Home Psychologie: verschiedene Modelle und Ordnungsmodelle

 

Notizen für ein Seminar am 8. November 1988

„Modelle für die Psychologie und in der Psychologie“

 

siehe für den 15. November 1988:

Psychologie: Modelle

 

Inhalt

Modelle in der Psychologie

Ordnungsmodelle für die Psychologie

Was ist also Psychologie?

Ordnungsmodell I

Ordnungsmodell II

Wozu Ordnungsmodelle?

 

 

Modelle in der Psychologie

 

Fast alle Modelltypen sind auch für die Psychologie wichtig.

 

Ein Abbild muss nicht bildhaft sein, es kann sich auch um einen Tonträger handeln. In einer Tonbandaufnahme haben wir z. B. das Abbild einer Gruppendiskussion. Das können wir nach bestimmten Gesichtspunkten auswerten (z. B. Statistik) und daraus ein Soziogramm erstellen. Die Gruppendiskussion selber ist ein gemischtes Abbild eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Gemischt, weil die Personen materielle Objekte sind; wichtig ist aber ihr semantisches Verhalten, also was sie tun und reden. Dasselbe gilt für das Sample einer Befragung. Es ist ein gemischtes Modell für eine bestimmte Population. Die Funktion ist doppelt: Abbild und Ersatz.

 

Interessant sind überhaupt die Ersatzmodelle. Flugsimulatoren sind Ersatz, Chips als Belohnung z. B. in Entscheidungs- oder Lernelementen sind Ersatz, desgleichen Menschen und Tiere. Im Experiment ersetzen einige Versuchspersonen den Menschen schlechthin oder "alle Menschen". Ein Mensch kann aber z. B. im Rollenspiel auch bloss einen Typus Mensch "verkörpern", etwa den Führer oder den Bösewicht, aber auch ein Unternehmen, ja einen Staat.

Ratten und Tauben, Hunde und Affen können als Ersatz für Menschen eingesetzt werden. Jede Ersatzfunktion ist diskutierbar. Im Extremfall kann man sogar das Verhältnis Tier/ Mensch umdrehen. Aus Experimenten an Menschen hat man z. B. die Theorie herausdestilliert, dass er "cognitive maps" im Kopf habe. Dann kam jemand auf die Idee, auch Ratten könnten "cognitive maps" z. B. eines Labyrinths bilden. Da dienten also Modelle über Menschen als Modelle für Tiere.

 

Besonders interessant sind psychologische Tests: Als standardisierte Aufgaben bieten sie Modelle, vereinfachte Ausschnitte aus realen Situationen; in der Durchführung mit einzelnen Menschen bieten sie Ausschnitte, Stichproben aus dem gesamten Verhalten der Person. Wie sehr dies einen Schluss auf das Verhalten im Alltag zulässt, ist eine weitere Frage.

 

Ein anderes Ordnungsmodell ist der Baum, entweder ein Entscheidungsbaum oder umgekehrt ein Stammbaum. Gerade für die Erfassung der Geschichte der Psychologie wäre die Skizzierung von Stammbäumen wichtig. Dabei würde sich etwa zeigen, wieviel das Systemdenken oder die Sozialpsychologie nach dem Zweiten Weltkrieg der Gestalt- resp. Ganzheitspsychologie seit 1890 verdanken; dazu kommen aber auch andere Wurzeln wie die organismische Biologie und Philosophie. Im Unterschied zum menschlichen Stammbaum sind die Zusammenhänge meist nicht so direkt und eindeutig.

 

Für die Modelle, die uns hier besonders interessieren, habe ich einen Entscheidungsbaum skizziert (Fig. 1). Er umfasst die beiden Gruppen materielle und kognitive Modelle. Letztere können wir je nach der Enge der Zusammenhänge in die Gruppen Ordnungsmodelle, Paradigmen und Beziehungsmodelle aufteilen.

Die Modelle, welche Prof. H. in seiner Vorlesung Systemtheorie vorlegt sind: Situationsbeschreibungen (zeichnerische Darstellungen) und Systemmodelle als eine besondere Gruppe von Wirkungsgefügen. Systemmodelle wiederum kann man graphisch, d. h. qualitativ darstellen oder formalisiert, d. h. quantitativ. Die Experimentalsituation ist entweder eine Laborsituation (der Flugsimulator) oder eine Feldsituation (die Versuchsfahrt). Hinter der Beschreibung des Systemmodells steckt eine bestimmte Theorie, hinter dieser ein Menschenbild. Wir haben also bei psychologischen Versuchen eine ganze Reihe unterschiedlichster Modelle zu beachten. Dessen sind wir uns freilich selten bewusst.

 

 

Ordnungsmodelle für die Psychologie

 

Damit komme ich zum 2. Teil meiner heutigen Ausführungen, zu den Ordnungsmodellen für die Psychologie, und zwar für die Psychologie in der ganzen Spannweite: als Bereich des menschlichen Lebens bis zur Disziplin an der Hochschule.

 

Kein Computer kann uns die Aufgabe abnehmen, in unserem Kopf Ordnung zu schaffen. Und beim Versuch des Ordnens tauchen bereits Fragen nach dem Wesen dessen auf, was wir ordnen wollen.

 

Noch drastischer: Wie können wir überhaupt etwas ordnen, von dem wir gar nicht genau wissen, was es ist?

 

 

Was ist also Psychologie?

 

Die banalste Antwort ist:

"Psychology is what psychologists do.“

Es könnte sein, dass diese Formel von den Ökonomen übernommen wurde. Diese haben offenbar dieselben Schwierigkeiten. Sie sagen "Economics is what economists do." Was aber ist ein Ökonom? Schon hier fängt das Problem an: eine tüchtige Hausfrau ist auch eine Ökonomin, ein erfolgreicher Tennisspieler oder ein Popidol sind zumindest ökonomische Faktoren, usw.

Dasselbe gilt für Psychologen. Wer ist ein Psychologe? Einer der ein Lizentiat oder Doktorat auf diesem Gebiet hat oder schon ein Student im 2. Semester? Sind auch Studenten am „Institut für Angewandte Psychologie“ Psychologen, sind Unternehmensberater, Seminarleiter oder Astrologen und Geistheiler Psychologen, wenn sie als solche in der Zeitung inserieren? Es gibt auch Berufsleute, die sich für gute Psychologen halten, ohne sich so zu nennen, z. B. Bankangestellte, die sich mit Anlageberatung und Börsengeschäften befassen. Und schliesslich können wir von einigen Personen, die wir kennen, sagen, sie seien gute Psychologen.

 

Psychologie: Seelenkunde - Wissenschaft - Menschenkenntnis - Problemlösung

 

(1) Die beste Definition von Psychologie liegt in der deutschen Übersetzung: Seelenkunde. Das ist zwar ein furchtbar altmodisches Wort, aber es trifft die Sache immer noch am besten (Fig. 2). Sie schliesst auch nichts aus, denn es gibt ja auch eine Tierpsychologie, ja sogar eine Pflanzenpsychologie. 1917 erschien vom berühmten Zoologen und Begründer des energetischen Monismus, Ernst Haeckel, ein Buch mit dem Titel "Kristallseelen". Heute vermuten Physiker, z. B. Jean Charon, in jedem Elementarteilchen eine Psyche!

 

Im andern Extremfall halten wir das ganze Weltall für beseelt. Das heisst in der Philosophiegeschichte Panpsychismus oder Biosophie. Seit die östliche Weisheit im Westen Fuss gefasst hat, ist das in zunehmendem Masse immer wieder aktuell gewesen. Es begann vor 300 Jahren, war in der Romantik sehr deutlich, wurde von der Theosophischen Gesellschaft (1875) wieder propagiert und erlebt in der spirituellen Psychologie oder im New Age wieder eine staunenswerte Blüte. Dabei sind allerdings die Begriffe vielfältig: Statt Seele sagt man auch Geist, Bewusstsein, Vernunft, Energie, Leben, Kreativität, Gott usw.

Und dann haben wir erst noch ein Aufleben der Seelenwanderung.

Anderseits gilt es zu bedenken, dass viele Menschen, etwa 1/3, der Ansicht sind, der Mensch habe keine Seele.

 

(2) Eine andere Definition, die noch vor zehn Jahren massgeblich war, stammt von Hubert Rohracher [1958?] und lautet:

"Psychologie ist die Wissenschaft, welche die bewussten Vorgänge und Zustände sowie deren Ursachen und Wirkungen untersucht."

100 oder mehr Jahre nach der Entdeckung des Unbewussten ist das ein starkes Stück. Zudem wird nicht angegeben, wer die bewussten Vorgänge und Zustände hat oder wo sie sich abspielen. Auch mit "Ursache und Wirkung" sollte man vorsichtig sein.

[Hubert Rohracher: Einführung in die Psychologie. Wien: Urban & Schwarzenberg 1946, 4. Aufl. 1951, 6. Aufl. 1958; 13. Aufl. München: Psychologie Verlags Union 1988.]

 

Immerhin: Der Begriff bewusst gibt einen Hinweis auf etwas, was in einer weiteren Definition vergessen worden ist. Nach dieser wird Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten, oder, erweitert, als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten aufgefasst.

 

Auch das ist noch zu eng. Schon Karl Bühler hat darauf hingewiesen, dass Psychologen auch die vom Menschen geschaffenen Gebilde untersuchen, also etwa Sprache, Kunstwerke und soziale Institutionen (Fig. 2a).

[Peter R. Hofstätter (Hrsg.): Psychologie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1957; unzählige Aufl. bis 1965, 10; weiter Aufl. bis 1981;
Hinweis auf Karl Bühler: Die Krise der Psychologie. Jena. Fischer 1927; 3. Aufl. 1965; Neudruck Frankfurt am Main: Ullstein 1978; als „Werke“, Bd. 4, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000.]

 

Das ist ein bisschen statisch; man könnte also noch menschliche Leistungen dazunehmen, und zwar im guten wie im schlechten Sinn, denn z. B. die meisten Unfälle und Umweltzerstörungen sind anthropogen, vom Menschen gemacht.

 

Nun ist der Mensch meist kein Einzeltäter. Er prägt und wird geprägt von Gemeinschaften, Gruppen, Institutionen. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenleben und -Arbeiten spielen Einstellungen und Rollen. Damit sind einige allgemeine Themen der Psychologie genannt. Was daran untersucht werden kann sind:

• Abläufe und Strukturen

• Funktionen und Störungen

• Bedingungen und Einflüsse

• Auswirkungen und Rückwirkungen.

 

Was heisst das? Psychologie befasst sich weder mit physikalischen noch mit ingenieurtechnischen Fragen, weder mit Vulkanausbrüchen oder mit der Konstruktion von Kathedralen noch mit dem Bruttosozialprodukt. Aber die physikalischen Gesetze wie die technischen Konstruktionen, das BSP (Bruttosozialprodukt) wie Vulkanausbrüche können einen Einfluss auf das Erleben und Verhalten des Menschen (und auch von Tieren) haben.

Umgekehrt ergeben sich Konstruktions- und Montagefehler bei Maschinen oder Kathedralen oder das BSP aus dem Verhalten des Menschen, das wiederum von seinem Unbewussten oder seinen Einstellungen beeinflusst ist, usw. Man kann sagen: Fast alles hat einen Einfluss auf den Menschen - vielleicht sogar die Sterne -, und das menschliche Verhalten hat auf fast alles Auswirkungen - ausser auf den Lauf der Gestirne. Das Gebiet der Psychologie ist also ungeheuer weit.

 

(3) Nun gibt es noch andere Auffassungen von Psychologie. In jedem Betrieb, bei Verhandlungen von Geschäftsleuten oder Politikern braucht es Psychologie. Der Arzt braucht Psychologie, Eltern, Lehrer, Polizisten, usw. brauchen Psychologie. Das ist alles keine Wissenschaft. Wir nennen es "Menschenkenntnis und Kunst der Menschenbehandlung". Lebenserfahrung, Berufspraxis, Phantasie und Verständnis spielen dabei eine grosse Rolle. Also nicht Forschung und nicht Theoriekonstruktion.

Was ist dabei wichtig? Der Mensch als Persönlichkeit, nicht als psychophysischer Apparat oder biomechanischer Organismus wird ernst genommen, der Mensch als Subjekt (oder Objekt), als Täter (oder Opfer), als Gestalter (oder Zerstörer), kurz als Ganzheit von Leib, Seele und Geist in einer "höheren" Ganzheit, der Gesellschaft oder Gemeinschaft.

 

(4) Eine vierte Annäherung an „die“ Psychologie kann wiederum von der Wissenschaft her erfolgen. Wissenschaft wird oft definiert als "System von Aussagen". Da müssen wir aber lange suchen, bis wir tatsächlich ein System finden. Nicht einmal Systematik ist vorhanden. Eine seltene Ausnahme ist etwa David Rapaports Versuch "Die Struktur der psychoanalytischen Theorie" (engl. 1959). Auch mit der Suche nach der Wahrheit ist es gar nicht so leicht.

Aus der Einsicht heraus, dass kaum Systeme von Aussagen und kaum Wahrheit geboten werden, hat man sich zu einer andern Auffassung durchgerungen: Wissenschaft als Problemlösung. Dieses Stichwort ist für die Psychologie doppelt interessant. Psychologie würde dann untersuchen, wie der Mensch Probleme löst und Vorschläge machen, wie er Probleme besser lösen könnte. Und als Wissenschaft wäre Psychologie ein Versuch zur Beantwortung dieser beiden Fragen.

 

Psychologie als Beziehungsforschung

 

Eine andere Auffassung von Wissenschaft geht auf Ernst Mach zurück und lautet: Forschung befasst sich mit Elementen und ihren Beziehungen. Dabei ist die "Natur" der Elemente nicht gegeben, sondern sie muss durch die Forschung erst entdeckt werden. In diesem Sinne könnte man die Psychologie des Menschen als Beziehungsforschung auffassen und hätte dann 4 grosse Bereiche (Fig. 3):

1. Beziehungen des Menschen zu sich selber

2. Beziehungen der Menschen untereinander

3. Beziehungen zur Kultur (das reicht von Werkzeugen und Maschinen, betrieblichen und politischen Massnahmen über Mythen und Märchen bis zu Ideologien, ja der Wissenschaft selber)

4. Beziehungen zur Natur.

 

Es gibt nicht „die“ Psychologie

 

Allmählich kommen wir der Psychologie näher, freilich nicht der Psychologie, sondern einzelnen Psychologien. Denn es gibt die Psychologie genausowenig wie die Physik oder die Chemie. Einerseits haben sich alle Einzelwissenschaften aufgespalten, die Physik etwa in Thermodynamik, Quantenmechanik, Optik, Elektrizitätslehre, Hydrodynamik, usw. Anderseits gibt es zahlreiche kombinierte Zwischenwissenschaften, z. B. physikalische Chemie, Biochemie, physikalische und chemische Technologie, usw.

 

Die Abgrenzungsschwierigkeiten zeigen sich auch bei der Psychologie. So werden unter den 6000 Titeln im Psychologie-Almanach auch solche angegeben über:

- Psychiatrie und Anti-Psychiatrie

- Psychosomatik

- Allgemeine Pädagogik und Didaktik; Sonderpädagogik

- Erwachsenenbildung

- Neurophysiologie

- Soziale Probleme

- Astrologie

- Seelsorge

- Frauen, usw.

 

Überdies sind die Zuordnungen meist unbefriedigend, wie fast immer in Katalogen. Es fehlt ein Ordnungsmodell.

 

 

Ordnungsmodell I

 

Zwei Ordnungsmodelle für die verschiedenen Gebieten möchte ich noch vorlegen. Das erste orientiert sich erneut, aber diesmal etwas anders, an einem Linienkreuz (Fig. 4).

Wir können z. B. von einem Kernbereich ausgehen und in zwei Dimensionen vorstossen, nämlich zeitlich und räumlich, aber nicht im physikalischen Sinn. Auf der Zeitachse haben wir eine historische Psychologie, die sich z. B. mit Psychohistorie und der Phylogenese der menschlichen Motivation befasst. In der andern Richtung derselben Dimension finden wir die Entwicklungspsychologie, welche den Lauf des Menschen durch Kindheit, Jugend, Abschnitte des Erwachsenseins und Alter verfolgt. Eine neuere Form ist die Lebenslaufpsychologie.

 

Die zweite Dimension zeigt auf der einen Seite die Völkerpsychologie auf der andern die Sozialpsychologie.

 

Nun lässt dieses Schema 4 Quadranten frei, die wir folgendermassen ausfüllen können:

1. mit Parapsychologie und aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen

2. mit Komplexen und Gestaltungen des kollektiven Unbewussten

3. mit Psychologien der verschiedenen Kultur-Bereiche, und schliesslich

4. mit der Psychologie von Tieren und Pflanzen.

 

Das ist zwar nicht systematisch, zeigt jedoch die Spannweite der Psychologie auf anschauliche Art. Ordnungsmodelle sollen ja brauchbar sein, wenn möglich anschaulich. Im Idealfall sind sie so gut, dass man sich ihrer auch nach längerer Zeit erinnern kann, ohne die Unterlagen wieder zur Hand nehmen zu müssen.

 

[Zwei ähnliche Ordnungsmodelle zeigen Fig. 4a und der sogenannte „Psychologiekompass“ in zwei Versionen.]

 

Ordnungsmodell II

 

Zum Abschluss eine mehr systematische Darstellung (Fig. 5). Ausgangspunkt ist die alte, wenn auch unbefriedigende Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften. Es gibt rund 50 verschiedene, grundlegende Wissenschaften. Mittlerweile hat sich die Unterscheidung noch etwas differenziert. So können wir gruppieren:

 

1. Naturwissenschaften und Medizin

2. Ingenieurwissenschaften und Architektur

3. Formal- oder Strukturwissenschaften

4. und schliesslich den grossen Bereich von "soft"-Wissenschaften, die je nach Land und Laune "humanities", Geistes- oder Kulturwissenschaften oder "social sciences" genannt werden.

 

Dieses Schema ist für ein Ordnungsmodell der Psychologien als Ansatz brauchbar. Es gibt unzweifelhaft Orientierungen mehr in die

(3) naturwissenschaftlich-technische Richtung und mehr in die

(2) humanwissenschaftliche Richtung. Doch das ist noch nicht alles. Es gibt auch einen riesigen Bereich der unter

(1) naive Psychologie fällt, also Psychologie von Laien, seien das Nichtstudierte oder Wissenschafter anderer Fachgebiete. Als viertes kann man einen Bereich herausheben, der in ganz besonderem Masse spezifisch geworden ist für die Psychologie:

(4) die Tiefenpsychologie und die rund 600 Psychotherapien. Alvin Toffler sprach sogar von 8000.

 

Früher war die Tiefenpsychologie nicht überall hochschulfähig.

Es ist bekannt, dass C. G. Jung nie an der Universität Zürich lehren durfte (die ETH nahm ihn). Daran erinnert noch im Psychologie-Almanach die Bezeichnung akademische Psychologie. Sie umfasst - nicht im Almanach, sondern in dieser Übersicht - die natur- und geisteswissenschaftlichen Psychologien.

Wenn man nun die wichtigsten Strömungen oder Gebiete in dieses Ordnungsmodell abfüllt, ergibt sich folgendes Bild: Ich würde sagen, es gibt einen recht umfassenden Überblick über das, was Psychologie heissen kann.

 

Freilich, es ist nur eine Möglichkeit der Darstellung. Wenn Sie es genau studieren, werden Sie merken, dass z. B. die Allgemeine Psychologie ebenso fehlt wie die angewandte und die klinische Psychologie. Das hat mehrere Gründe.

Der wichtigste besteht darin, dass es mir um Modelle geht. Modelle des Menschen, oder der Seele oder der Beziehungen des Menschen zu sich selber und zur Umwelt. Und nun behaupte ich also: Es gibt rund 30 verschiedene Gruppen psychologischer Modelle - dabei gilt die Tiefenpsychologie nur als eine einzige Gruppe.

 

Damit sind wir wieder bei der Fülle angelangt, bei der wir angefangen haben. Die Fülle der psychologischen Modelle ist erstaunlich. Und dabei handelt es sich nur um Modell-Gruppen. In jeder dieser Gruppen kann man eine ganze Reihe durchaus voneinander abweichender Modelle herausfinden. Freud ist nicht Jung und nicht Adler und nicht Karen Horney. usw.

Oder: Es gibt gewiss mehrere entwicklungspsychologische Modelle, genauso wie es etwa drei Schulen der Ganzheits- resp. Gestaltpsychologie gab, die österreichische, die Leipziger und die Berliner Schule, später kamen Kurt Lewin mit seiner Feldtheorie, Fritz Heider mit seinem Balancenmodell und Fritz Perls mit seiner Gestalttherapie.

 

 

Wozu Ordnungsmodelle?

 

Ordnungsmodelle haben die Aufgabe eine möglichst breite Übersicht über Fülle zu bieten. Das macht, wie eingangs erwähnt, bescheiden und bewahrt vor voreiligen Behauptungen. Solche Behauptungen sind etwa:

 

Die 1962 begründete Humanistische Psychologie verstand sich als 3. Kraft neben Psychoanalyse und Behaviorismus. Diese Behauptung wurde immer wiederholt, sogar noch im neuesten Psychologie-Almanach. Wenn wir diese Übersicht anschauen, würden wir eher sagen, die Humanistische Psychologie ist die 30. Kraft.

 

Wer bei einem Interview oder für eine Expertise gefragt wird: "Was sagt die Psychologie dazu?" muss vorsichtig sein. Gewiss, die Antwort:" Ja, es gibt ganz viele Psychologien" genügt nicht.

Wie immer, man müsste bei der Antwort etwas ausholen. Dann könnte man etwa sagen: "Wenn Sie die Antwort der Psychologie wissen möchten, dann müssten Sie mindestens ein Dutzend Psychologen unterschiedlichster Richtung einladen.“ Warum? Wir brauchen heute gerne die Wörter "komplex" oder "vernetzt". Das menschliche Erleben und Verhalten ist unzweifelhaft komplex oder anders ausgedrückt: vernetzt. Deshalb kann ich auch nicht mit einfachen Erklärungen aufwarten.

Schon ein Beispiel aus dem technischen Bereich zeigt das. Wenn wir fragen: "Warum läuft ein Auto?", dann kann die Antwort nicht einfach lauten: „Weil es vier Räder hat“, oder: „Weil die Explosion eines Benzin-Gas-Gemischs den Motor treibt.“ Wir müssten vielmehr eine ganze Beschreibung des Geräts "Auto" geben, und zwar des ganzen Autos. Dabei müssen Bereiche von der Physik und Ingenieurtechnik bis zur Psychologie angeschnitten werden. Denn abgesehen von unserer Phantasie fährt ein Auto nur unter physikalischen Gesetzen, und abgesehen von Ausnahmen nur, wenn ein Mensch es in Gang setzt.

 

Niemand wird bestreiten, dass ein Mensch ungleich komplexer ist als ein Auto. Also kann man nicht einfachere Antworten verlangen. Überdies ist ein Auto ein weitgehend mechanistisch-deterministisches System. Der Mensch aber lebt und verhält sich mal so mal so. Wir sagen: Das Verhalten des Menschen ist multikausal bedingt. Und da wir nicht in den Menschen, wie in ein Auto hineinschauen können, ist unser Wissen über ihn hauptsächlich auf Schlüssen aufgebaut.

Das sind vor allem vier Schlüsse:

  • vom Äusseren auf das Innere

  • von Stichproben des Verhaltens auf das ganze, immer wiederkehrende Verhalten

  • vom Verhalten oder Antworten in besonderen Situationen (Labor, Test, Befragung) auf das Verhalten im Alltag

  • und schliesslich von einigen untersuchten Menschen auf alle Menschen.

 

Alle diese Schlüsse beruhen auf Modellen. Daher sind diese Schlüsse bestenfalls gut begründete Vermutungen. Vornehmer ausgedrückt: Es handelt sich um Deutungen. Solche können aus verschiedenen Gesichtswinkeln erfolgen: biologisch, medizinisch, politisch, theologisch, tiefenpsychologisch, usw. Es ist kaum möglich, alle Deutungen zu kennen. Deshalb kann ich hier nur das vorbringen was ich kenne. Meine Antwort ist also nur eine Teilantwort, die auf meinen beschränkten Kenntnissen beruht. Es ist weder die Wahrheit, noch die ganze Wahrheit."

 

So umständlich müsste ich eine Antwort in einem Interview oder bei einer Expertise beginnen. Umständlich aber ehrlich. Und genau das trifft auch auf all das zu, was ich Ihnen jetzt heute vorgetragen habe. Es ist eine Sichtweise. Ich hoffe aber, es sei eine brauchbare, d. h. sie habe Hilfe zur Ordnung der Fülle und Anregung zu weiteren Bemühungen Ihrerseits gegeben.

 


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