Home Die "andere Seite im Menschen"

 

Friedrich Weinreb: Hat der Mensch noch eine Zukunft? - Eine letzte Chance. Origo Verlag, Zürich. 1971; 2. Aufl. 1980.

 

siehe auch: Wort und Zahl in der biblischen Überlieferung

 

 

Pessimismus greift um sich: man ist alarmiert durch die Umweltverseuchung, den Zerfall der Familie und die Preisgabe moralischer Grundsätze, die durch Jahrhunderte hochgehalten wurden. Andere Menschen sehen aber Abwehr der tödlichen Bedrohung in energischem, überlegtem und raschem Handeln. Wiederum andere meinen, es werde sich alles von selber wieder einrenken.

 

Prof. Friedrich Weinreb [1910-1988], einer alten chassidischen Familie Russlands entstammend und in Holland, Zürich und Jerusalem lehrend, Verfasser des "Göttlichen Bauplanes der Welt" [1966] und der "Symbolik der Bibelsprache" [1969] [(beide bereits in 3. Auflage), ferner der "Rolle Esther" [1968] und des "Buches Jonah" [1970] (alle Origo Verlag, Zürich), diagnostiziert eine Lähmung aus Verzweiflung, die den heutigen Menschen befallen hat. Doch immer noch beschäftigt ihn der Sinn seines Lebens und fragt zaghaft nach dem Warum und Wozu. Was den Menschen nun quält, ist das Ausbleiben der Antwort.

 

Befinden wir uns am Endpunkt der Entwicklung oder an einer Schwelle zu einer völlig neuen Welt? Weinreb beschreibt in knappen und treffsicheren Sätzen, ohne jegliches Moralisieren, wie es zur heutigen Lage kam. Vor allem den Naturwissenschaften ist sie zu verdanken. Doch das eigentliche Übel ist weder die Technisierung, der Wohlstand oder die Vergiftung der Umwelt, sondern die fortschreitende Vergiftung des Menschen selbst, solange man die "andere Seite" in ihm - die weder mit Vernunft und Systematik als materiell zu ergründen ist - leugnet.

 

Die Kirchen versagten hier, sie wechselten wie die Medizin, das Recht, die Geistes- und Wirtschaftswissenschaften zu den naturwissenschaftlichen und historisch-kritischen Methoden über: Kniefall vor der modernen Zeit. Weil das aber nicht den "ganzen Menschen" erfasst, entfalteten sich para-psychologische Richtungen: Spiritismus, Yoga, Astrologie und Gesundbetung. Ist dies nicht, mit der deshalb überhandnehmenden Unsicherheit, Unruhe und Unlust, Machtentfaltung und Brutalität ein deutliches Zeichen, dass der Mensch bei allem, so einseitigen, "Fortschritt" etwas sehr Wesentliches vermisst? Nicht nur das Greifbare hat Wirklichkeit, sondern auch der Traum, die Phantasie, der Mythos, das Kunstwerk.

 

In Zeiten von Krankheit, Unrecht und Not spürt der Mensch plötzlich, dass er mehr ist als ein naturwissenschaftliches "Faktum", ein politisches oder juristisches "Objekt"; andere Kräfte und undefinierbare, unsichtbare Seiten sind mit im Spiel: Gefühle, Güte, Glauben, Visionen, Einfälle, Unbewusstes, Archaisches, aber auch "transzendente Funktionen"; kurz Innerlichkeit und Vergangenheit. Wo aber kann man priesterlichen Beistand, Hilfe finden, wo Weisheit erlangen? Wo wird man überhaupt in einer ehrlichen Überzeugung über den Sinn der Welt und des individuellen Daseins unterrichtet?

 

"Die junge Generation beginnt den Betrug wahrzunehmen", sie steht auf gegen die verkehrte Welt, welche in Wunschträumen sich selbst belügt, durch Scheinwelten träg dahinschwebt, sich vom Tier bald gar nicht mehr unterscheiden möchte und dennoch gleichgültig oder unzufrieden und unfroh ist.

Warum aber wird zur Droge gegriffen? Weil niemand in der Sprache von heute vom "Andern", von andern Wirklichkeiten redet, die weder mit der naturgesetzlichen Erscheinungswelt der Dinge noch mit Fiktionen wie Rechtsstaat und Demokratie, Frieden und Hygiene, Erfolg und Ansehen zu tun haben, sondern mit dem "inneren Leben". Es bahnt sich etwas Neues, die stille und manchmal auch lärmige Suche nach einem neuen Ziel an, das aus der Verlorenheit im naturwissenschaftlichen und gesellschafts-politischen Weltbild hinauswinkt.

 

Der Mensch leidet an dieser Welt, an der Gespaltenheit, dass er äusserlich und Äusserliches akzeptieren muss, was er innerlich ablehnt. Wie kann man die Ursache dieser Krankheit anpacken? Man muss das Heilsame aussprechen und ihm Form geben. C. G. Jung und die Daseinsanalyse haben damit begonnen, die Vergangenheit nicht aus der Lebens- und Todesangst des modernen Wissenschafters heraus zu betrachten, sondern sich in die früheren Weltbilder unvoreingenommen hineinzudenken und zu -fühlen. Die Mythologie der Völker, die Überlieferung des lebendigen Menschen birgt dafür Stoff in Hülle und Fülle, ebenso die Bibel und die Berichte darum herum. In ihnen entdecken wir bisher übersehene Kostbarkeiten, erhalten Impulse, den Menschen und die Natur von Grund auf anders zu sehen. Das ist nur rückständig oder altmodisch in der Leseart der Naturwissenschaft, nicht aber bezüglich der Suche nach dem Sinn des Lebens. Diese Revolution der Sichtweise schraubt die Hingabe an die selbstherrliche und einseitige Wissenschaft zurück und lässt den Menschen sich neu und freudig entdecken.

 

Verborgenem Wissen zu neuem Leben zu verhelfen, auch den Quellen der Religion - dann wird die Betäubung des Wohlstandsrausches durchbrochen und der tote Gott wieder lebendig. Entwöhnung, bewusster Verzicht, Zügelung des Fortschritts werden die "andere Seite" wieder aufleben lassen, auf dass der Mensch wieder auf zwei Beinen geht, auf den Errungenschaften und Einsichten der Wissenschaft und den neugewonnenen Werten des Wesentlichen im Menschen wie Liebe, Glück und Treue, Gesundheit und Geborgenheit, Zufriedenheit, Freude, Begeisterung, klares und durchdringendes Denken, kurz: Entfaltung der Menschlichkeit des "ganzen Menschen".

"Der Mensch soll in das Zeichen der Heiligung gestellt werden wie auch die Erforschung der Natur. In diesem Zusammenhang sollten wir unsere Selbstbeschränkung, unser Masshalten sehen."

Diese radikale Umkehr machte für das Menschliche unsagbar viel frei.

 

Diese Revolution im Rahmen der heutigen Ordnung ist ausgeschlossen, sie kann nur von einzelnen getragen werden. Ist die verborgene Seite einmal erkannt, bricht das Neue durch, und es könnte trotz allen Widerstandes ohne falsche Scham unversehens wachsen und erstarken.

Das in Vorbereitung befindliche Werk Weinrebs, "Diesseits und Jenseits - Die Struktur des Menschen", wird davon künden. [„Leben im Diesseits und Jenseits – Ein uraltes Menschenbild“, erschien 1974 im Origo-Verlag, Zürich; 2. Aufl. 1994.]

 

leicht gekürzt erschienen in den Basler Nachrichten, 18. August 1971

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch