Home Systematische Fragen zur "Entwicklungshilfe"

 

 

gestellt im Rahmen einer Vorlesung über „Möglichkeiten und Grenzen der Interdisziplinarität“ am INDEL (Interdisziplinären Nachdiplomkurs über Probleme der Entwicklungsländer) an der ETH Zürich, März 1976

 

 

 

… möchte ich Ihnen kurz zeigen, dass das Kategorienschema (siehe: Kategorien – Formulierung II) auch für die Entwicklungshilfe fruchtbar gemacht werden kann. Es dient vorwiegend der Klärung, ja sogar der Besinnung.

 

Das fängt schon an bei der Benennung. Wie heisst denn diese Sache? Da finden wir viele Namen: Entwicklungshilfe, Entwicklungspolitik, Aussenwirtschaftspolitik, technische Zusammenarbeit, "internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe" - so seit zwei Jahren die offizielle Schweizer Bezeichnung -, aber auch von Nahrungsmittelhilfe (z. B. Milchpulver) und. Entwicklungs- und Integrationsmodellen ist die Rede.

 

Damit verbunden ist die Frage nach der Zugehörigkeit: Gehört Entwicklungshilfe zur Aussenpolitik, zur Wirtschaftspolitik, zur Kultur, zur Ideologie, zur Wissenschaft oder zu was?

 

Dann die Modalität: Ist sie wirklich, möglich, notwendig, wünschbar oder vertretbar. Ferner die Alsheit: Ist sie Mittel zum Zweck oder Endzweck, ist sie Ursache oder Ergebnis, Bedingung oder Bedingtes, usw.?

 

Sie verzeihen, wenn ich alle diese Fragen nur ganz summarisch skizziere:

Raum: Wo findet Entwicklungshilfe statt? Im eigenen Land, z. B. in den Berggebieten, in Südafrika oder Bangladesh, in einer Stadt wie Istanbul oder in einer Ödnis wie z. T. im Sahelgebiet?

Was die Zeit betrifft, so ist wohl klar, dass eine historische Betrachtung einerseits der Vorgänge in den ehemaligen Kolonien und heutigen Entwicklungsländern, aber auch eine kritische Analyse der Anstrengungen der Industriestaaten seit dem Zweiten Weltkrieg punkto Entwicklungshilfe für das Verständnis mancher Probleme hilfreich ist.

Da spielen dann rasch Fragen der Qualität und Quantität hinein.

 

Von grosser Bedeutung sind auch der Sinnbereich und der instrumentelle Bereich, zumal in den letzten Monaten gerade auch in der Schweiz einige Auseinandersetzungen darüber stattgefunden haben. Ich erinnere nur an die Debatten in den eidgenössischen Räten und- die kleine Schrift "Entwicklungsland Welt - Entwicklungsland Schweiz", die von über einem Dutzend schweizerischer privater Entwicklungshilfeorganisationen ausgearbeitet wurde. Anhand einiger Zeitungsberichte lassen sich da zahlreiche Konflikte aufzeigen.

Nehmen wir etwa die Motive: Früher sprach man von der humanitären Motivation, die ideell oder sozial orientiert war. Heute nun stehen sich das "wohlverstandene Eigeninteresse" der Schweiz und die "Solidarität" mit allen Benachteiligten in der Schweiz und in der Dritten Welt gegenüber. Was bestimmt nun unser tatsächliches Tun: Die "Einsicht in die Weltverflochtenheit", die sog. Interdependenzen, welche eine "Solidarität der Interessen" erzeugt, oder die Einsicht in die steigende Kluft zwischen reichen und armen Ländern, reichen und armen Menschen und die Divergenz zwischen Zentrum und Peripherie?

 

Dieser Streit der Motive setzt sich noch schärfer fort bei den Zielkonflikten. Da haben wir doch etwa als Ziele:

1. auf weltpolitischer Ebene die "Sicherung von Einflusssphären",

2. auf kultureller Ebene die "Eroberung" der Dritten Welt durch das Aufzwingen westlicher Wertvorstellungen, Lebenshaltungen, Konsummuster und Wirtschaftsformen, beispielsweise auch durch den Einsatz von Experten für das Bildungswesen,

3. auf jeweils nationaler Ebene die sogenannte "aussenwirtschaftspolitische Sicherung der Wirtschaftsinteressen", was vorab
a) die Erhaltung der Rohstofflieferungen,
b) die Erhaltung- und den Aufbau des Absatzmarktes für Exporte,
c) in Verbindung damit die Hebung der Kaufkraft zum Erwerb westlicher Konsumgüter und
d) die Erhaltung des Anlagegebietes für Kapitalinvestitionen und als Folgeziel die Rentabilität betrifft.

 

Von einer andern Warte aus gesehen gibt es aber auch ganz andere Ziele, z. B.

a) die Deckung des Bedarfs an lebensnotwendigen Gütern,

b) Selbstversorgung,

c) Erhaltung der Stammes- und Familienstrukturen,

d) ganz grundsätzlich die "Aufhebung von Ungleichheiten und Abhängigkeiten", also eine gleichmässige Verteilung von Einkommen, Vermögen und Gittern sowie die Befreiung aus Herrschaftsverhältnissen.

 

Es kommt also ganz ausgesprochen auf die Interessen und Einstellungen in unserem Lande an, welche Motive und Ziele anerkannt oder postuliert werden. Das gilt auch etwa für die Beurteilung von Ursachen und Wirkungen:

Man kann die Konzentration von Industrie (Produktion) und Kapital (Einkommen und. Vermögen), von Verwaltung und Menschen, von Wissen und Macht in Regionen oder beinahe erstickenden Ballungszentren als Fehlentwicklung beurteilen. Genausogut kann man aber diese Konzentration von Produktion und Wohlstand als Anreiz für das sog. "Hinterland" auffassen. Es spielt durchaus eine Ideologie hinein, wenn man die Devise vertritt: Solange der eine unten bleibt, soll der andere nicht aufsteigen dürfen. Genauso ideologisch ist freilich die Devise: Freie Bahn dem Tüchtigen (der in den meisten Fällen einfach der Clevere oder Begünstigte ist).

 

Es verwundert nun nicht mehr, dass auch über den instrumentellen Bereich die Meinungen weit auseinandergehen.

 

1. Der langfristigen Strategie stehen Nothilfemassnahmen gegenüber.

 

2. Der Zusammenarbeit mit Regierungen, staatlichen Organisationen und der "herrschenden Oberschicht" steht die Forderung gegenüber, sich an den echten Interessen einer Mehrheit der Bevölkerung zu orientieren (welch letzteres eine breite Basis für Solidarität abgäbe).

 

3. Der Anknüpfung an politische und ideologische Modeströmungen steht die Berücksichtigung langfristiger Interessen am Überleben, an der Erhaltung und Sicherung der Lebensqualität gegenüber.

 

4. Der kapital- und. materialintensiven Produktion steht die Forderung nach handwerklicher und arbeitsintensiver Betätigung gegenüber.

 

5. Der Indoktrination mit westlichem Kulturgut steht die Förderung der autochthonen Kultur und Lebensweisen gegenüber.

 

6. Der Verstärkung der technologischen Abhängigkeit steht die vielgerühmte "Hilfe zur Selbsthilfe" gegenüber, usw.

 

Ich breche hier ab und weise nur noch darauf hin, dass dementsprechend verschieden auch die Bestimmung der Funktion der Entwicklungshilfe (beispielsweise sogar innenpolitisch) sowie des Nutzens und der Relevanz ausfallen.

Ich nehme an, dass jeder, der sich mit Entwicklungshilfe beschäftigt, ganz gut daran tut, sich anhand eines Kategorienschemas über solche Fragen und Probleme Rechenschaft abzulegen.

 

 


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