Home Sigmund Freud und die Freude am Stuhl

 

 

„Der Darminhalt stellt einen Reizkörper für eine sexuell empfindliche Schleimhautfläche dar", verkündete Sigmund Freud in der zweiten seiner "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905).

Seither ist viel geschrieben und geredet worden über Analerotik und Reinlichkeitserziehung, Kot und Geld.

 

Entwicklungsstufen der kindlichen Sexualität

 

Was Freud sagte, ist heute gar nicht mehr so bekannt, und weil er seine Theorien im Laufe der Jahrzehnte modifizierte, ist es auch recht kompliziert. Freuds grosse Leistung besteht darin, dass er die Rolle der Triebmächte, insbesondere von Sexualität und Destruktion, Liebe und Hass für das menschliche Verhalten herausgearbeitet hat. Schockiert hat seine Behauptung, dass schon das Kleinkind "Sexualität" in einem weiten Sinne - etwa als Sinnlichkeit und Energie (Libido) - aufweise.

 

Die Entwicklung vom Moment der Geburt an kann beschrieben werden nach den erogenen Zonen, welche wichtig sind:

  • der Mund (orale Phase, 1. Lebensjahr),
  • die Darmschleimhaut (anale Phase, 1 - 3 Jahre),
  • das Glied (phallische Phase, 3 - 6 Jahre) mit Kastrationsangst und Penisneid, die in den Ödipuskomplex und die Über-Ich-Bildung ausmünden.
  • Nach einer längeren Latenzzeit folgt in der Pubertät die endgültige "Genitalorganisation".

 

Ausstossung als aggressiver Akt

 

Wenn das Kind etwa jährig ist, verlagert sich das Interesse seiner Eltern von der Ernähung auf die Sauberkeit. Bald entdeckt das Kind, dass es den elterlichen Erwartungen entsprechen kann oder nicht. Am Anfang kann es die Darmentleerung noch nicht verhindern, aber herbeiführen.

Die Ausstossung zur unpassenden Zeit ist das erste Mittel, Aggression auszudrücken: Das Kind kann sich für die ihm unverständlichen Forderungen der Eltern rächen.

 

Ausscheidungen und. Sammeln haben Wert

 

Mit etwa zwei Jahren kann das Kind seine Ausscheidungen willentlich zurückhalten. Wenn die Eltern an den Ausscheidungsprodukten so grosses Interesse zeigen, nehmen diese auch für das Kind einen Wert an. Da offenbar das Sammeln solchen Materials wichtig ist, muss auch Sammeln einen Wert haben. Daher fängt das Kind an, auch sonst alle möglichen Dinge zu sammeln. Es misst ausserdem materiellen Dingen besonderen Wert bei, weil seine Eltern dies auch zu tun scheinen.

 

Ein "Geschenk", das zurückgehalten werden kann

 

Mit dem Ausstossen oder aber Zurückhalten des Darminhalts kann nun das Kind erneut seinen Willen dokumentieren. Es kann seine Eltern für ihre Bitten, Belehrungen und Nörgeleien "bestrafen", indem es das stille Örtchen nicht aufsucht.

Daher stellt der Darminhalt "das erste 'Geschenk' dar, durch dessen Entäusserung die Gefügigkeit, durch dessen Verweigerung der Trotz des kleinen Wesens gegen seine Umgebung ausgedrückt werden kann".

 

Damit weist Freud, wie seine Nachfolger sagen, auf die kommunikative Bedeutung hin, die in dieser beginnenden aktiven Auseinandersetzung mit der Welt nicht nur die Defäkation, sondern auch andere Aktivitäten des Kindes zum gebärdenhaften Ausdruck werden lassen.

 

Hergeben und Behalten als seelische Urbilder

 

Etwas einfach formuliert kann man sagen: Das Ausstossen oder gewaltsame Hervorbringen und das Zurückbehalten oder Verweigern werden zu ‚Urbildern’ seelischer Prozesse. Je nach der Reaktion der Umwelt auf diese zunächst körperlichen Vorgänge entwickeln sich die Verhaltensmuster für das spätere Hergeben und Behalten, ja Aktivität und Passivität.

 

Lust im Konflikt mit Machtdemonstration und Versagung

 

Nun ergibt sich beim Stuhlgang nach Freud auch ein Lustgefühl in der analen Zone, welches ein Bedürfnis nach Wiederholung erzeugt. Diesem autoerotischen Lustgewinn steht aber der Wunsch gegenüber, den Eltern seine Macht demonstrieren zu können.

Ein erster innerer Konflikt ist damit angelegt (Freud spricht daher von der analsadistischen Phase).

Der zweite Konflikt besteht zwischen der Willensdemonstration und dem Wunsch, durch Gehorsam Anerkennung und Liebe bei den Eltern zu finden.

Und schliesslich zeigt sich die Ambivalenz aller Erziehung: einerseits Gewährung - der Reinigungsreiz verschafft dem Kind Lust -, anderseits Versagung - Zeit und Ort der Darmentleerung werden aufgezwungen.

 

Darmschleimhaut und -inhalt als sexueller Ersatz

 

Erfolgt nun im weiteren Verlauf die "Organisation der Libido" nicht auf das Genitale hin, übernehmen Darmschleimhaut und -inhalt eine Ersatzfunktion: Sie werden zu Trägern der Sexualerregung.

Insbesondere bei erwachsenen Zwangsneurotikern kann man "das Ergebnis einer regressiven Erniedrigung der Genitalorganisation kennenlernen. Es äussert sich darin, dass alle ursprünglich genital konzipierten Phantasien ins Anale versetzt, der Penis durch die Kotstange, die Vagina durch den Darm ersetzt werden". Das behauptete Freud 1916 in seinem Aufsatz über "Analerotik".

 

Seine Nachfolger formulieren: Die zwanghafte Beachtung der Ausscheidungs-, vor allem der Darmfunktionen und ihrer Regulierung "ist ein Ausdruck der Angst vor der Möglichkeit, in unmittelbarer, liebender Verbundenheit mit einem anderen Menschen die sichernde Begrenzung zu verlieren, in die der Zwangsneurotiker sich geflüchtet hat und in der er sich mit Hilfe seiner moralischen Reaktionsbildungen bewahrt hält.“

 

Dressur führt zum Leistungswahn

 

Der Grund für diese Fehlentwicklung liegt darin, dass das Kind einst die aktive Sphinkter- und Verhaltenskontrolle "nicht in spielender dialogischer Auseinandersetzung mit der Mutter" erworben hat, "sondern als ein aufoktroyiertes Dressat".

Wenn das Kind nicht "in einem selbstverständliclen Mitsein mit den anderen" aufwächst, verliert es die unmittelbare Beziehung zur Welt und wird auf sich selber zurückgewiesen. "Es ist dann primär mit der Welt entzweit und kann sich ihr nur auf Grund der angelernten Dressate, das heisst durch Leistungen, empfehlen."

 

Was ergibt sich daraus beim Erwachsenen? "Die Systembildungen des Zwangsneurotikers schmeicheln ihrer Eigenliebe durch die Vorspiegelung, sie seien als besonders reinliche oder gewissenhafte Menschen besser als andere", meinte Freud 1926; der Zwangsneurotiker glaubt also, dass er bestenfalls als "Könner" anerkannt werden kann. Und zum Zeichen desselben gehört auch, was er an Materiellem sammeln kann: Besitz und Geld.

 

Die "Ontogenie des Geldinteresses" hat schon 1914 Sandor Ferenczi auf die anale Phase zurückgeführt. Paula Heimann fasste 1962 umgekehrt die "Analität als Prototyp der kreativen Ich-Leistungen".

 

Literatur

 

Peter Ziese: Anal-sadistische Phase der Libidoorganisation. In: Enzyklopädie der Psychologie des XX. Jahrhunderts, Bd. 2, 1976. 351-354.

Paula Heimann: Bemerkungen zur analen Phase. In: Enzyklopädie der Psychologie des XX. Jahrhunderts, Bd. 2, 1976. 594-608.

 

siehe auch: Literatur: Psychopathologie und Psychologie des Managers und der Organisation

 

(geschrieben ca. Ende 1985)

 




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