Home Wort und Zahl in der biblischen Überlieferung

 

Zu den Werken

 

Friedrich Weinreb: Der göttliche Bauplan der Welt - Der Sinn der Bibel nach der ältesten jüdischen Überlieferung. Origo Verlag, Zurich, 1966; 6. Aufl. 2005 (aus d. Holl.);
ungekürzte dt. Ausgabe u. d. T.: Schöpfung im Wort. Die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung. Weiler im Allgäu: Thauros-Verlag, 955 Seiten, 1994; 2. Aufl. 2002.

Friedrich Weinreb: Die Rolle Esther - Das Buch Esther nach der ältesten jüdischen Überlieferung. Origo Verlag, Zürich, 1968; 2. Aufl. 1980 (aus. d. Holl.);
engl.: Chance. The Hidden Lord. The Amazing Scroll of Esther. Braunton: Merlin Books 1986.

 

siehe auch: Die „andere Seite im Menschen“

 

 

Aus einer alten chassidischen Familie Russlands stammt der 1910 geborene ehemalige Professor für mathematische Statistik, Friedrich Weinreb. Er studierte schon in Holland dieses Fach, leitet nun aber seit vier Jahren dort eine eigene Schule, weil er die Früchte seiner über fünfundzwanzigjährigen eingehenden Beschäftigung mit dem ältesten Gut der jüdischen Überlieferungen vermitteln möchte. [Er liess sich 1973 in Zürich nieder und starb dort 1988.]

 

Bisher sind zwei Bücher mit dieser Thematik aus seiner Hand vorhanden, die in einfacher Sprache frühes, uraltes Wissen zu neuem Leben erwecken und zwar ebenso originell wie für den Laien faszinierend.

Das erste, mit dem holländischen Titel "Die Bibel als Schöpfung", ist in einer stark gekürzten deutschen Übersetzung als "Der göttliche Bauplan der Welt" erschienen. Weinreb bespricht darin die Kernerzählung des Alten Testaments, die fünf Bücher Mose (Pentateuch), auf Hebräisch: die „Tora" (Lehre).

 

Die Buchstaben stellen Zahlen dar

 

Er benützt dazu den hebräischen Urtext der Schriftrollen, weil das Hebräische eine ganz besondere Sprache ist. Die 22 Buchstabenzeichen seines Alphabets sind erstens nur stumme Konsonanten (die Vokale werden dazu gedacht oder einfach gewusst) und stellen zweitens zugleich Zahlen dar. Dieser Zahlenwert geht mit jeder Übersetzung verloren.

 

Nun gibt es eine schriftliche Tora: die Aufzeichnung dessen, was Moses auf dem Sinai offenbart wurde. Daneben besteht die mündliche Tora, die "jüdische Überlieferung" (hebr. "Kabbala"), die nur im Gespräch vom Lehrer zum Schüler weitergegeben werden durfte (weil sie fortwährend neu gelebt werden muss) und erst später, im Laufe vieler Jahrhunderte, dann doch auch schriftlich festgehalten wurde. Sie besteht aus einer Vielzahl von Texten, die im Babylonischen und Jerusalemischen „Talmud" gesammelt und endgültig aufgeschrieben wurden.

Schriftliche und mündliche Tora gehören zusammen, benötigen und ergänzen einander, weshalb Weinreb neben den Tora-Rollen denn auch ständig auf die „mündlichen" Bibel-Kommentare, die Erklärungen ("Midrasch") zurückgreift.

Gemäss der jüdischen Orthodoxie interessiert er sich nicht für die Entstehungsgeschichte dieser beiden Textgruppen, sondern nimmt die Tora als heilige Lehre, als eine von Anfang an für Allezeit genau feststehende, unveränderliche Schrift, woran "kein Jota" (der kleinste Buchstabe) geändert werden darf. Sprache und Bibel wurden dem Menschen fertig gegeben.

 

Die Bibel als göttlicher Bauplan der Welt

 

Weinreb will die Bibel "als ein Wunder, wie das Universum eines ist" (25) zeigen. Er gibt keine moderne Bibelauslegung, sondern will nur die lange vergessene geschlossene Systematik der Bibel anhand alter Quellen neu herausarbeiten und einer breiten Leserschaft verständlich und vertraut machen. Die Tora besitzt nämlich eine ganz besondere Struktur, nicht nur "einen der Natur und dem Kosmos verwandten Aufbau", sondern "sie ist selbst eine Schöpfung, welche alle Zeiten und alle Welten zum Inhalt hat" (127), „ein noch grösseres Wunder … als die Schöpfung des Universums und des Lebens“ (301).

 

Sie ist der göttliche Bau-Plan der Welt, der Grund des Lebens, ja das Leben selbst, das leben in jeder Sekunde und in allen Lebensverhältnissen (57). Durch die Bibel wird der Schöpfung überhaupt erst Leben und Inhalt gegeben (339). Sie ist kein Geschichtsbuch, sondern ein Bericht, eine Erzählung für den Menschen, die ihm zeigt, "wie unsere Welt ist, - warum sie ist, - wie das Leben ist, hier auf dieser Welt, jedoch auch vorher und nachher, durch alle möglichen Leben und Welten hin, - wie der Mensch durch diese hindurch geht" (56; 42; 125). „Sie ist eine für den Menschen bestimmte Botschaft Gottes, wie die Welt ist, was der Sinn des Lebens ist, wozu alles sein Dasein hat, woher es kommt und wohin es geht. Nicht nur ein Buch über dieses Leben, nein, über alle Leben vor und nach dieser Welt und auch vor und nach diesem Leben. Sie hat Geltung in allen Welten"(126).

 

Weinreb lässt das biblische Wort selbst sprechen (42), weil es das Wesen der Dinge wiedergibt, sind doch die Buchstaben primär Zahlen, womit sich Verhältnisse ausdrücken, die Worte also quantitative Begriffe. Sein Axiom ist: Die un-raumzeitliche, das heisst wesentliche Welt äussert sich in unserer raumzeitlichen Welt mittels Verhältnissen. Das Wort ist die Brücke zwischen Wesen und Bild; es übermittelt, was das Wesen des Bildes ist.

Nun müssen die Bilder, die wir uns von der Welt machen - aber nicht dürfen -, auf die Wesen zurückgeführt werden, und das geschieht mit der strengen Zergliederung der Zahlstruktur, die keineswegs mystische Zahlenakrobatik ist.

 

Die Prinzipien 1-2-1 und 1-4

 

Als Prinzip der Welt ist festzustellen: "1 - 2 - 1".Das heisst: Gott, der "Eine", schöpft die Welt, und Schöpfung ist immer "Zweimachung", beispielsweise von Himmel und Erde, Baum des Lebens ("1") und Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen("2"), Mann und Frau. In dieser Zweiheit lebt der Mensch als Gipfel- und Endpunkt der Schöpfung, als Bild (Ebenbild) und Gleichnis Gottes; in und unter dem Menschen ist alles Vorausgegangene der Schöpfung enthalten.

 

Diese Zweiheit ist der Keim der Vielheit, was sich ausdrückt im „Prinzip 1 - 4" (Mensch, hebr. "Adam", ist 1 - 4 - 40.); die 4 ( auf höherer Ebene:40, 400) als potenzierte 2 ist die weiteste Möglichkeit, Entwicklung, der Abschluss der Zweiheit (kann sogar bis zur 10 als 1+2+3+4 erhöht werden) und zugleich der Beginnpunkt für den Rückweg zur 1. Denn der Sinn der Welt, des Lebens, die Aufgabe des Menschen ist die Wiedervereinigung, die Einswerdung aller Gegensätze. Der Mensch muss die "Entwicklung", die Vielheit wieder in den Ursprung, zu Gott, zurückführen, sie mit ihm verbinden. Das ist der Weg "von der 2 zur 1“: Gott schöpfte die Zweiheit, damit die Schöpfung und besonders der Mensch das höchste Glück der Einswerdung erlebe (80; 87-88). Das geschieht  mittels Opfer ("Näherbringen"), Reue (Umkehr), Gottvertrauen (Glauben), Ehrfurcht und Freude vom Menschen aus, mit Güte, Liebe, Gnade, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit von Gott aus.

 

Ein kurzes Beispiel: Die Kinder Israels (Jakobs) kamen nach Ägypten, wurden dort geknechtet und zogen schliesslich wieder ins "gelobt Land" zurück. Also 1 - 2 – 1, denn Ägypten, hebr. "Mitsrajim" besteht aus den Zahlen 40-90-200-10-40, Totalwert 380, das versprochene Land "Kanaan", 20-50-70-50, hat den Totalwert 190.

Es besteht also ein Verhältnis von genau 2:1. In Ägypten ist die "Unterdrückung in der Zweiheit", in Kanaan aber "soll die Ein-heit wieder erreicht werden, jene Einheit, welche man kannte, bevor man nach Ägypten kam" (105).

 

Eine grossartige Systematik der Tora

 

Dergestalt schlüsselt Weinreb alle Ereignisse, Tages- und Jahreszahlen und Worte (samt Zählung von ganzen Buchstaben- und Wortreihen) in vielen hundert Beispielen auf und stellt sie oft als Tabellen und Zeichnungen (z. B. von der Arche) dar.

 

Eine grosse Rolle spielen unter anderem auch noch die 5 (50, 500), 7 und 8 (der 7. und 8. Tag) mit ihren Vielfachen. So vermag Weinreb von der Erschaffung der Welt, dem Essen vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden über Kain und Abel, Noah, Abraham und seine Nachkommen bis zu Mose und den "Zehn Worten" (Geboten) eine grossartige Systematik der Tora zu geben, worin jedes Glied an einem besonderen Platz steht. Ein bedeutungsvolles Ganzes ist gebildet: Die Tora gibt nämlich den Namen des Herrn (Jod-He-Waw-He, 10-5-6-5) wieder; er "drückt der Zeit den Stempel auf, gibt dem Geschehen Sinn und Bedeutung, formt die Struktur der Ereignisse" (76) und Geschlechterfolgen. Der Mensch muss sich bewusst sein, "dass dem Leben das Geheimnis des Namens 'Herr' einverleibt ist und dass dieser Name auch die Einheit der Gegensätze enthält" (372), ihre Harmonie.

 

Was einzig sonderbar in Weinrebs Buch klingen mag, ist die Behauptung, das Weib sei Ausdruck der Materie, stelle den menschlichen Leib dar, und dieser Leib habe Sinnesorgane und Urteilsvermögen, könne Wahrnehmungen kombinieren und Schlüsse ziehen (146), während die Seele die männliche Seite des Menschen sei.

Abgesehen davon klärt aber Weinreb viele Missverständnisse und Ungenauigkeiten der Übersetzungen durch eine scharfe Besinnung auf die ursprüngliche Bedeutung der einzelnen Wörter.

 

Die Rolle „Esther“

 

Seine eigenwillige Art der Interpretation, dem „Wunder des Wortes" nachzuspüren, demonstriert Weinreb an der "Rolle Esther".

Das Buch Esther, eines der kürzesten der Bibel und wie die Tora auf einer Schriftrolle ("Megillah") festgehalten, ist die Erzählung von der „Entwicklung“ und der „Verbannung". Geschichtlich gesehen findet sie nach der Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.) und seines Tempels, dem Hause Gottes auf Erden, statt. Diese Verbannung aber hat auch eine übertragene Bedeutung: es ist die Welt, in der wir heute leben.

"Die Zerstörung des Tempels ist der Augenblick der Geburt - der Geburt auch unserer Welt." Deshalb hat sie für Weinreb exemplarischen Sinn; er schildert diesen Zustand und zieht Schlüsse daraus für unsere heutige Situation und Handlungen.

 

Gott verbirgt sich, auf dass die Welt zu ihm komme

 

"Esther" ist nicht nur der Name einer Königin, sondern heisst auf Hebräisch "ich verberge mich". Gott hat "sein Antlitz verborgen" (aber er schläft nicht) - das Buch Esther ist die einzige Geschichte in der Bibel, worin der Name Gottes nicht vorkommt -, damit erstens dem "Leiden in der Verbannung“ die Erlösung folgen kann und zweitens, damit der Mensch "umsonst, göttlich handle“, nicht um eines irdischen Lohnes oder um der Zweckmässigkeit und Nützlichkeit willen.

 

"Wir werden tun, auch wenn es umsonst ist ... Wir wissen jedoch, dass wir später einmal, zu gegebener Zeit, dann auch hören und begreifen werden. Aber nicht deshalb handeln wir. Willig opfern wir täglich unser Ansehen, unsere Bequemlichkeit, um zu handeln, sogar um mehr zu tun, als verlangt wird, als oft unbegreiflicherweise verlangt wird“ (50-51).

 

Die Zeiten der Verbannung sind "die Zeiten des Niederganges, des Höhepunktes der Entwicklung (Vielheit des Kreatürlichen durch Fruchtbarkeit und Wachstum), der Befreiung des Menschen von seinem Abhängigkeitsverhältnis und seine Erhebung zu einer selbständigen Gottheit aus eigener Machtvollkommenheit“, welche Gesetze aufstellt und an die totale Herrschaft und Unaufhebbarkeit der Naturgesetze - „das törichte System“ - glaubt.

Was trotz der "vollkommenen Verborgenheit Gottes“ im Mysterium der Verbannung (oder "Form") geschieht, bezeichnen wir als "Zufall" ("purim", Los), weil wir die Ursachen nicht rational ausfindig machen können; sie bleiben "Geheimnis".

Ebenso entziehen sich die Folgen unseres Tuns unserem "Wahrnehmungsvermögen", unsere Taten sind umsonst: "All das, was jeden Tag getan oder gelassen werden sollte, entspringt dem Quell, der 'nistar' [verborgen] ist, dem Mysterium ... In den WORTEN der Bibel rauscht dieser Quell" (79) als Geschichte, wie die Welt vor der Verbannung war. Diesen vor-geburtlichen Zustand (Vor-Welt) haben wir zwar vergessen, besitzen aber doch ein un-bewusstes Wissen davon - in unserer "Neschamah" (göttlichen Seele), die vor der Verbannung dort gewohnt hat -, sehnen wir uns doch in das Paradies zurück.

 

Wie können wir uns daran erinnern? Durch die Besinnung auf das WORT, das mit, ja von dem „Heiligen Geist" geschrieben ist und uns zum Wesentlichen führt, weil es bei Gott ist. lhm zufolge müssen wir umsonst handeln, um dem Sinn des Mysteriums auf den Grund zu kommen. Dabei helfen uns die Lebensregeln ("Halachah"; der Weg), die wir der mündlichen Tora entnehmen und die uns das Unscheinbare, Unauffällige und Wehrlose zu beachten lehren, um den verborgenen Gott zu suchen.

"Aber Gott im 'nistar’ zu suchen, bedeutet Wunderbares aufzufinden", etwas Nicht-Erklärbares. In „Esther" ist es die Blume, die Rose ("Schoschanah"), das Weibliche, "das, was sich verändert" und wiederholt, was das Geheimnis birgt und selbst ist.

 

Das Geheimnis ist der Sinn der Welt, ihre Basis.

 

Einfache Sprache - viel Wiederholungen

 

In genauen und detaillierten Analysen erläutert so Weinreb diese Erzählung. Langatmig, voll unermüdlicher Wiederholungen, aber doch lebendig und anschaulich schildert er die biblischen Geschehnisse und Gestalten, beispielsweise Mordechai („Jehudi“ - der Alleinstehende, welcher handelt, aber umsonst, und an sein Leben glaubt - ein Iwri), der die Erlösung ankündigt und seinen Widersacher Haman, der Ausdruck für die Kraft der Entwicklung ist ("Amalek").

 

Der Beizug der "Überlieferung" und die Darstellung der Zahlen nimmt hierbei wiederum einen grossen Platz ein.

Die ständigen Vergleiche zur Gegenwart bleiben allerdings of im Vagen.

 

Beide Bücher von Weinreb weisen zudem einen verblüffend ausführliches Quellennachweis auf, "Der göttliche Bauplan der Welt" zusätzlich ein Register.

 

Esther ist in einem jedem

 

"Die Suche nach Gott aber ist ja schon der Weg der Rückkehr, der Weg zum Ursprung und zur Befreiung.“ Auf diesem Weg werden wir von Gott selbst begleitet. So schliesst die Erzählung über die Verbannung denn auch mit der Umkehr (dem „Passah-Mal“) und Heimführung (der 2 zu 1), dem Purim-Fest.

Die Iwrin (Hebräer) sagen: Für uns ist alles "bis in die kleinsten Einzelheiten eine Fügung Gottes ... Denn was wissen wir schon vom tieferen Sinn des ‚nistar’? Und doch sehen wir in allem Gottes lenkende Hand. Auch in Dingen, worüber ihr lachen würdet. Als Erwachsene spielen wir. Das ist die Haltung der Jehudim in dieser Welt. So wird die Welt sein, wenn der grosse Umsturz stattgefunden hat“ (287f).

Das ist die Erlösung: „Unter den Jehudim aber herrschen Licht und Freude. Wonne und Ehre sind eingekehrt. Eine andere Welt ist gekommen“ (284). „Alle Werte sind umgewandelt … Das Wunderbare von Purim, der überraschende Umschwung der Entwicklung, ist das Geschenk, das Gott uns gibt“ (290). Es gibt den Trost in der erdrückenden Vielheit der Entwicklung: „Nur eines lässt den Menschen hier wahrhaft leben, das in ihm Verborgene – Esther, die in einem jeden ist“ (294).

 

(geschrieben in November 1968;

erschienen in den „Basler Nachrichten“, 4. Dezember 1968)

 




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