulationen“ (43-44) findet Gössling in der Hiramslegende - „ein maurerischer Messias-Mythos“ (226; ähnl. 235), eine „verschlüsselte esoterische Weisheitslehre“ (70), unverhohlen „magisch-kabbalistischer Herkunft“ (237, 78; ähnl. 278). Dummerweise ist sie als Bestandteil der Freimaurerei erst nach 1717 dokumentiert – Gössling datiert sie kühn „ins Dunkel der Jahrhunderte“ davor (51). Nur so kann er behaupten, dass nämlich diese Legende „ursprünglich als verschlüsselte magisch-alchimistische Handlungsanweisung gelesen worden ist“ (76), „eine verschlüsselte kabbalistische Handlungsanweisung, die sich je nach Auslegung als alchimistische Formel zur Gewinnung des Steins der Weisen oder als magische Totenbeschwörung dechiffrieren lässt“ (79). Die Formel „Mach-benak“ entspricht der „Putrefactio“, einem Stadium im alchimistischen „Grossen Werk“, worauf bereits Biedermann mehrfach hinwies.

Daher „lässt sich kaum ernsthaft zweifeln, dass im 17. Jahrhundert und wohl auch schon davor in englischen, deutschen und französischen Logen mit beträchtlichem Eifer alchimistische Experimente durchgeführt und magische Handlungen praktiziert worden sind.
Der vatikanische Argwohn, dass die Freimaurerei über Jahrhunderte ein Bollwerk geheimer Goldmacherei und möglicherweise auch magisch-nekromantischer Versuche war, ist gewiss nicht aus der Luft gegriffen“ (80).

 

Gössling wirft hier erneut die Jahrhunderte durcheinander. Die erste vatikanische Bulle gegen die Freimaurerei wurde von Papst Klemens XII. 1738 erlassen (140).

 

Originelle Idee: 1717 war ein Putsch der rationalistischen Aufklärer

 

Das Faszinierende an der Freimaurerei sind für Gössling offenbar ihre archaischen Wurzeln. Also alles, was vor der offiziellen Gründung der modernen Freimaurerei 1717 passiert ist. Die Ereignisse in diesem Jahr sieht er als „umsturzartige“ (51) oder „rigide Neugründung“ (68), „Säuberungsaktion“ (95), ja als Putsch (95; ähnl. 87, 88, 93).

 

Mit ihrem „überzogenen“ (12), „ethisch verbrämten“ (20), „flachen“ (86), „krassen“ (93, 135) Rationalismus der sogenannten „Aufklärer“ haben die vier Gründerlogen einen eklatanten „Missbrauch“ der masonischen Bewegung betrieben: Sie haben versucht, „die neubegründete Bruderschaft von ihren vermeintlich ‚irrationalistischen’ Quellen abzuschneiden“ (203).

„In einem nahezu beispiellosen Gewaltakt hatten die Begründer der ‚modernen’ Freimaurerei diese ehrwürdige Bruderschaft von einem Hort des ‚Irrationalismus’ handstreichartig in einen Tempel der Vernunftanbetung umgewandelt“ (93).

 

Gössling sieht die „heutigen ‚blauen’ Maurer bloss noch als blasse Nachlassverwalter einer Bewegung, die ihre eigenen vitalsten Aspekte verleugnet“ (21). Dass die „Johannisbruderschaft“ heute politische Einflussnahme und esoterische Spekulation angeblich verpönt, hat zu einer „geistigen Austrocknung“ geführt, sodass sie heute „unter Überalterung und spiritueller Verarmung leidet“ (13). Noch drastischer: „Überalterung und Mitgliederschwund gehen Hand in Hand mit geistiger und spiritueller Auszehrung“ (249). Die „vergreisende Bruderschaft“ (80) droht, sich in „Nichtigkeit“ zu verlieren (180).

 

Wer heute der Freimaurerei angehört, bedarf einer „psychologischen Unbedarftheit, einer geistigen und ästhetischen Anspruchslosigkeit“ (113).

 

Gleichwohl glüht im Innersten noch ein „archaischer Kern“

 

Aber auch hier ist Gössling unentschlossen: Die moderne Freimaurerei hat nämlich auch „wichtige Komponenten der alten Freimaurerei und der archaischen Männer-Mysterienbünde in ihrem Brauchtum bewahrt“ (120). Ja, es handelt sich auch bei der heutigen Maurerei „nach wie vor um einen zuinnerst ‚archaischen’ Männerbund“ (239). Sie hat verfügt über „mysteriöse Bräuche und archaisch anmutende Statuten“ (156). Ihrer Organisationsform und ihrem Brauchtum nach“ gleicht auch die heutige Freimaurerei „noch immer jenen mittelalterlichen Ritterorden“ (137).

 

Zwar hat sich die „blaue“ Bruderschaft seit 1717 „auf einen geistig flachen, spirituell blassen Kurs ‚aufgeklärter’ Rationalität festgelegt. Gleichwohl glüht jener archaische Kern, von dem einst ihre magisch-magnetische Faszination ausstrahlte, noch immer im Innersten der Freimaurerei“ (19). Es sind „gerade diese atavistischen Relikte, die die Bruderschaft der symbolischen Maurer auch heute noch von anderen liberal-philanthropischen Zusammenschlüssen unterscheidet“ (21).

 

Die „atavistischen Relikte“ sind feierlich und seicht

 

Aber gerade diese „Relikte“ bezeichnet er als „gekünstelte“ Bildersprache (15, 173) und „altertümliche Allegorik“, und er beklagt die Pflege „theatralischer Rituale … wie in einer mittelalterlichen oder antiken Zeremonie“ (15). Die Rituale sind zwar „feierlich“ (78, 128, 244), sogar „mystische Zeremonien“ (156) - aber voll „plätschernder Redseligkeit“ (110), gekennzeichnet durch „geistig-seelische Seichtheit“ (114). Im modernen Meisterritual ist das Geheimnis zu einer „Rundreise durch erbauliche Platitüden verflacht“ (231). Die moderne Freimaurerei hat „die einst tiefgründige Symbolik zu oberflächlicher Allegorik umgedeutet“ (112; ähnl. 177).

 

Dennoch lobt Gössling die moderne Freimaurerei noch fast 100 Jahre lang, denn er schreibt:

„Vom Barock bis zur romantischen Epoche [also ca. 1600-1800 oder gar 1850] vermochte die Bruderschaft etliche der brillantesten Denker und Künstler ihrer Zeit anzuziehen. Damals waren die Logen in ganz Europa Zentren lebhafter geistiger Auseinandersetzung, Schauplätze der spannendsten und originellsten wissenschaftlichen und künstlerischen Experimente“ (80; ähnl. 129-130).

 

Noch unschärfer ist Gössling im Nachwort:

„Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen von der Freimaurerei in Europa keine nennenswerten geistigen Impulse mehr aus …
In den Vereinigten Staaten von Amerika erfreuen sich die Freimaurer dagegen immer noch grosser Beliebtheit … Doch als Labors für neue Philosophien, politische Programme oder spirituelle Spekulationen sind auch die US-Logen seit langem bedeutungslos“ (248).“

 

1650-1750: Massenbewegung – Niedergang – explosionsartige Vermehrung

 

Zwei Fragen stellt Gössling nicht:

 

1. Weshalb setzte nach dem „boomhaften Aufschwung der symbolischen Freimaurerei im 17. Jahrhundert“ ein Niedergang ein?  Weshalb waren im Jahre 1717 die vier Gründungslogen der modernen Freimaurerei „nahezu bedeutungslos“ und hatten drei von ihnen „nicht einmal zwanzig Mitglieder“ (92)?

 

2. Weshalb kam es zu dem „steilen wie stetigen gesellschaftlichen Auftrieb, von dem die englischen Grossloge nur wenige Jahre später ergriffen wurde“ (92-93)? Denn 15 Jahre später zählte sie, laut Gössling, bereits 109 Logen und hatte bereits Ableger in Frankreich, Spanien, Irland, Holland, Russland und Amerika (120) – und das war vor der Ausbildung der Hochgrade.

 

Die Hochgrade: Eruptionen, Fieberschübe, aufgepfropft

 

Die Anfänge der Hochgrade liegen in den Jahren 1740 bis 1750.

 

Wiederum versucht Gössling erfolglos zu präzisieren. Dass zumindest im 18. Jahrhundert, also nach der Neugründung, „die Logen in Paris oder Madrid, Wien oder Berlin zu Ideenschmieden und Experimentierlaboren der spannendsten und kühnsten Ideen und Programme“ (191) wurden, lag an den „Häretikern“ der Johannismaurerei, den Gründern und Betreibern der Hochgradsysteme oder Orden, also etwa der Strikten Observanz des Reichsfreiherrn von Hund und der ägyptischen Maurerei von Cagliostro oder der Illuminaten sowie Gold- und Rosenkreuzer.

 

Das waren allerdings nur kurzlebige Eruptionen (20) oder „Fieberschübe“ (68). Gössling zeigt dafür Verständnis:

„Die Begeisterung für mystische Erfahrungen und magische Praktiken, die damals weite Teile gerade der Gebildeten in Europa erfasste, zeugte zwar gewiss von einer ‚Krise der Aufklärung’. Aber deren Ursachen lagen sehr viel eher im Programm der ‚Aufklärer’ selbst, die wesentliche Bereiche menschlicher Bedürfnisse und Erfahrungsweisen schlichtweg ausblendeten oder allenfalls in rationalistischer Verzerrung zur Kenntnis nahmen“ (201-202).
Doch im nächsten Satz nimmt sich Gössling wieder zurück: „Letztlich war die Gold- und Rosenkreuzerei wohl nur ein verworrener Aufguss älterer Weisheitslehren“ (202). Anderswo spricht er sogar vom „seichten Obskurantismus“ der Gold- und Rosenkreuzer (87).

 

Generell negativ äussert er sich im „kleinen Maurerlexikon“:

„Auf die drei Grade der Johannismaurerei wurden mehr und mehr Hochgrade mit phantastischen Bezeichnungen, bizarrem Brauchtum und alchimistisch-okkultistischen Inhalten aufgepfropft“ (370).

Oder vor einem politischen Hintergrund:

„Diese Hochgradfreimaurerei projizierte letztlich die absolutistisch erstarrte Gesellschaft in die Logen hinein und verwandelte so die Bruderschaft in bizarre Zerrbilder der real bestehenden Standesgegensätze“ (125):

 

Freimaurerei heute: Statt Mystik und Magie Toleranz und Ethik

 

Gössling wirft der modernen „blauen“ Freimaurerei vor: „Statt zu Mystik und Magie sollen die rituellen ‚Arbeiten’ und ‚Reisen’ … zu Toleranz und Ethik hinführen“ (12). Oder:

Die „magisch-alchimistischen Vorstellungen“ der Hiramslegende der früheren Jahrhunderte dürfen „nur noch als symbolisch chiffriertes ethisch-humanitäres Programm gelesen werden“ (70; ähnl. 49, 78).
Die rosenkreuzerische Freimaurerei hatte die Legende noch „als komplexe alchimistische und pansophische Chiffre interpretiert. In der ‚aufgeklärten’ Maurerei aber wird auch diese tiefgründige Erzählung von Tod und Wiedergeburt des zauberkräftigen Meisters zu einem Sammelsurium moralischer Ermahnungen und erbaulicher Betrachtungen ohne inneren Zusammenhang umgedeutet …
Der ‚aufgeklärte’ Meisterkandidat wird nicht mehr metaphysischer Erfahrungen teilhaftig, sondern hauptsächlich an physische Gesetzmässigkeiten erinnert“ (226; vgl. 278).

 

Oder noch drastischer: Das Ausziehen des linken Schuhs vor der Initiation könnte an „das Hinken des Bocksbeinigen“ gemahnen; die Aufklärer jedoch deuten diese Symbolik um: „Das Hinken ist ein Archetypus für den Lichtsucher“ (107).

 

Kurz: In der Johannismaurerei ist „der ‚Lichtkult eines höheren Lebens’ … zur ‚aufgeklärten’ Vergötzung des Verstandes verflacht“ (234). Sie propagiert „den Weg der reinen Verstandeserkenntnis“ (90), ein „Programm ethischer Vernunfterziehung“ (128), das „karge Mysterium der Selbsterforschung“ (108).

 

Freimaurerei morgen: Rückkehr zu Goldmacherei und magischen Handlungen?

 

Soll also die heutige Freimaurerei wieder zu einem Hort des Irrationalismus werden? Auch hier ist Gössling unentschlossen. Einmal behauptet er, die heutigen Freimaurer würden nur noch in mystischen Erlebnissen Grenzen überschreiten (19), ein andermal behauptet er, dass es die antiken Mysterien waren, die „mystische Schau und ekstatische Grenzüberschreitungen durch eine symbolische Inszenierung befördern“ wollten (110; ähnl. 190).

 

Sollen die heutigen Freimaurer wieder nach dem Stein der Weisen suchen resp. Gold machen und magische Künste praktizieren, vielleicht verbotene Praktiken, gar Totenbeschwörungen und Teufelskulte? Gössling schweigt sich darüber aus. Er verwendet aber sehr gern die Wörter: Magie, Mystik und Mystizismus, Entrückung, Ekstase. Es ist anzunehmen, dass ihm eine „Verschmelzung von Ratio, Intuition und Emotion“ (90) vorschwebt oder sogar wie bereits Johann Valentin Andreae „eine ekstatische Einheit von vernunftgelenktem Wissen und visionärem Schauen, von Ratio, Einbildungskraft und Emotion“ (81-82). Biedermann formuliert: die „Einheit von gläubiger Ergriffenheit und humaner Weltschau. Intuition und Emotion …“.

 

Einige Fehler wären zu berichtigen

 

Zu berichtigen wären einige Fehler: Die Pyramide auf der amerikanischen 1-Dollar-Note hat nicht 33 Stufen, sondern nur 13 (145), Abbé Barruels Denkwürdigkeiten erschienen 1800 nicht in Augsburg (148). Alec Mellors Buch erschien nicht 1937 (284), sondern 1967. Das Zitat über die „Sekten der Freimaurer“ (148-149) stammt nicht von Jean-Baptiste Fiard, sondern aus einem Werk, das 120 Jahre später erschien. Die Auflösung der „Strikten Observanz“ fand 1782 nicht in Hanau (194) statt, sondern in Wilhelmsbad, eine halbe Stunde entfernt.

Voltaire hatte keine Gattin (243 - gemeint ist Madame Helvétius). Thomas Jefferson (145) war kein Freimaurer. Cagliostro ist nicht „nach allem was man heute weiss“ (181) Freimaurer gewesen, denn es gibt keine urkundlichen Nachweise dafür – und er lebte auch nicht im 19. Jahrhundert (43). Auch die Illuminaten sowie Gold- und Rosenkreuzer wirkten nicht im 19. Jahrhundert (20).

Die Epoche des Rokoko (1730-70) war vor den sog. Adoptionslogen (241) zu Ende; diese Logen sind auch nicht zum „Zeitpunkt“ der ersten päpstlichen Bulle gegen die Freimaurer, 1738, gegründet worden (141-14; die erste nicht 1774 (242), sondern 1775 (richtig: 264).

 

Die „Magistri Comancini“ nach der Völkerwanderung sind blosse Legende (31). Das Cook-Manuskript (richtig: Cooke) stammt nicht aus dem 14. Jahrhundert (70, 88), sondern von 1410 bis 1450. Das Konstitutionenbuch datiert nicht von 1721 (60, 95; vgl. 24) und ist nur der Sache nach als „Neu“ (wie bei von Bokor) zu bezeichnen, denn der Titel heisst bloss „The Constitutions“. Die „Alten Landmarken“ wurden nicht bereits darin veröffentlicht (265), sondern erst über 100 Jahre später. Auch das Aufnahmeritual – laut Gössling „drei Prüfungen, Vereidigung und Einkleidung der Novizen“ (60) – wird darin nicht beschrieben Ebenfalls ist das Zitat über den „Grossen Baumeister der Welten“ (133) nicht darin zu finden, sondern erst 250 Jahre später.

Dass bereits Comenius und Paracelsus das dem flammenden Stern „eingeschrieben G“ gekannt haben (179), ist stark zu bezweifeln.

Zum Gesellen wird der Lehrling „befördert“, nicht erhoben (171, 172). Wie Guido Grandt im „Schwarzbuch Freimaurerei“ (2007) gibt Gössling die fünf Punkte der Meisterschaft in einer unrichtigen Abfolge wieder (237), nicht viel genauer ist er 160 Seiten vorher (78).

 

Fazit: unentschlossenen Aussagen, historisch schwammig

 

Andreas Gössling mag weder die „blaue“ Freimaurerei noch die „roten“ Hochgrade. Er schwärmt für die Zeit vor der Gründung der modernen Freimaurerei (1717), also für deren Vorgeschichte. Da wir über die damaligen Ereignisse und Sachverhalte fast nichts wissen, besteht Raum für Spekulationen.

 

Gösslings Ideen sind originell. Seine Aussagen sind unentschlossen, mal so, mal so. Sie sind historisch so schwammig, dass man sie nicht diskutieren kann.

 

Titel und Untertitel dieses Taschenbuches müssten lauten: „Auf der Suche nach dem vitalen Geheimnis der Freimaurer“.

 


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