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Johann Heinrich Lambert und das "Systems Engineering"

- 200 Jahre Systemdenken

 

erschienen in der Schweizer Rundschau 73 (September/Oktober 1974), 321-330;
Nachdruck u. d. T.: Lamberts "Wissenschaftliche Anweisung zum Projectemachen". In Roland Müller: Innovation gewinnt. Zürich: Orell Füssli 1997, 138-152 (mit neu eingefügten Zwischentiteln)

 

 

siehe auch:

Grundlagen der Systemwissenschaft [?]

Systemtheorie als Orientierungshilfe?

 

 

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienen die kleine Schrift des Philosophen Nicolai Hartmann «Philosophische Grundfragen der Biologie», das Buch von L. J. Henderson «The Fitness of the Environment» und schrieb ein Autor in der Zeitschrift «Logos»:

«Das ‹offene System› … ist niemals abschliessbar und fordert zu beständiger Um- und Neubildung auf.».

 

Während Henderson bereits homöostatische Prozesse ausführlich beschrieb, fasste Hartmann den Organismus als «ein sich selbst erbauendes System von Formungen und formbildenden Prozessen» auf, wobei der Formbildungsprozess im Zusammenwirken äusserer und innerer Bedingungen besteht.

«Alle Teile und Teilprozesse sind von Grund aus zweckmässig in bezug auf den Organismus als Ganzes, das heisst auf seine Selbsterbauung und Selbsterhaltung, oder die Erhaltung seiner Art.»

 

Genauso bedeutsam wie diese Feststellungen, die dann der nach Amerika emigrierte Wiener Biologe Ludwig von Bertalanffy unter Verwendung der Auffassung vom «offenen» System zu einer «Systemtheorie des Lebens» führte, sind Hartmanns Einsichten in die Stufenordnung der Systeme sowie in die Prozesse der Selbstregulation sowohl des Stoffwechsels wie des ganzen Lebewesens als auch der Art und der Gattung.

 

Grundsätze der System-Hierarchie

 

Die zwei Grundsätze der System-Hierarchie lauten:

·        Jedes begrenzte System ist ein Glied eines höheren Systems und enthält kleinere Systeme in sich.

·        Es gibt auch eine Wechselwirkung von Systemordnungen untereinander, also nicht nur innerhalb von Systemen, sondern auch zwischen Systemen verschiedener Stufen.

Als Philosoph steckt Hartmann natürlich gleich die ganze Sprossenleiter der Systemebenen ab, und zwar vom Weltall über den Tierstock, die sichtbaren Körper, die Zellen und plasmatischen Strukturelemente bis zu den Molekülen und Atomen.

 

Der Organismus hat Selbstregulation

 

Was die Selbstregulation anbetrifft, verficht Hartmann eine logische wie naturwissenschaftliche Priorität des Prozesses vor der Form, und er betrachtet die Aktivität nicht als Folgeerscheinung, sondern als Bedingung des Lebens.

Der bekannt gewordene Satz Bertalanffys, «Die Formen des Lebendigen sind nicht, sie geschehen», aus dem «Biologischen Weltbild» von 1949 findet sich deshalb schon 37 Jahre früher bei Hartmann:

«Wir kennen die lebendige Form nicht anders als im Prozess begriffen und im Prozess entstehend.» Daher macht «das Vermögen der Erhaltung des Ganzen im Wechsel und trotz des Wechsels seiner Teile den zentralen Punkt im Fortbestand des Lebendigen aus». Und dieses Vermögen des Organismus ist eben die durchgehende Selbstregulation, welche die «relative Stabilität seines Gleichgewichts» garantiert.

Diese Auffassung baute wiederum Bertalanffy unter Beizug von mathematischen Berechnungsmethoden zur «Biophysik des Fliessgleichgewichts» (1953) aus.

 

Auch die Auseinandersetzung um den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, die in den dreissiger und vierziger Jahren vor allem von der «Belgischen Schule» (Onsager, Prigogine, de Groot) geführt wurde und von Bertalanffy ebenfalls in seine «Theorie der offenen Systeme» aufgenommen wurde, hat Hartmann vorausgesehen, wenn er bemerkt, dass in der Biologie ein anderer Erhaltungsbegriff notwendig sei als derjenige der (damaligen) mathematischen Naturwissenschaft.

 

Der erste echte Systemtheoretiker

 

So ist also das moderne Systemdenken und die Untersuchung von Regelungsvorgängen viel älter, als man gemeinhin annimmt. Doch unser Blick in die Vergangenheit müsste noch weiter zurückgehen.

Im Bereich der Philosophie etwa zu Richard Avenarius mit seiner Theorie des System-C und System-R (1888/1890) oder gar zum ersten echten Systemtheoretiker der Geschichte, dem gebürtigen Mülhauser Johann Heinrich Lambert (1728 bis 1777). Er brachte es vom Bürger eines zugewandten Ortes der Alten Eidgenossenschaft und Schneiderssohn zum Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Kant bezeichnete ihn als «ausserordentliches Genie».

 

Definition von «System»

 

Wie beachtenswert der Beitrag Lamberts zum Systemdenken ist, geht u. a. daraus hervor, dass die Herausgeber des Sammelbandes «Systemtheorie und Systemtechnik» (F. Händle und St. Jensen, Nymphenburger Texte zur Wissenschaft, 1974) seine leider nur als Fragment erhaltene «Systematologie» (1787) sowie die «Theorie der Systeme» (1782) im Originalwortlaut abgedruckt haben.

 

Hier findet sich bereits die Auffassung, dass alles, was weder Chaos, Klumpen und Zerrüttung noch ein Einfaches ist, «sofern es einfach ist», als System, als «zweckmässig zusammengesetztes Ganzes» betrachtet werden kann.

Als besondere Kennzeichen von Systemen gelten also Ganzheit und Teile. «Diese müssen auseinander gesetzt, jedes für sich kenntlich, mit Absicht gestellt oder geordnet, und alle mit einander so verbunden seyn, dass sie gerade das der vorgesetzten Absicht gemässe Ganze ausmachen.» Solange es die Absicht erfordert, muss das System fortdauern können, weshalb nicht nur «verbindende Kräfte», sondern auch «Bedingungen des Beharrungszustandes und Gleichgewichtes» erforderlich sind, «zumal wenn das System sowohl der Grösse als der Anzahl und Anordnung der Theile nach Veränderungen zu leiden hat, oder auch solche hervorbringen soll».

 

Lambert geht aber noch weiter, indem er auch der Beziehung eines Systems einerseits zu anderen Systemen, anderseits zu den «Erkenntniskräften» Beachtung schenkte. Und schliesslich postuliert er, dass anhand jedes Bestandteils eines Systems (Abb. 1) Hauptklassen von Systemen gebildet werden können.

In seinem Fragment führt er dies freilich nur nach «verbindenden Kräften», «Absichten» und ansatzweise nach der Anzahl der Teile durch.

 

Drei Arten einfacher Systeme

 

Am systematischsten befasst er sich mit der Einteilung nach Verstandes-, Willens- und Naturkräften. «Die drey Arten von Kräften sind an sich so verschieden, dass jede auch ihren besondern Gegenstand erfordert, und der Gegenstand selbst eben so ungleichartig wie die verbindende Kraft ist. So z. E. [zum Exempel; R. M.] kann durch die Kräfte des Verstandes allein weder eine Gesellschaft noch eine Maschine entstehen.» Bei einfachen Systemen werden also je von einer Art Kraft je gleichartige Teile zusammengehalten.

Infolgedessen unterscheidet Lambert:

 

1. theoretische oder Intellectualsysteme, deren Teile wahre (oder irrige) Erkenntnisse sind und durch die Kräfte des Verstandes ihre Verbindung erhalten, zum Beispiel Wissenschaften, Theorien, «Gedenkensarten» [Mentalität; R. M.], Glaubensbekenntnisse, Erzählungen, Traktate, Sprachen;

 

2. moralische oder politische Systeme, deren Teile (zweckmässige) Entscheidungen sind und durch die Kräfte des Willens verbunden sind, zum Beispiel Verträge, Gesellschaften, Staaten;

 

3. körperliche oder physische Systeme, deren Teile materiell sind und durch mechanische (oder physische) Kräfte zusammen- und in Bewegung gehalten werden, zum Beispiel das Weltgebäude, einzelne Sonnen- und Planetensysteme, die Erde und die drei Reiche der Natur, künstliche Systeme wie Maschinen, Gebäude, Instrumente.

 

Komplexe Systeme

 

Lambert übersieht dabei keineswegs dass es komplexe Systeme gibt, «wobey mehr als eine Art der verbindenden Kräfte vorkömmt; und diese sind dann auf eine ganz andere Weise zusammengesetzt. Die Theile sind dabey zugleich so wie die verbindenden Kräften ungleichartig und müssen dessen unerachtet ein wohlgeordnetes Ganzes ausmachen, wenn anders das System nicht ein Flickwerk seyn soll.»

 

Die drei Arten von Kräften sind auf verschiedene Weisen voneinander abhängig: Einerseits setzen die Kräfte des Willens den Gebrauch des Verstandes voraus, anderseits geben die physischen Kräfte dem Verstand Stoff zu seinen Erkenntnissen und Theorien, dem Willen Stoff zu Entschliessungen, und drittens hat der Wille (genauer: die Affekte) Einfluss auf die Erkenntnisse und Theorien des Verstandes, insofern er ihn zu Irrtümern und Vorurteilen verleiten kann.

 

Zusammengesetzte Systeme, bei denen alle drei Arten von Kräften vorkommen, nennt Lambert «Systeme von Mitteln und Absichten». Wichtig ist, dass zum Gebrauch des Verstandes sowohl «die Entschliessungen des Willens mit in Erwägung kommen», als auch, sofern die Erfindung und Anordnung dieser Systeme von Menschen abhängt, seine «Kräfte zu Handlungen». Denn ein komplexes System bleibt blosse Theorie oder Spekulation, wenn es nicht mit Wille und Tat sowie materiellen Mitteln zur Wirklichkeit gebracht wird.

Dass dies nicht immer möglich ist, weiss Lambert: «Man macht in der Welt auch freylich ungleich mehrere Projecte, als wirklich ausgeführt werden». Gerade deshalb wäre es wichtig, eine «wissenschaftliche Anweisung zum Projectemachen» zu haben, die viel mehr umfassen müsste als nur «methodisch gemachte Anweisung zu Bauanschlägen», nämlich eine gesamthafte Betrachtung der Problemlage.

 

Die Systembetrachtung

 

Ein Hilfsmittel dazu ist die Systembetrachtung: «Wenn auch die Allgemeine Systematologie in besonderen Fällen noch viel zu bestimmen lässt, so erleichtert sie doch das Überdenken besonderer Systeme, sie beugt der Verwirrung vor, führt zur Ordnung, giebt Anleitung sich Ideale zu bilden, deckt Lücken auf, und leitet in Untersuchung, Erfindung, Anlage, Errichtung, Erhaltung und Verbesserung besonders vorkommender Systeme.»

Dies beschreibt genau das, was heute Systems Engineering - zu Deutsch Systemtechnik, -planung oder -methodik - oder auch Systemanalyse genannt wird.

 

Diese moderne ganzheitliche Betrachtung eines Ingenieursprojekts oder eines soziotechnischen Systems, wie zum Beispiel eines Unternehmens, legt ihr Augenmerk vorwiegend auf das, was schon Lambert gesehen hat:

«Jedes System hat eine, oder auch mehrere Absichten, zu denen es dienen soll. Und so lässt sich auch für jeden Theil desselben eine, oder auch mehrere Absichten gedenken, zu denen derselbe als Mittel dienen soll. Alles soll zur Absicht des ganzen Systems dienen, und so lässt sich die Subordination und Coordination der Mittel und Absichten bey jedem System überhaupt leicht gedenken.»

 

Zusammengesetzte Handlungssysteme

 

Lambert verwendet mehrere Seiten auf die Analyse dieser Zielsetzungen. Er unterscheidet Systeme mit fortdauernden Absichten (zum Beispiel ein Uhrwerk) und solche, die man nur einmal gebrauchen kann und die nach Erfüllung der Absicht nicht mehr gebraucht oder in der Erfüllung verbraucht werden (zum Beispiel ein Baugerüst beziehungsweise ein Feuerwerk).

 

Beide Arten von Absichten finden sich in den «Systemen von Handlungen». Dabei hält Lambert bereits Handlungssysteme eines ganzen Volkes, einer Gesellschaft (Sozietät, Gruppe, Unternehmen) und des einzelnen Menschen auseinander, und zwar «sowohl überhaupt, als in Rücksicht auf die zu wählende Lebensart, oder auch einzelne besondere Absichten».

 

Ferner kommt es darauf an, «ob gewisse zum System gehörende Verrichtungen durch die Kräfte der Natur, oder durch Maschinen, oder durch Thiere geschehen können; wiefern dabey menschliche Hülfe nöthig ist; ferner welche Verrichtungen schlechterdings durch Menschen geschehen müssen; und endlich ob solche Verrichtungen eine Fertigkeit und Geschicklichkeit fordern, die fürerst erlernt werden muss, und deren Erlernung selbst und an sich schon eine Art von System ausmacht».

 

Von den Fragen der Mechanisierung und Rationalisierung - heute zusammenfassend oft Automation genannt - bis zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung, die auf möglichst systematische und effiziente Weise zu geschehen hat, finden wir also bereits bei Lambert ein waches Bewusstsein.

Dass solche Handlungssysteme «sehr zusammengesetzt und nicht leicht ganz und in allen Theilen zu übersehen sind», entlockt uns heute noch manchen Stossseufzer.

 

Arten der Veränderung von Systemen

 

Eine weitere bedeutsame Unterscheidung betrifft die Veränderung von Systemen. Es gibt

 

1. solche zufälliger Art, die meist eine «Verschlimmerung» des Zustandes bewirken und äussere Ursachen haben - man kann da an Störungen und Verzerrungen, an Verblassen und Zerfall denken;

2. solche, die mit Vorsatz erfolgen, wenn die Zielrichtung des Systems geändert hat - also Steuerung;

3. solche, die permanent sind - heute sprechen wir von Fliessgleichgewicht.

 

Zu letzteren schreibt Lambert: «Es gibt eine Menge von Systemen, und besonders die so von den Kräften des Willens, oder der Natur, oder von beiden abhängen, wo wegen des entweder nie ganz vorhandenen, oder nie lange dauernden Gleichgewichts der Kräfte, beständige Veränderungen vorgehen.

Bey solchen Systemen ist, wenn sie sollen Bestand haben können, die Bedingung nothwendig, dass die dabey vorgehenden Veränderungen, auch wenn es zum äussersten kömmt, gewisse und bestimmte Schranken nicht überschreiten, sondern sich durch ihre innere Einrichtung dem eigentlichen Mittelstande immer wieder nähern können.»

 

Formen der Selbstregulation

 

Diese Selbstregulation ist in der Tat ein besonderes Kennzeichen sowohl von Organismen wie Populationen, von Maschinen wie sozialen und soziotechnischen Systemen.

Ungefähr zur selben Zeit, als Lambert das Grundprinzip beschrieb, bauten James Watt den legendären Fliehkraftregler für die Dampfmaschine (1786) und der Amerikaner Oliver Evans in Philadelphia die erste automatische Getreidemühle mit Fliessband, wobei die Feinheit des ausgemahlenen Mehls durch Rückkoppelung geregelt wurde (1784).

Über eine ähnliche Erfindung wird bereits in der französischen «Encyclopédie» (1751 bis 1772) berichtet. Es handelt sich dabei um einen «Kornschüttler», der dafür sorgt, dass nicht zuviel und nicht zuwenig Getreide zwischen die Mühlsteine einer Windmühle gelangt.

 

Der Chirurg und Physiokrat François Quesnay, Leibarzt der Pompadour und von König Ludwig XIV., entwickelte in seinem «Tableau économique» das Modell des Wirtschaftssystems als eines sich nach eigenen, «natürlichen Gesetzen» regulierenden Kreislaufs in drei Wirtschaftsklassen (1758), und Adam Smith formulierte das Prinzip des Wettbewerbs - des Mechanismus des Marktes im freien Spiel von Angebot und Nachfrage, wobei Preise, Arbeitslöhne, Kapitalzinsen und Grundrenten um einen zentralen, «natürlichen» Wert pendeln - in den Wirtschaftssystemen, damals «Systems of Political Economy» genannt (1776).

 

Auch in den Schriften eines der Begründer der Physiologie, des Berner Arztes, Botanikers und Dichters Albrecht von Haller, etwa in dessen sechsbändigen «Elementa physiologiae corporis humani» (1757 bis 1766), lassen sich Hinweise auf die Phänomene der Selbstregulation finden, besonders was den Mechanismus der Atmung und den Automatismus der Herztätigkeit betrifft.

Der Regulation einer Population schenkten bekanntlich die Geistlichen J. P. Süssmilch (1741) und Thomas Malthus in seinem «Versuch über das Bevölkerungsgesetz» (1798) erste Aufmerksamkeit.

Schliesslich wäre noch zu erwähnen, dass bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl der Mensch (J. O. de La Mettrie) als auch der Staat (J. H. G. Justi und andere) als Maschinen betrachtet wurden. So schrieb damals beispielsweise der Kameralist A. L. Schlözer 1793, im Jahre der Guillotine: «Die instruktivste Art, Staatslehre abzuhandeln, ist, wenn man den Staat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zweck dienen soll, behandelt.» [Genaueres zum Zitat siehe: Der Staat als Maschine]

 

Anderseits sind aber die ganzheitlich-organismischen Ansätze der sogenannten Glaubensphilosophen nicht gering zu veranschlagen, die stets mit einer Betonung des Entwicklungsgedankens einhergehen (wie dann 100 Jahre später wieder bei Spencer): Friedrich Christoph Oetinger (1753), Johann Gottfried Herder (1774) und Johann Caspar Lavater (1775ff). Auch Goethe gehört gewiss hierher.

Im Gegensatz sowohl zu elementaristischen und mechanistischen Auffassung dienen hier der gewachsene und sich im Gestaltwandel erhaltende Organismus des Menschen und das organische Wachstum der gesellschaftlichen Ordnungen als Leitidee.

 

Ziel- oder mittelorientierte Lösung?

 

Eine wichtige Unterscheidung im modernen Systems Engineering betrifft diejenige von ziel- und mittelorientierten Lösungen für ein Problem. Wie gerne würden sich die Systemplaner ersteren widmen, doch meist gilt es, mit bereits festgelegten Mitteln in kaum mehr zu beeinflussenden Verhältnissen das Bestmögliche herauszuholen.

 

Das hat auch Lambert gesehen, wenn er die «Theorie der Absichten» auf zwei Aufgaben bringt:

«1) Wenn ein System, oder auch nur der Stoff und die Kräften zu einem Systeme gegeben, die Absichten zu bestimmen, wozu es entweder überhaupt oder in vorgegebenen Umständen dienen kann.» Hier handelt es sich also um Zielfindung und Effizienz.

«2) Wenn eine Absicht vorgegeben, das dazu überhaupt, oder in vorgegebenen Umständen dienlichste System zu finden.»

 

Realpolitiker wie er ist, legt Lambert stets Wert darauf, dass die «vorgegebenen Umstände» beachtet werden. Er weiss, dass die Verhältnisse oft nicht so sind, wie sie sein sollten; er weiss auch, "dass man oft weiterhinaus denkt, als Stoff und Kräften reichen».

Ja, noch mehr: «Die Absicht, so man sich vorsetzt, ist nicht immer die beste, die man sich vorsetzen, und mit gleicher oder auch noch mehrerer Leichtigkeit und Möglichkeit erhalten könnte... Endlich findet sichs auch nicht selten, dass die besten Anstalten Anlass zum ärgsten Missbrauche geben, und die zu guten Absichten gewidmeten Mittel zu ganz anderm gebraucht werden.»

 

Diese Klagen klingen uns auch heute noch stimmig in den Ohren. Ebenso, dass die Lösung der zweiten Aufgabe, eine Absicht als Wirkung eines Systems zu betrachten und von da auf das System als dienliches Mittel oder bewirkende Ursache rückwärts zu schliessen, viel beschwerlicher ist als der umgekehrte Weg. Die Fertigkeiten hierfür erwirbt sich der zielorientierte Systemplaner hauptsächlich, «je mehr man durch Erfahrung, Versuche und Schlüsse die dazu nöthigen Data gesammelt hat».

 

Vorgehen = «Art dabey zu verfahren»

 

Was das Vorgehensmodell des Systems Engineering bei der Systementwicklung und -gestaltung charakterisiert, ist ein ähnliches, wie es Lambert als «Art dabey zu verfahren» beschreibt.

Dass es dabei darauf ankommt, primär einmal die «richtigen», wichtigen Probleme anzupacken (was eine Analyse des Problemfeldes erfordert) und die als wesentlich erachteten Probleme möglichst gut und effizient zu lösen, das sahen wir schon. Daran schliesst sich die Sammlung möglichst vieler Lösungsalternativen an, zumal wenn mehrere Möglichkeiten denkbar sind und der Entwicklungsweg nicht bereits vorgezeichnet ist.

 

Konsequenzanalyse der Lösungsvarianten

 

Die Konsequenzanalyse der Lösungsvarianten erfolgt bei Lambert anhand des Ursache-Wirkungs-Modells.

Zwei Fälle sind hier denkbar. Entweder bringt Ursache A notwendigerweise Wirkung B hervor oder nur «in bestimmten Umständen». «Im ersteren Fall kann man immer B als eine Absicht, und A als ein hinreichendes Mittel ansehen, und demnach sich die Regel machen, dass, wo die Absicht B zu erhalten ist, das Mittel A dazu dienen könne. Und dann bleibt nur zu sehen, ob man das Mittel A in seiner Gewalt habe, oder ein anderes suchen müsse, wodurch entweder B unmittelbar, oder erstlich A und vermittelst dessen B erhalten werde.»

Im zweiten Fall müssen die Umstände genau untersucht werden, «damit man sehe, ob sie zu der Wirkung selbst etwas beytragen, oder dieselbe bloss nicht hindern». Letzteres sind also irrelevante Faktoren, ersteres «intervenierende Variablen», bei denen man herauszufinden hat, von welchen «es eigentlich herrühret, dass A die Wirkung B hervorbringen kann».

 

Realpolitik ist gefordert

 

Zur Abklärung dieser Fragen empfiehlt Lambert einerseits ein streng methodisches Vorgehen, wobei die Methode jederzeit nachprüfbar sein muss, anderseits sich nicht nur auf eigene Beobachtungen, Kenntnisse und Übung zu stützen, sondern «sich fremde Erfahrungen, und die für mehrere Fälle bereits errichteten Theorien zu Nutze» zu machen, und drittens, «dass man, wegen der unendlichen Weitläufigkeit und Mannigfaltigkeit der Fälle, gut thut, wenn man sich auf eine oder einige Hauptarten von Mitteln und Absichten einschränkt».

 

Diese Bemerkung ist nicht zu unterschätzen, wohnt doch dem heutigen Systemansatz die Tendenz inne, die ursprüngliche Aufgabenstellung auszuweiten. Das ist gar nicht immer zweckmässig, vor allem weil der Aufwand dann kaum mehr in einem sinnvollen Verhältnis zum Resultat steht - und zu den tatsächlich verfügbaren Mitteln. Realpolitik ist also auch hier vonnöten.

 

Mit der Problemanalyse, der Suche nach gangbaren Lösungen, der Untersuchung ihrer Konsequenzen etwa betreffs Kosten und erwünschten oder unerwünschten Nebenerscheinungen sowie der Entscheidung, welche Variante weiterzubearbeiten sei, hat es jedoch noch nicht sein Bewenden. An diese wirkungsbezogene Betrachtungsweise muss sich eine strukturbezogene anschliessen.

 

In Teilprobleme zerlegen

 

Harold Chestnut, einer der Pioniere des Systems Engineering, schreibt dazu in seinen «Prinzipien der Systemplanung» (1970, 87):

«Der Ausdruck Struktur bezeichnet in der Systemtechnik die Anordnung der einzelnen Teile eines Systems und ihre Beziehungen untereinander ebenso wie zum Ganzen. Wie aus dieser Definition hervorgeht, besteht die Festlegung einer Struktur darin, ein Gesamtproblem in Teilprobleme zu zerlegen, die sich einzeln leichter behandeln lassen.

Damit gelingt es, die Anzahl der Dimensionen eines solchen Problems zu reduzieren, indem mit Hilfe einer systematischen Teilung bestimmte Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Systems entkoppelt werden. Dies liefert eine Lösung erster Ordnung, aus der durch Berücksichtigung dieser Wechselwirkungen Lösungen höherer Ordnung hervorgehen.»

 

So weit kann nun allerdings Lambert nicht vorgestossen sein, dass er das Prinzip der Zerlegung in Teilsysteme und deren Integrierung durch ein iteratives Verfahren deutlich gesehen hätte - möchte man meinen. Doch gefehlt! Lambert hat auch dies vorweggenommen.

Er geht davon aus, dass «ein System nicht nur an sich, sondern auch jeder Theil desselben seiner besonderen Absicht angemessen seyn muss; so lässt sich der Unterschied zwischen der Absicht des ganzen Systems und den Absichten jeder Theile desselben leicht gedenken. Ebenso leicht ist es begreiflich, dass die Absichten der Theile sowohl zusammen geordnet als einander untergeordnet sind und daher in einer theils wechselseitigen, theils einseitigen Abhänglichkeit stehen.»

 

Zielhierarchie

 

Gleichviel, ob nun die Absicht des ganzen Systems «schlechthin die letzte» ist, wie beim Uhrwerk der richtige Gang, oder ob sie «anderweitigen Absichten» dient, wie das Gerüst beim Hausbau, muss sie durch irgendetwas unmittelbar erhalten werden. Lambert nennt dies das «nächste Mittel».

Bei einem Unternehmen könnte die «Hauptabsicht» etwa Gewinn, genauer Profitmaximierung, das «nächste Mittel» Leistung oder Produktion sein.

Andere Ziel-Mittel-Kombinationen sind etwa Vergrösserung des Marktanteils und Produktionssteigerung oder Werbung, Sicherung der Weiterexistenz und Rationalisierung oder Diversifikation, Gemeinnützigkeit und optimale Versorgung oder Betreuung usw.

 

Da ein heutiges Unternehmen meist eine pluralistische Zielsetzung hat, wobei die einzelnen Ziele einander im Idealfall ergänzen oder wenigstens nicht konkurrenzieren (widersprechen oder behindern), ist oft die Ausarbeitung einer Zielhierarchie notwendig, wozu es eines sorgfältigen Abwägens sowohl technischer und organisatorischer als auch psychischer und sozialer, manchmal auch politischer und juristischer Faktoren bedarf. Diese Abstimmung der Ziele aufeinander ist eine der wichtigsten Aufgaben des Managements.

 

Koordination

 

Die Erreichung eines solchen Zielsystems erfordert den Einsatz verschiedener Mittel, die ebenfalls genau aufeinander abgestimmt werden müssen, also selbst ein System darstellen.

Die moderne Betriebswirtschaft geht nun davon aus, dass zur Erreichung der Ziele einer Organisation eine Vielzahl von Aktivitäten der Leistungserstellung und -verwertung erforderlich ist, die in eine hierarchische Ordnung gebracht werden können: die Ablauforganisation.

Zur Abwicklung und zweckentsprechenden Koordination dieser Prozesse müssen nun geeignete Prozess- und Gebildestrukturen vorgesehen sein: die Aufbauorganisation.

 

Mit einer derartigen Strukturierung ist aber eine Untergliederung in eine Anzahl von Systemen niedrigerer Ordnung verbunden. Diese ist bis zu einem gewissen Grad dem Ermessen anheimgestellt; es darf dabei nur nicht das Ziel dieser Strukturierung aus den Augen verloren werden, nämlich den Ablauf bestimmter Prozesse zu erleichtern, noch dürfen die Einflüsse aus dem System selbst wie aus seiner Umgebung vernachlässigt werden.

 

Ziele wie Mittel - Mittel wie Ziele

 

Dies ist, wie so häufig, wo es um Entscheidungen und darauf basierende Handlungen als deren Verwirklichungen geht, leichter gesagt als getan. Hinzu kommt, dass, so sie allgemein formuliert worden sind, sich manche Ziele wie Mittel präsentieren (beispielsweise Leistung oder Zufriedenheit am Arbeitsplatz) oder manche Mittel wie Ziele (beispielsweise optimale Versorgung oder Flexibilität). Daher ist auch die Erstellung von Ziel- und Mittelhierarchien so schwierig.

 

Kein Wunder, dass sich auch Lambert nach seinen eigenen Worten «etwas umständlich» dazu äussert. Angenommen, die Absicht des Gesamtsystems werde unmittelbar durch das «nächste Mittel» erhalten, so dient «alles übrige in dem Systeme als eine Vorbereitung dazu». Ist jedoch das nächste Mittel nicht «an sich schon vorhanden», muss es durch andere vorläufige Mittel erhalten werden, von denen es dann abhängig ist. In diesem Fall ist eine besondere Anordnung und Zubereitung des Systems vonnöten.

Wenn nun «das nächste Mittel nicht einfach ist, sondern aus mehreren zugleich wirkenden Ursachen bestehet, so ist wiederum klar, dass das nächste Mittel aus zusammengeordneten Theilen bestehet, und zwar aus solchen, die im eigentlichen Verstande zusammengeordnet sind. Denn es giebt auch Fälle, wo selbst die entferntern Mittel zugleich wirken müssen, und daher mit den nähern zusammengeordnet werden, wie z. E. in einer Uhr immer ein Rad das andere treibt, und daher jedes Rad fortfährt, seine Wirkung hervorzubringen. Man sieht aber leicht, dass in solchen Fällen die Abhänglichkeit das entscheidende Merkmal ist, und auf diese vorzüglich Rücksicht genommen werden muss, wenn man sich die Einrichtung des Systems genau, richtig und ausführlich vorstellen will.»

 

«Ein Staat ist eine Maschine»

 

Dass das Vorbild des Uhrwerks auch auf soziotechnische Systeme angewendet werden kann, ist naheliegend: Fällt eine Betriebsabteilung oder eine politische Funktion aus, kommt das System in Unordnung oder gelangt zum Stillstand.

 

Dass Lamberts Zeitgenossen den Staat wenn auch nicht als Uhrwerk, so doch als Maschine betrachteten, wurde bereits erwähnt. Am plastischsten beschreibt dies der Kameralist J. F. von Pfeiffer (1778):

«Ein Staat ist eine Maschine, die mit einer grossen Menge von Triebrädern zu vergleichen ist, deren Zusammenhang, Kraft und Wirkung derjenige vollkommen kennen muss, der den Triebrädern eine verstärkte Spannung oder den Rädern eine glücklichere Stellung anzuweisen gedenkt.» [Genaueres zum Zitat siehe: Der Staat als Maschine]

 

Von daher kommt also unsere je nachdem aus Resignation oder Solidarität gespiesene Vorstellung, dass der einzelne Bürger ein Rädchen in der Staatsmaschine oder- in etwas anderer Fassung - als Arbeitnehmer eine blosse Nummer in der Tretmühle ist.

 

Strukturierung von oben nach unten

 

Mit der Strukturierung eines komplexen Systems wird nun auch der Zusammenhang von Mitteln und Zwecken deutlicher. An seine zentrale Erkenntnis der «Subordination und Coordination der Mittel und Absichten» im Dienste der Absicht des ganzen Systems anknüpfend, schreibt Lambert: «Dieser Unterschied des Zusammen- und Unterordnens der Theile des Systems läuft nun durch das ganze System, so weitläuftig es auch seyn mag. Denn jedes Mittel, so nicht an sich schon vorräthig ist, lässt sich als eine Absicht ansehen, und muss durch anderweitige Mittel erhalten werden, bis man auf solche kämmt, die an sich schon vorräthig sind.»

 

Interessant ist hierbei, dass das «iterative Verfahren» von oben nach unten verläuft: Zuerst sucht man das Gesamtziel und das nächste Mittel. Dieses kann sich als zusammengesetzt erweisen, beispielsweise bei der Produktivität (technisches Mass für das Verhältnis von erbrachter Leistung und eingesetzten Mitteln), Wirtschaftlichkeit (finanzielles Mass für das Verhältnis von Kosten und Ertrag) oder Rentabilität (finanzielles Mass für das Verhältnis von Gewinn und eingesetztem Kapital oder erzieltem Umsatz).

Es kann aber auch aus mehreren einfachen Mitteln bestehen.

In beiden Fällen ist ihre «Zusammenordnung», d.h. eine gegenseitige Abstimmung nötig. Dabei «sieht man auch, ob sie vorräthig sind, oder ob sie durch andere Mittel erst müssen erhalten und zur Absicht zubereitet werden. Sind auch diese nicht vorräthig, so sucht man entferntere, und so geht es immer weiter, bis man auf solche kämmt, die vorräthig sind, und wodurch alles übrige der Ordnung nach erhalten werden kann.»

 

Aber auch: von unten nach oben

 

An anderen Stellen formuliert Lambert aber auch das aufsteigende iterative Verfahren: «Die ächte Methode fordert, dass man lieber beym Einfachen als beym Allgemeinen anfange.» Er verweist dabei auf Euklid: «Er fängt beym Einfachen an, setzt immer mehr zusammen, und zählt so zu sagen jeden Schritt vor, den er thut.»

Andernorts heisst es: «Öfters ist es nützlich bey einfachen Fällen anzufangen, weil sich die zusammengesetzteren bei der Auflösung in solche reducieren lassen.» Diese Auflösung könnte durchaus Chestnuts «Entkoppelung» entsprechen.

 

Dass die Systementwicklung in einem ständigen Wechselspiel von Analyse und Synthese verläuft, betont Lambert verschiedentlich.

 

Von den natürlichen Systemen lernen

 

So weit also eine 200 Jahre alte «Systematologie». Man kann nur bedauern, dass sie Fragment geblieben ist, zumal darin zum Abschluss ein Ratschlag gegeben wird, der in jüngster Zeit zur Begründung einer neuen Wissenschaft geführt hat, nämlich der «Bionik».

Diese interdisziplinäre Vereinigung von Biologie und Physik «erforscht Systeme, deren Funktion natürlichen Systemen nachgebildet ist, die natürlichen Systemen in charakteristischen Eigenschaften gleichen oder ihnen analog sind» (Lucien Gerardin). Sie hat ihre Wurzeln in der «Kunst, technische Probleme durch Kenntnis natürlicher Systeme zu lösen».

 

Und genau die Beobachtung der Natur empfiehlt Lambert mit folgenden Worten: «Die in der Natur vorkommenden physischen Systeme haben in ihrer Einrichtung eine solche Vollkommenheit, denen die Werke der Kunst (Maschinen, Gebäude, Instrumente) nie beykommen, und geben eben daher Anlässe, sich in Erlernung der Vollkommenheiten eines Systems zu üben, und zugleich auch die Kräften der Natur, die in unzähligen Werken der Kunst gebraucht werden, genauer kennen, und bey vorfallenden Anlässen nutzen zu lernen.»

 

Damit hat sich der Bogen geschlossen, indem wir wieder zur «Philosophie der Biologie» zurückgekehrt sind.

Genauso wie ein später als Ontologe und Ethiker bekannt gewordener Gelehrter wesentliche Erkenntnisse über Phänomene des Lebendigen zusammenfassen und ordnen kann und damit Biologen Anstösse für weitere Forschungen gibt, genauso können Biologen den Technikern helfen, von den «Erfahrungen der Natur» zu lernen. Umgekehrt können aber auch Techniker den Naturforschern bei der Untersuchung ihrer Objekte mit Erklärungsversuchen zur Seite stehen.

Einer der wichtigsten dabei ist das ganz zu Beginn erwähnte Rückkoppelungsprinzip, heute ein Angelpunkt der Kybernetik und Automation.

 

Verschiedene Sichtweisen

 

Hören wir nochmals Gerardin: «Kybernetik und Bionik stellen sich als zwei gegensätzliche und einander ergänzende Aspekte ein und derselben Sichtweise dar. Die Bionik erforscht und konstruiert Maschinen, die Lebewesen nachahmen; die Kybernetik erforscht die Lebewesen im Hinblick auf ihre Ähnlichkeit mit Maschinen.»

 

Einer der ersten, die diesen Zusammenhang von der konstruktiven Seite her gesehen haben, war Leonardo da Vinci; wer es von der systemtheoretischen Seite gesehen hat, war Lambert.

Soziotechnische, ja sogar theoretische Systeme können also nicht nur als Maschinen, sondern ebenso sehr als Organismen betrachtet werden. Es kommt ganz darauf an, in welche Richtung man blickt.

 

Das Systemdenken vereint die verschiedenen Perspektiven

 

Quesnay hat seine Lehre vom Wirtschaftskreislauf in deutlicher Anlehnung an den von Harvey entdeckten Blutkreislauf entwickelt [1], Wilhelm von Humboldt fasste nicht viel später die Sprache als «feingewebten Organismus» auf, die Romantiker und Auguste Comte verglichen die Gesellschaft mit einem Organismus, Herbert Spencer baute diese Auffassung systematisch aus, und Albert Schäffle betitelte vor 120 Jahren sein Buch mit «Bau und Leben des sozialen Körpers».

Heute schliesslich gibt es Physiker, die vom Atom als einer «gedachten Maschine» sprechen.

 

Doch auf diese Vergleiche und Analogien kommt es gar nicht an; ob Organismus oder Maschine, Vitalismus oder Mechanismus, rationales Modell oder natürliches System, was heute zählt, indem es die Gegensätze überwindet, die verschiedenen Perspektiven vereint und sowohl eine sinnvolle theoretische Analyse wie praktische Gestaltung von Systemen erlaubt, ist eben das Systemdenken.

Es hat in J. H. Lambert seinen beinahe unbekannten Stammvater, in Nicolai Hartmann seinen - allerdings beinahe unbeachtet gebliebenen - Erneuerer und schliesslich in Ludwig von Bertalanffy seinen lange ohne breitere Anerkennung gebliebenen ersten unermüdlichen Propagandisten gefunden.

Manche sind ihm in den letzten Jahren gefolgt, und es scheint, dass sich der System-Ansatz nun in allen Disziplinen der Wissenschaft, Technik und Organisation durchzusetzen beginnt. Vielleicht liegt darin die - letzte - Chance, der uns täglich unerbittlicher bedrängenden unzähligen vielfältigen komplexen Probleme Herr zu werden.

 

 

[Anmerkung

 

[1] Das bestreitet Heinz Rieter: Zur Rezeption der physiokratischen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft. In Harald Scherf (Ed.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie 3, Berlin: Duncker & Humblot 1983, 55-98.
Zum Blutkreislauf als Modell des politischen Denkens siehe z. B. I. Bernard Cohen: Harrington and Harvey: A Theory of the State Based on the New Physiology. Journal of the History of Ideas 55.2 (April 1994), 187-210.

 

 

Literatur

 

Avenarius, Richard: Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig: Reisland 1888/90, 2. Aufl. von Bd. 1 1907.

von Bertalanffy, Ludwig: Das biologische Weltbild. Erster Band: Die Stellung des Lebens in Natur und Wissenschaft. Bern: Francke 1949; Neudruck Wien, Köln: Böhlau 1990;
engl.: Problems of Life. 1960.

von Bertalanffy, Ludwig: Biophysik des Fliessgleichgewichts. Einführung in die Physik offener Systeme und ihre Anwendung in der Biologie. Braunschweig: Vieweg 1953, 2. Aufl. 1977.

von Bertalanffy, Ludwig: General System Theory. Foundations, Development, Applications. London: Allen Lane, Penguin 1968; New York: Braziller 1969; 2. Aufl. 1973; erneut 1980; auch Harmondsworth: Penguin Books 1973.

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