Home Solidarität als Zumutung

         Zur Grundwertediskussion der 1970er Jahre

 

Siehe auch:                Literatur: Solidarität

Literatur: Wirtschaftsethik

Literatur: Wert, Werturteil und Wertwandel, Bedürfnisse

Deutsche Grundwertediskussion (1976-2001)

                                    Internationale Organisationen mit Hauptsitz in der Schweiz

                                    Schweiz

 

 

Motto:

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!

Aber wie gelangen wir zu den Tätigkeitsworten?

Stanislaw Jerzy Lec, Unfrisierte Gedanken

 

 

 

Inhalt

Einleitung: Solidarität als dreifache Zumutung

Teil I: Die Grundwertediskussion der 70er Jahre in Deutschland

SPD: Orientierungsrahmen 1975-1985

CDU: Grundsatzprogramm 1978

F. D. P.: Werner Maihofer 1976

F. D. P.: Die Freiburger Thesen der Liberalen 1971

Teil II: Solidarität ist so alt wie die Schweiz

Die Schweiz und die Völkergemeinschaft

Teil III: Marxismus: Kampf für die Brüderlichkeit

Ausklang: Drei Bedeutungen und drei Dimensionen von Solidarität

 

 

 

Einleitung: Solidarität als dreifache Zumutung

 

Zumutung kann auf drei Arten verstanden werden Eine Zumutung ist ein Ansinnen, das als Beleidigung oder Affront aufgefasst wird. Jemanden etwas zumuten heisst aber auch, Vertrauen in ihn setzen oder überzeugt sein, dass er etwas erbringen kann. Sollte schliesslich die Aufforderung etwas mit Mut zu tun haben, so könnte man auf Abbé Galianis (1772) Definition zurückgreifen: Mut ist "die Wirkung einer ganz grossen Furcht".

 

Solidarität ist eine Zumutung in allen drei Verständnisweisen. Für manche trägt sie einen Anflug des Sektiererischen. Man assoziiert Kollektivismus, scheinheilige Verbrüderung oder die Ausschaltung abweichender Meinungen. Man wird an :die Jakobiner-Parole erinnert: "Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein" (1848 entstanden aus "La fraternité ou la mort!"), man fühlt sich aufgefordert: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" (3. Mos. 19,18; Mat. 22,39; Mark 12,31; Luk. 10,27; Röm. 13,9; Gal, 5,14), oder man hält sich an die Goethe-Zeilen:

"Von der Gewalt, die alle Menschen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet."

 

 

Teil I: Die Grundwertediskussion der 70er Jahre in Deutschland

 

Dennoch hat der Gedanke der Solidarität in der Grundwertediskussion der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland einigen Widerhall gefunden.

 

  • Die bereits 1959 im Godesberger Programm der SPD eingeführten drei Grundwerte "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität" finden sich unverändert auch im ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975-1985.
  • Die liberalen Demokraten haben 1971 in ihrem Freiburger Thesen gar die originären Postulate der Französischen Revolution, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" wiederaufleben lassen, und
  • die 1971 unter Richard von Weizsäcker eingesetzte Grundsatzkommission der CDU gelangte in mehrjähriger Arbeit zuerst - in der Mannheimer Erklärung 1975 - zu der selben, nunmehr christlich gefassten Trias wie die SPD, um dann im Jahr darauf die Solidarität um einen Rang nach vorne zu verschieben, weshalb es auch noch im 1978 vom Bundesparteitag der CDU verabschiedeten Grundsatzprogramm heisst: "Wir treten ein für die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit."

 

SPD: Orientierungsrahmen 1975-1985

 

Was bedeutet Solidarität als Auftrag dieser drei Parteien?

 

Für die Sozialdemokraten ist sie

"auch heute im Kampf für eine menschlichere Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Ökonomisch-soziale Grundlage der Solidarität ist die Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Zusammenarbeit sowie die Nützlichkeit gemeinsamen Handelns. Solidarität kommt besonders im Zusammenhalt von Gruppen zum Ausdruck, deren Angehörige gemeinsam gegen Abhängigkeiten und Benachteiligungen zu kämpfen haben.

Solidarität ist jedoch mehr als die Summe von Einzelinteressen und auch nicht nur eine Waffe im sozialen Kampf. Solidarität drückt die Erfahrung und die Einsicht aus, dass wir als Freie und Gleiche nur dann menschlich miteinander leben können, wenn wir uns füreinander verantwortlich fühlen und einander helfen. Solidarität hat für uns eine allgemeine menschliche Bedeutung; sie darf daher auch nicht an den nationalen Grenzen aufhören" [1].

 

CDU: Grundsatzprogramm 1978

 

Für die christlichen Demokraten ist Solidarität

"Ausdruck der sozialen Natur des Menschen".

"Solidarität heisst füreinander dasein, weil der einzelne und die Gemeinschaft darauf angewiesen sind. Solidarität verbindet die Menschen untereinander und ist Grundlage jeder Gemeinschaft. Solidarität kennzeichnet die Wechselbeziehung zwischen der Gemeinschaft und dem einzelnen.

Die Gemeinschaft steht für den einzelnen ein. Er hat Anspruch auf persönliche Zuwendung und Hilfe. Das ist sein Recht auf Solidarität.

Der einzelne steht aber auch für die Gemeinschaft aller ein. Das ist seine solidarische Pflicht. Solidarität erfordert persönliche Leistung und gibt ihr den sozialen Sinn.

 

… Gruppensolidarität kann Chancen der Freiheit schaffen und offenhalten. Sie hat besonders dort ihre Berechtigung, wo der einzelne allein machtlos ist, um seine schutzwürdigen Belange zu sichern

... Solidarität verbindet nicht nur Interessengruppen in der Wahrnehmung ihrer berechtigten Anliegen, sondern greift über die widerstreitenden Interessen hinaus, verpflichtet die Starken zum Einsatz für die Schwachen und alle im Zusammenwirken für das Wohl des Ganzen. Das Gebot der Solidarität wird erst dann erfüllt, wenn es auch zwischen Machtungleichen und Interessengegnern gilt. Sie ist gerade dort gefordert, wo sie besonders schwerfällt.

Diese Aufgabe stellt sich im persönlichen Verhältnis zwischen Mitmenschen, in der Partnerschaft zwischen gegnerischen sozialen Kräften und in den Beziehungen der Völker zueinander, vor allem den weltweiten Entwicklungsaufgaben. [2].

 

Das Grundsatzprogramm der CSU von 1976 spricht eher beiläufig von einer „auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gegründeten Friedensordnung“, ohne diese Werte explizit als Grundwerte auszuweisen.

 

F. D. P.: Werner Maihofer 1976

 

Für die liberalen Demokraten hat Werner Maihofer in der Diskussion um "Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft," welche die Katholische Akademie Hamburg 1976-77 durchführte, folgendes festgehalten: Solidarität meint

"nichts anderes als das über die blasse gegenseitige Achtung der Personalität des anderen hinausgehende wechselseitige Einstehen der einzelnen füreinander in einer Gesellschaft. Auch da, wo der einzelne in der Betätigung seiner Freiheit, selbst unter der Voraussetzung gleicher formaler Möglichkeiten real nicht im Stande ist, zu einem menschenwürdigen Dasein in Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse und persönlichen Fähigkeiten zu gelangen.

 

... Bleibt nicht auch und gerade die Solidarität in der Liberalität begründet und durch sie begrenzt, dann kann auch bei äusserlichem Fortbestehen einer formalen Demokratie die Gesellschaft durch ein Übermass an Fremdbestimmung und Bevormundung des einzelnen, selbst zu seinem vermeintlichen und vorgeblichen Wohl, zur 'formierten Gesellschaft' deformieren.

 

.... Ein Staat kann Freiheit garantieren. Ein Staat kann mit einiger Entschlossenheit auch Gleichheit garantieren. Aber ein Staat kann niemals Solidarität organisieren, er kann allenfalls für ein Minimum an Solidarität von Staats wegen mittels des Rechts Sorge tragen, aber er kann niemals ein Optimum, geschweige denn ein Maximum an Solidarität in die Gesellschaft hineinzwingen.

Brüderlichkeit kann, so wie unsere Welt nun einmal geschaffen ist, nie von aussen und oben gestiftet werden. Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit, aktive Solidarität, praktische Diakonie oder welche Worte wir für die gleiche Sache sonst noch gebrauchen, sind und bleiben, richtig verstanden, die zweite wichtige Aufgabe für unsere Kirchen (die erste ist die ‚Moralität’), soll in unserer säkularen und pluralen Gesellschaft ein Maximum an Solidarität erreicht werden."

 

In der anschliessenden Diskussion präzisierte Maihofer:

"Keinesfalls ist das so, dass wir sagen: die Brüderlichkeit, oder wie man heute viel flacher sagt: die Solidarität, überlassen wir den Kirchen. Keine Rede davon! Der ganze freiheitliche Sozialstaat ist eine grosse Organisation der Solidarität, allerdings nur eines Minimums an Solidarität.

 

Was wir da an Krankenversicherungen, Altersfürsorge - und was immer - haben in einem freiheitlichen Sozialstaat, das ist eine grosse Errungenschaft, nur, das bringt uns nie ein Maximum an Solidarität, so wie es der einzelne z. B. in der Ehe lebt.

... Was das innerlich bedeutet, die Erfüllung ehelicher Liebe, was sie wirklich bedeutet und fordert, das können Sie juristisch überhaupt nicht, auch nicht über eine rechtliche Feststellungsklage, erreichen. All das muss herauswachsen aus den Sinnantworten, den Lebenshandlungen, den Lebensentwürfen der einzelnen Glieder der Gesellschaft selber, und die stammen ja nicht nur aus eigenen Überlegungen, sondern stammen aus unserer ganzen christlichen Tradition" [3].

 

F. D. P.: Die Freiburger Thesen der Liberalen 1971

 

Der Umweg über einen Vortrag von Werner Maihofer hat sich aufgedrängt, weil in den "Freiburger Thesen" nach dem Rückbezug auf die drei Gedanken der Revolution von 1789 Gleichheit und Brüderlichkeit keine Erwähnung mehr finden.

Dennoch lässt sich die Wirksamkeit des Solidaritätsgedankens in einzelnen Thesen nachweisen, bedeutet doch Freiheit für den modernen Liberalismus "nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten autonomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt".

 

Insbesondere im liberalen Programm der "Reform des Kapitalismus" wird folgendes angestrebt:

"die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen".

Denn "das Vertrauen des klassischen Liberalismus, die Ziele einer liberalen Gesellschaft aus dem Selbstlauf einer privaten Wirtschaft zu erreichen, ist nach den geschichtlichen Erfahrungen nur in Grenzen gerechtfertigt. Es besteht kein selbstverständlicher Einklang zwischen persönlichem Vorteil und allgemeinem Wohl."

Wo die menschlichen Antriebe zur Übervorteilung des Einen durch den Anderen führen, wird das allgemeine Wohl zerstört. So bedarf es dann "gezielter Gegenmassnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts", um etwa die "Grundstückspekulation" zu erschweren oder den Umweltschutz "gegenüber örtlichen, oft kurzsichtigen Sonderinteressen“ durchzusetzen.

 

Hinter einer solchen Auffassung stecken zumindest drei wichtige Postulate:

 

1. die "Sozialbindung des Eigentums", ja die "Sozialpflichtigkeit des Besitzes und Gebrauchs" sowohl von Grund und Boden als auch von Produktionsmitteln;

2. "die reale Chance jedes Bürgers zur Eigentumsbildung" und dabei insbesondere die Gelegenheit für "möglichst viele Bürger", auch Grund und Boden (sowie Wohnungseigentum) zu erwerben;

3. "das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand", wobei eine liberale Umweltpolitik nicht nur allen Bürgern eine gesunde Umwelt sichern, sondern auch "ihren wachsenden Freizeitbedürfnissen Rechnung tragen und damit bessere Chancen für die Nutzung der Freizeit eröffnen" muss.

 

Die moderne Betriebswirklichkeit schliesslich ist auf "die sachorientierte Kooperation aller angewiesen". Ja noch mehr, es ist von einer "grundsätzlichen Mitverantwortung der Faktoren Kapital, Disposition und Arbeit" auszugehen, wobei auch hier dem Gesetzgeber die Aufgabe zugewiesen wird, "für partnerschaftliche Formen der Mitwirkung und Mitbeteiligung der Faktoren Kapital und Arbeit neue Unternehmensmodelle bereitzustellen".

Ergibt sich solcherart eine "Optimierung nicht nur der Leistungsfähigkeit, sondern auch der Menschlichkeit dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, dann entsteht ein "effektiver und humaner Kapitalismus", eine "liberale Gesellschaft grösstmöglicher und gleichberechtigter Freiheit und Sicherheit, Wohlfahrt und Gerechtigkeit für alle Bürger auf der Grundlage privater Wirtschaft".

 

Fundament solcher solidarischer Züge, wozu auch die Hütung und Wahrung der Tradition, das Prinzip der Toleranz, der Schutz von Minderheiten, der Beitrag der Bundesregierung zu internationalen Umweltschutz-Programmen und -massnahmen sowie die Schaffung einer menschenwürdigen Umwelt auch für künftige Generationen zählen, sind die drei Grundsätze, welche Friedrich Naumann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aufgestellt hat: Die Gesellschaft sind wir alle! Der Staat sind wir alle! Der Betrieb sind wir alle! jeweils ergänzt durch die Gegenforderung: Gesellschaft, Staat und Betrieb dürfen nicht alles [4].

 

Einer, der die Tradition Friedrich Naumanns hochgehalten hat, war der einstige Bundesgeschäftsführer und Generalsekretär der F. D. P., Karl-Hermann Flach. Er hat die Freiburger Thesen mitgeprägt. In seinen "Beiträgen zur liberalen Politik" (1979) fordert der Frühverstorbene mit der ihm eigenen Deutlichkeit:

"Wir müssen endlich einmal die Gesinnung abstreifen, als könne man Gemeinschaftsziele immer nur auf Kosten des anderen erreichen. Das Prinzip der Solidarität muss stärker unser aller Denken und Handeln bestimmen," geht es doch "um die besten Lösungen für den freiheitlichen Staat und die gesamte Gesellschaft und nicht um die materiellen Interessen oder Machtansprüche einzelner Gruppen." Und wenn wir uns gar "auf dem Weg zur Weltinnenpolitik" (Carl Friedrich von Weizsäcker) befinden, müssen wir uns bewusst sein: "wir leben alle in einer Welt und sind wechselseitig füreinander mitverantwortlich" [5].

 

Aus alledem wird ersichtlich, dass der Solidaritätsgedanke sowohl in sozialdemokratischer und christlicher wie liberaler Sicht auf erstaunliche Weise ähnlich gefasst werden kann - zumindest in der Theorie.

 

 

Teil II: Solidarität ist so alt wie die Schweiz

 

Von der Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat

 

Gedanke und Praxis der Solidarität sind mindestens so alt wie die schweizerische Eidgenossenschaft. Was anderes hätte es denn vermocht, das gegenseitige Einstehen von so ungleichen Partnern 500 Jahre lang ohne Vertragsurkunde, Verfassung und Regierung in wechselvollem Geschick aufrechtzuerhalten?

 

Es brauchte den Eingriff einer fremden Macht, der Franzosen, welche den Schweizern eine Verfassung aufzwang und einen Einheitsstaat formte (die Helvetische Republik von 1798). Doch bald marschierten österreichische und russische Heere ins Land. Zu den Zerstörungen und einer Missernte kamen heftige innere Zwiste zwischen den Föderalisten und den Zentralisten, bis Napoleon selbst eingriff und eine Vermittlungsverfassung vorschlug (Mediation 1803). Allerdings blieb die Schweiz damit bis zu seinem Sturz ein Untertanenland.

Erst der Bundesvertrag von 1815 brachte die Selbständigkeit und stellte viele frühere Einrichtungen wieder her (Restauration). Die Gesandten der nunmehr 22 Kantone schworen, "im Glück und im Unglück als Brüder und Eidgenossen miteinander zu leben".

 

Das verhinderte indes nicht den Ausbruch des "Kantönligeistes", der im Anschluss an die französische Revolution von 1830 im Erstarken der Volkssouveränität (Regeneration) und im Sonderbundskrieg - mit knapp 100 Toten und 500 Verwundeten - kulminierte, bis das Land endlich mit der Bundesverfassung von 1848 zum Bundesstaat wurde, welcher ein vorläufig ausgewogenes Verhältnis von Gemeindeautonomie, Selbstbestimmung und -verwaltung der Stände (Föderalismus) sowie Aufgaben und Befugnissen des "Bundes" brachte.

 

Der Grundsatz der Solidarität wird seither vielfältig sichtbar, etwa im Kollegialitätsprinzip der Regierungs- und Bundesräte, in der allgemeinen Wehrpflicht, in der Pflicht, ein Amt anzunehmen, wenn man in eines gewählt wird (z .B. Gemeinderat), in der Gleichberechtigung der vier Landessprachen, im Finanzausgleich, usw.

 

Gruppensolidarität

 

Selbstverständlich gibt es neben solchen Beispielen einer Volkssolidarität auch spezifische Formen, wie etwa Gruppensolidarität in unterschiedlicher Ausprägung.

 

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht zeigte sich der Solidaritätsgedanke sehr früh, etwa in den Talgenossenschaften der freien Bauern und in den Walserkolonien Bündens, in der Zusammenarbeit von Klöstern, Städten und Landschaft oder in den "ökonomischen Gesellschaften" des 18. Jahrhunderts.

 

Fehlschläge blieben freilich nicht aus. Sie potenzierten sich mit dem Einsetzen der Industrialisierung. Immerhin erliess schon 1815 der Zürcher Regierungsrat eine Verordnung über die Kinderarbeit, wurden 1830 die meisten Vorrechte der Städte gegenüber der Landschaft abgeschafft und 1846 im Kanton Glarus ein Gesetz über die Beschränkung der Arbeitszeit beschlossen und verordnet (1864 folgte das "Fabrikgesetz").

 

In der Privatwirtschaft ging Hans Caspar Escher mit praktizierter Solidarität voraus, gründete er doch schon 1831 eine „Fakultative Kranken-, Invaliden- und Sterbekasse für männliche Spinnereiarbeiter" und liess noch zu seinen Lebezeiten Arbeiterwohnungen und eine Fabrikschule für die Kinder der Arbeiter bauen.

Die Firma Riete; errichtete nach der Jahrhundertmitte in Töss beidseitig der Rieterstrasse eine eigentliche Arbeitersiedlung, die sich mit ihren freistehenden Doppeleinfamilienhäusern deutlich von den sonst üblichen "Kosthäusern" abhob.

 

Johann Kaspar Bluntschli und die Arbeiterfrage

 

Daneben entstanden aus privater Initiative Gemeinnützige Gesellschaften, und der Zürcher Johann Kaspar Bluntschli setzte sich in den vierziger Jahren wie auch in seinem Lehrbuch über Staatsrecht (1851) mit der Arbeiterfrage auseinander. Er meinte, es sei nur gerecht, wenn "diejenigen, die in guten Zeiten aus der Fabrikation Gewinn ziehen, auch verpflichtet werden, für die bösen Tage vorzusorgen“. Die gesetzliche Regelung dieser Pflichten betrachtete er allerdings nur als Notbehelf; die entsprechenden Massnahmen des Arbeitgebers hätten "als freies Werk der Humanität einen höheren Wert".

Einige Jahre später forderte er in einem Entwurf über das Verhältnis zwischen Fabrikinhaber und Arbeiter, dass die Kräfte des Arbeiters "nicht aus ökonomischen Interessen eines anderen" aufgezehrt werden sollten und begründete dies mit "der Anerkennung der Persönlichkeit des Individuums“. Die gegenseitigen Beziehungen unter den Menschen müssten vor allen Dingen "so geordnet sein, dass die Menschen nebeneinander bestehen können" [6].

Ähnliches forderte zur selben Zeit der Basler Fabrikherr Carl Sarasin. Er "widmete sich mit besonderer tatkräftiger Teilnahme den Verhältnissen der Fabrikarbeiter", heisst es in seinem Nachruf.

 

Kommunistische und sozialistische Ansätze

 

Auf der Seite der Arbeiterschaft und Gewerbetreibenden selber kam es 1838 zur Gründung des "Grütlivereins". Der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling gründete in Zürich den Verein "Hoffnung". Er sah die Arbeiterbewegung schon vor Marx als Klassenkampf und forderte zur Überwindung der Klassengegensätze die Abschaffung des Privateigentums und die Verpflichtung aller zur Arbeit.

Als Ziel seiner Gesellschaftsvision sah er allerdings, "jedem Individuum die möglichst volle Befriedigung seiner Bedürfnisse, Begierden und Wünsche, oder, mit andern Worten, den möglichst vollen Genuss seiner persönlichen Freiheit zu sichern“ [7].

 

Das ist gewiss eine interessante Verschränkung von kommunistischen und liberalen Zielsetzungen. Immerhin hat auch die katholische Soziallehre seit den Rundschreiben von Papst Leo XIII. über die Arbeiterfrage, "rerum novarum", 1981, die Solidarität als spannungsvolle Mitte zwischen Kollektivismus und Individualismus einprägsam in die Trias gefasst: Personalität, Solidarität, Subsidiarität.

 

Andere "Sozialisten" lehnten die Abschaffung des Privateigentums resp. den Klassenkampf ab, gründeten Arbeiter- und Gesellenvereine, die sich nicht nur in Geselligkeit und Bildung erschöpften, sondern auch durch die Äufnung gemeinsamer Fonds Selbsthilfe betrieben. Die Unterstützungskassen wandelten sich mit der Zeit zu Streikkassen und spielten damit eine bedeutende Rolle in der Entwicklung zu gewerkschaftlichen Organisationen.

Eine andere Form der Selbsthilfe fand in den Produktions- und Konsumgenossenschaft statt, wobei wiederum Glarus voranging (Aktienbäckerei in Schwanden 1839). Dem Basler Konsumverein (1847) folgte der drei Jahre später von Johann Jakob Treichler und Karl Bürkli gegründete Konsumverein Zürich.

Mit der nationalen wie "internationalen" Arbeitersolidarität sind neben Bürkli auch.die Namen Johann Philipp Becker, Pierre Coullery, James Guillaume und Hermann Greulich verbunden.

 

Die Schweiz und die Völkergemeinschaft

 

Asyl und Gute Dienste

 

Was die offiziellen Beziehungen zur Völkergemeinschaft anlangt, so bot die Schweiz, insbesondere seit der Anerkennung der Neutralität durch den Wiener Kongress 1815, aus religiösen und politischen Gründen Verfolgten Asyl; neben vielen Namenlosen auch etwa Mazzini und Garibaldi, Herzen und Bakunin oder die Bourbaki-Armee (1871).

 

1864 trug sie entscheidendes zur ersten Genfer-Konvention bei, und in den folgenden Jahren bot sie sich als Sitz zahlreicher internationaler Organisationen an. Aus dem 1863 von Henri Dunant gegründeten "Genfer Komitee" ging das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hervor.

 

Nicht zu unterschätzen sind auf diplomatischer Ebene die "Guten Dienste". So hatte etwa Bluntschli massgeblichen Anteil daran, dass ein Streit zwischen den USA und Grossbritannien nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1872 durch ein internationales Schiedsgericht im Genfer Stadthaus beigelegt werden konnte.

 

Seither hat die Schweiz massgeblich an der Weiterentwicklung des Völkerrechts und in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit mitgewirkt, und zwar durchaus im Bewusstsein dessen, dass in diesem Bereich nur ein Minimum an Solidarität hergestellt werden kann, wie das der Jurist Werner Maihofer deutlich herausgestrichen hat.

 

Um die Jahrhundertwende gehörte sie zu den Pionieren internationaler Arbeiterschutzabkommen, 1919 wartete sie an der Friedenskonferenz in Paris mit einem eigenen Völkerbundsvertrag auf; Genf wurde dann Sitz des Völkerbundes.

 

Internationale Konferenzen

 

Die Zahl internationaler Konferenzen und Kongresse, welchen die Schweiz als Gastland diente, ist unabsehbar. Es begann 1866 in Genf mit der Ersten Internationale (1867 in Lausanne, 1869 in Basel); später folgten der erste Zionistenkongress 1897 in Basel, die Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kiental (1916) mit Lenin, die Friedenskonferenz von Lausanne (1923) mit dem daraus resultierenden Locarno-Pakt (1925), die Algerienkonferenz (1960-62), die israelischarabische Friedenskonferenz (1973) und die Europäische Sicherheitskonferenz (1973ff).

 

„Neutralität und Solidarität“ …

 

Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs brachte das Jahr 1947 eine neue Konkretisierung des Solidaritätsgedankens: in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht durch die Einführung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV, bereits 1925 vorbereitet) und die gleichzeitig vom Volk angenommenen Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung (Art. 31-34ter, nachdem schon 1941 Gesamtarbeitsverträge durch einen dringlichen Bundesbeschluss für allgemeinverbindlich erklärt worden waren), in aussenpolitischer Hinsicht durch die von Bundesrat Max Petitpierre geprägte Formel "Neutralität und Solidarität“.

Damit meinte er:

"Die Neutralität muss aktiv sein, das heisst, der neutrale Staat muss bereit sein, Aufgaben im Dienste des Friedens auf sich zu nehmen, um die friedliche Lösung von Problemen zu erleichtern

... Die Neutralität darf nicht als Ausdruck eines engen egoistischen Interesses erscheinen, Sie erhält ihre volle Daseinsberechtigung erst, wenn sie neben den ihr eigenen unmittelbaren Zwecken auch dem übergeordneten Ziel des allgemeinen Friedens dient."

 

Damit ist erneut die übergreifende Solidarität angesprochen, die, wie eingangs zu sehen war, von den Parteien jeglicher Couleur getragen wird. Als Maxime der schweizerischen Aussenpolitik findet sie sich bei genauerer Betrachtung schon bei den Bundesräten Motta (1936) und Calonder (1917) [8].

 

Später hat dann Bundesrat Wahlen die Entwicklungshilfe als "vornehmste Möglichkeit zur Betätigung der internationalen Solidarität" herausgestrichen und gefordert:

"Wir müssen uns viel mehr als bis anhin die Grundlagen zum Verständnis der jetzigen Lage und der wirklichen Bedürfnisse dieser Völker zu erarbeiten suchen, wenn wir nicht psychologische und sachliche Fehler begehen wollen, die schwer reparierbar wären.

 

So ist es nötig, von der etwas naiven Vorstellung abzukommen, wir könnten unsere westlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Institutionen einfach auf einen Wurzelstock alter Traditionen aufpfropfen, der mit ihnen gar nichts gemein hat. Sodann ist es wichtig, nicht in Kategorien einseitiger Hilfe zu denken, sondern die Arbeit als eine echte Partnerschaft aufzuziehen. Und endlich ist zu beachtend dass mit Geld allein die Aufgabe nicht zu erfüllen ist, sondern dass wir vor allem qualifizierte, einfühlungsfähige Menschen brauchen, um sie auszuführen" [9].

 

Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass sich Partnerschaft nicht in Gesetzesvorschriften einfangen lässt, sondern dass sie nur einen Appell darstellen kann, eine Absichtserklärung auf der Grundlage einer solidarischen Einstellung.

 

… und „Universalität“ und „Disponibilität“

 

Seither sind für die schweizerische Aussenpolitik "Universalität" (1945 resp. 1956) und "Disponibilität" (1965) dazugekommen, was eine Anknüpfung an die früher geleisteten "Guten Dienste" erlaubt So hat beispielsweise Bundesrat Pierre Aubert in der aussenpolitischen Debatte des Nationalrats vom 14. März 1979 ausgeführt:

"Ein Staat, der der Welt gegenüber so offen ist wie die Schweiz, ... muss eine aktive Aussenpolitik betreiben.

 

... Universalität ist ein Korrelat der Neutralität. Sie bedeutet, dass wir uns bemühen, mit allen Staaten diplomatische Beziehungen zu unterhalten, ungeachtet ihres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems.

... Unser Willen zur Solidarität ist eine Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit.

 

... Die Entwicklungszusammenarbeit, eine Aufgabe erster Ordnung unserer Aussenpolitik, kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Aber die Solidarität mit den weniger begüterten Völkern ist auf jeden Fall ihre erste und wesentlichste Grundlage. Wir dürfen jedoch die wirtschaftlichen Überlegungen nicht vergessen. Sogar die Sicherheitspolitik spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, denn unser Land ist in hohem Masse an der Stabilität und am Frieden in der Welt interessiert. Und der Frieden ist bekanntlich unteilbar."

 

Unter Disponibilität greift Aubert auf die oben erwähnten Guten Dienste zurück: die Vertretung von Interessen gewisser Staaten bei anderen Staaten, mit denen diese keine diplomatischen Beziehung unterhalten; die Übernahme von Schutzmachtfunktionen (Bangladesh); die Teilnahme an der Kommission zur Kontrolle des Waffenstillstandes in Korea; der Einsatz schweizerischer Persönlichkeiten in internationalen Missionen (Jerusalem, Namibia, Vietnam); die Beherbergung internationaler Konferenzen und Zusammenkünfte und schliesslich das Gastrecht für internationale Organisationen, insbesondere für das Genfer Büro der Vereinten Nationen und für die Hauptsitze von sechs Spezialorganisationen derselben.

 

Auch die Teilnahme an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sieht er sowohl als

"Ausdruck einer Solidarität gegenüber den anderen europäischen Staaten, und vor allem gegenüber denjenigen Osteuropas, als auch eines sehr direkten Interessens am Frieden und an der Entwicklung internationaler Beziehungen jeder Art, vor allem solcher zwischen den Menschen in Europa."

 

Fundamente einer dergestalt aktiven und furchtlosen Aussenpolitik sind Berechenbarkeit, Glaubwürdigkeit und Kontinuität, aber auch, wie es Bundesrat Pierre Graber bereits vier Jahre vorher formuliert hatte, "eine zunehmend offenere Geisteshaltung, eine verfeinerte Sensibilität, eine grosszügigere Vorstellungskraft" [10].

 

 

Teil III: Marxismus: Kampf für die Brüderlichkeit

 

Es gibt in der Form ähnliche, aber im Inhalt ganz andere Auffassungen von Solidarität. Während 1883 August Bebel, der Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1869) noch von der "auf voller Freiheit und demokratischer Gleichheit" organisierten Arbeit spricht, "bei der alle für einen und einer für alle stehen, also die volle Solidarität herrscht“, und nach der Jahrhundertwende der deutsche Katholizismus das solidarische Prinzip: "Einer für alle und alle für einen" .übernimmt, taucht es in den "Grundlagen der marxistischen Ethik" von Aleksandr F. Schischkin (1964) unter den "Moralforderungen" erneut auf:

"Einer für alle, alle für einen. - Humanes Verhalten und gegenseitige Achtung der Menschen: der Mensch ist des Menschen Freund, Genosse und Bruder."

 

Allerdings wechseln nun die Inhalte, wenn die Normen dieses Moralkodexes nur innerhalb eines bestimmten Gebietes gültig sind. Durch die weitere Forderung "Unversöhnlichkeit gegenüber den Feinden des Kommunismus" wird der Hass zu einem positiven ethischen Wert proklamiert.

 

Ein profilierter Exponent dieser Auffassung ist der polnische Philosoph Adam Schaff, hat er doch 1976 in einem Aufsatz über "Die Lösung der Brüderlichkeit im Marxismus" mit Bezug auf die "ruhmvolle Dreieinigkeit der Französischen Revolution" folgendes ausgesprochen:

"Ohne Freiheit und Gleichheit aller Menschen ist die Brüderlichkeit zwischen ihnen ein Ding der Unmöglichkeit und wird zur inhaltslose. Parole.

.... Eine bedeutendere Schwierigkeit besteht darin, dass die Akzeptierung dieser Losung in bestimmten Situationen unvermeidlich ihre Negation nach sich ziehen muss.

... Wir wollen von einer paradox klingenden These ausgehen, dass nämlich jeder, der Brüderlichkeit fordert und den Gehalt dessen, was er verkündet, zur Richtschnur seines Handelns macht, der also darin eine Losung sieht, um deren Verwirklichung gekämpft werden muss und nicht nur eine liturgische Formel, dass also jeder, der sich auf diesen Standpunkt stellt, die Brüderlichkeit gegenüber jenen, die sich ihrer Verwirklichung entgegensetzen, verneinen muss ... Anders gesagt, vielleicht klarer, aber auch brutaler: Wer die Nächstenliebe verkündet und darin nicht nur eine leere Phrase sieht, sondern ein Aktionsprogramm, der muss gleichzeitig - ob er will oder nicht - ein Gegner der Feinde der Nächstenliebe sein, er muss sie bekämpfen."

 

Das erinnert an die Problematik der Toleranz beim Liberalismus, die nur "bis an die Grenze der Intoleranz gegen prinzipielle Intoleranz" gehen kann. Und im Grundsatzprogramm der CDU heisst es sogar: "Widerstand gilt daher denen, die Ihre begrenzten Überzeugungen anderen aufzwingen wollen."

 

Schaff behauptet, die Kräfte, die für und gegen diese Verwirklichung des Ziels "Brüderschaft zwischen allen Menschen" sind, stünden einander im Klassenkampf gegenüber, wobei die einen "auf alle mögliche Weise - darunter auch mit Meuchelmord und unverhülltem Krieg - bestrebt sind, die Verwirklichung dieses Ziels zu verhindern."

 

Da nun der Marxismus ein Humanismus ist, für den der Mensch "den höchsten Wert" darstellt, und da er "ein realer und infolgedessen kämpfender Humanismus" ist, müssen die Feinde seiner Ziele bekämpft werden.

"In welchen Formen und mit welchen Methoden dieser Kampf geführt wird, das hängt schon von den konkreten Bedingungen ab. Es können friedliche Formen sein, also normale Formen der gewerkschaftlichen, agitatorischen, parlamentarischen und aussenparlamentarischen Tätigkeit; es können aber auch Formen des Kampfes sein, in denen Gewalt angewandt wird - Revolutionen, Befreiungskriege, usw."

 

Was der Marxismus, nach Schaff, freilich immer ablehnte und ablehnt, ist der individuelle und Gruppen-Terror, denn dieser lenkt "die Aufmerksamkeit der revolutionären Bewegung von ihrem eigentlichen politischen Kampf ab und stärkt auf diese Weise - objektiv gesehen - das feindliche Regime" [11].

 

 

Ausklang: Drei Bedeutungen und drei Dimensionen von Solidarität

 

Die "Verbrüderung aller Menschen" als Zumutung, der Kampf als Zumutung? Ist das noch Humanität und Solidarität?

 

Vielleicht ist die Zeit für ein systematisches Vorgehen gekommen. Solidarität weist zumindest drei Bedeutungen auf und erstreckt sich in drei Dimensionen.

 

Die Bedeutungen lassen sich folgendermassen schematisieren:

1. Solidarität als menschliche Disposition (Vermögen, Bedürfnis, Gefühl, Sinn, Charakteristikum);

2. Solidarität als moralischer Imperativ, Ziel, Wert, Idee;

3. Solidarität als systemtheoretisches Ordnungsprinzip.

 

Die drei Dimensionen sind die horizontale (annähernd der Räumlichkeit vergleichbar), die vertikale (Zeitbezug) und die transzendente.

  • Die horizontale erstreckt sich von der Solidarität in Gruppen, Regionen, Nationen über "die Welt" bis zur Biosphäre.
  • Die vertikale Dimension betrifft die Achtung des individuellen und gemeinsamen Erbes in der einen Richtung, die Verantwortung für die nachfolgenden Generationen in der anderen Richtung.
  • Der Bezug zur Transzendenz, zu einem Göttlichen, zu anderen Wirklichkeiten bildet die dritte Dimension.

Erstaunlicherweise biegen die Achsen sowohl der horizontalen wie vertikalen Dimension bald in die transzendente ab.

 

Solidarität mit den Menschen, aber auch mit allem, was da kreucht und fleucht, mit der "Erde" und dem "Leben" weist stets über das rein Materielle oder Biologische hinaus, ebenso die Verbundenheit mit Vergangenheit und Zukunft.

Das verwundert wenig, denn, beim Wort genommen, bedeutet Solidarität "Teilnahme am Ganzen", kommt doch das französische "solidaire" vom Mittellateinischen "in solidum", "für das Ganze". Diesen Gehalt gilt es wieder zu entdecken.

 

 

Literaturangaben

 

1. Klaus Christoph: Solidarität. Reihe Grundwerte Bd. 5; Texte zur politischen Bildung, hrsg. von Franz Neumann. Baden-Baden: Signal 1979, 66.

2. Heiner Geissler (Hrsg.): Grundwerte in der Politik. Analysen und Beiträge zum Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschland. Frankfurt: Ullstein Buch Nr. 34502, 1979, 129-130.

3. Werner Maihofer: Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft. In: Günter Gorschenek (Hrsg.): Grundwerte in Staat und Gesellschaft. München: Beck, Schwarze Reihe Bd. 156, 1977, 88-129; Zitate 93-94, 101, 127-128.

4. Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer, Walter Scheel: Die Freiburger Thesen der Liberalen. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch-Verlag, rororo aktuell Nr. 1545, bes. 55-123.

5. Karl-Hermann Flach: Mehr Freiheit für mehr Menschen. Beiträge zur liberalen Politik. (Zusammenstellung und Redaktion Peter Juling). Baden-Baden: Nomos 1979, 135, 134, 118.

6. Zürcher Bürger- und Heimatbuch. Erziehungsdirektion, 7. Aufl. 1962, 82-83.

7. Niklaus Flüeler. Roland Gfeller-Corthésy (Hrsg.) : Die Schweiz. (zehnte Buchgabe des Migros-Genossenschafts-Bundes) Ex Libris 1975, 106.

8. Alois Riklin, Hans Haug, Hans Christoph Binswanger (Hrsg.): Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik. Bern: Haupt, 1975, 32; vgl. 114, 405, 533ff, 601, 773f.

9. Siehe 6, Seiten 172-173, 174-175.

10. Nationalrat: Aussenpolitische Debatte. Antwort von Bundesrat Pierre Aubert, Vorsteher des politische Departements. 14. März 1979, 4-6, 10, 27-28.

11. Adam Schaff: Unser Ziel und der Weg. Die Losung der Brüderlichkeit im Marxismus. In: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.): Brüderlichkeit, die vergessene Parole. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1976, 77-84.

 

(geschrieben Juni-November 1981; die „Schweizer Monatshefte“ empfahlen ein Überarbeitung und Straffung)

 



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