Home Umweltschutz und Lebensqualität

                     Rege Aktivität schweizerischer Arbeitsgemeinschaften

 

geschrieben im Oktober 1974; erschienen

am Anfang leicht verändert und am Schluss gekürzt in: Tages-Anzeiger, 7. Dezember 1974

weniger verändert, aber anders und stärker gekürzt in: Der Bund, 9. Januar 1975

 

siehe auch: Sensibilisierung auf Umweltschutz, 1948-1973

 

 

Wenn es zwei Begriffe gibt, die als Schlagworte den gemeinsamen Nenner einer interdisziplinären Zusammenarbeit der Bereiche Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, Forschung und Entwicklung, Planung und Organisation, Führung und Kontrolle plastisch vor Augen führen, dann sind dies „Umweltschutz“ und „Lebensqualität“. Beides sind Prägungen, die noch im zarten Kindesalter stecken, ist doch ihr Geburtsjahr 1970. Die angloamerikanischen Fassungen „Environmental Protection“ und „Quality of Life“ sind nur wenige Jahre älter.

 

Die Schaffung neuer Begriffe und deren buschfeuerartige Verbreitung signalisieren einen Bewusstseinswandel, oder genauer: sie geben einer neuen Stufe des Problembewusstseins beredten Ausdruck. Dass Natur- und Heimatschutz, Lärmbekämpfung, Lufthygiene, Raumordnung, Landschaftspflege, Gewässerschutz und Abfallbeseitigung einerseits, Lebensstandard, Wohlstand, Bruttosozialprodukt, Konsumentenpreisindex, Bedarfsdeckung und Selbstverwirklichung anderseits je durch einen einzigen, leichtfasslichen Begriff nicht nur zusammengefasst, sondern überhöht werden konnten, deutet auf einen Gesinnungswandel hin, der zwar spät kommt, aber gerade weil er sich mit so universalen, um nicht zu sagen, globalen Begriffen zu dokumentieren beginnt, Anlass zu Hoffnungen gibt, die unzähligen Probleme gerade noch vor Torschluss in den Griff zu bekommen.

 

Gerade diese übergreifende Funktion und Allgemeinheit der beiden Begriffe macht es jedoch schwer, eine auch nur einigermassen befriedigende Definition für sie zu geben. In den Diskussionen der letzten paar Jahre ist jedenfalls deutlich geworden, dass es zu differenzieren gilt. Weder Umweltschutz noch Lebensqualität bedeuten in hochindustrialisierten Nationen dasselbe wie in Entwicklungsländern. Ja schon zwischen der Schweiz und Sizilien, Basel und Bern, Montana-Crans und Bosco Gurin bestehen diesbezüglich erhebliche Unterschiede.

 

Menschheit und Natur

 

Eine zweite Erkenntnis betrifft die Blickrichtung. Allzulange haben Wissenschaft und Industrie oder Denkmalpflege und Wohlfahrtsinstitutionen ihr Hauptaugenmerk auf äussere Bedingungen, auf materielle und finanzielle, technische und juristische Fragen gerichtet und dabei sowohl die seelische wie soziale, die moralische wie ästhetische Seite von Naturzerstörung oder Wirtschaftswachstum, von Hunger oder Armut vernachlässigt. Erst die Akzeptierung, dass so etwas wie „Umweltschutz“ im umfassenden Rahmen und „Lebensqualität" im existentiellen Sinne zentrale Anliegen der gesamten Menschheit sind, hat den Weg zur Besinnung darauf frei gemacht, dass jeder einzelne am Orte seines Wirkens, seines Könnens und Wollens, mit seinem ganzen Wissen und Einsatz verpflichtet ist, an der Schaffung „umweltgerechter" Produktions- und Verwertungsweisen ebenso wie an einer „lebenswerten“ Gestaltung der Bereiche Arbeit und Freizeit, Wohnen und Verkehr, Konsum und Information mitzumachen.

 

Jedem Menschen muss ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben zugestanden werden, in einer Umgebung, die sein Gemüt anregt und nicht verkümmern lässt, in einer Umgebung aber auch, die ihrerseits Rechte hat, handle es sich dabei um Nachbarn oder Arbeitskollegen im sogenannten „Sozialklima“ oder um Flora und Fauna in dem, was man heute gerne „ökologisches Gleichgewicht“ nennt.

 

Der neue Auftrag

 

Es geht also sowohl um das Wohlbefinden aller Insassen des „Raumschiffs Erde“ als auch um die Erhaltung der Vielfalt und Entwicklungsmöglichkeiten der „Arche Noah“, also all dessen was da kreucht und fleucht, keimt, wächst, blüht und verwelkt. Die Möglichkeiten der Kultur wie der Natur zu wahren, die Entfaltung nicht einzudämmen, sondern zu fördern, das ist eine Aufgabe, die heute über das "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan!" hinausgeht. Und dieser neue, den gewandelten Verhältnissen entsprechende Auftrag, der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an den Menschen ergeht, ist so ungeheuer gross und schwierig, dass ein Scheitern der Bemühungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.

 

Diese Bemerkungen können nicht verhehlen, dass alle „Probleme" heute ungemein „komplex" sind, zumal wenn man sich von der Ebene des Allgemeinen in die Sphäre der Praxis, des Alltags, des Realisierbaren, aber auch des bereits Verpassten herunterbegibt. Es gibt zahlreiche Weichen, die schon nach falschen Destinationen gestellt worden sind. Andere Weichen sind jedoch noch schwenkbar, und diesen muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

 

Interdisziplinäre Veranstaltungen finden statt

 

Während die ETH Zürich im Europäischen Naturschutzjahr 1970 bereits mit einem grossangelegten Symposium "Schutz unseres Lebensraumes" (der über 500seitige Sammelband mit 55 Ansprachen und Vorträgen erschien 1971 bei Huber, Frauenfeld) den "Umweltschutz" auf breiter Front anging und in der Folge, auch an andern Hochschulen, zahlreiche Arbeitsgruppen auf verschiedenen Ebenen eine fruchtbare Tätigkeit entfalteten, dauerte es noch vier Jahre, bis sich die "Neue Helvetische Gesellschaft" (NHG) und die "Stiftung für humanwissenschaftliche Grundlagenforschung" (SHG) des Themas "Lebensqualität" annahmen. Die NHG ... beauftragte im Frühling 1974 die SHG, die Gestaltung des Jahrbuchs für 1975 zu übernehmen.

[Fortsetzung über weiter Aktivitäten im Kapitel „Interdisziplinäre Gespräche als gemeinsame Lernprozesse“ des Artikels „Vom Umweltschutz zur Lebensqualität“]

 

Gegen Umweltverschmutzung und quantitatives Wachstum

 

Das Problem kann von verschiedenen Seiten angegangen werden. Eine davon war Richard Nixons Aufruf und Plan zur Hebung der „Qualität des Lebens“ Anfang 1970.

[Genaueres darüber und die beiden Studien von Jay W. Forrester und Dennis Meadows in den Kapiteln „Die Wende vom Umweltschutz zum qualitativen Wachstum“ und „Materielle Grundlagen und soziale Faktoren“ des Artikels „Vom Umweltschutz zur Lebensqualität“.]

 

... Das ist die uralte Weisheit: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!" Auf dem europäischen Festland fand dieses Problem schon längere Zeit Beachtung. Im Naturschutzjahr 1970 formulierte unter anderem Prof. Dr. Adolf Portmann: "Umweltschutz ist Menschenschutz", und der Umweltschutzartikel in der schweizerischen Bundesverfassung hat ausdrücklich "den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt" zum Ziel.

 

Aussenwelt und Innenwelt

 

Man kann also "Lebensqualität" von den materiellen Bedingungen her angehen und stellt die Bemühungen von Wissenschaft und Industrie unter das Banner "Umweltschutz", oder aber man zentriert das Suchen und Fragen auf den Menschen.

 

Es ist naheliegend, dass die aus der 1966 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft zum interdisziplinären Studium anthropologischer Fragen" hervorgegangene "Stiftung für humanwissenschaftliche Grundlagenforschung" (1970) vorwiegend den "Menschen im Mittelpunkt" sieht. Freilich schliesst die Betrachtung der "Innenwelt" diejenige der "Aussenwelt" nicht aus, vielmehr ergänzen sich beide Aspekte. So kommt es, dass im Schosse dieser interdisziplinären Vereinigung jeder Wissenschafter den Beitrag seiner Disziplin zu überdenken und auszuarbeiten hat:

  • die Mediziner und Arbeitswissenschafter reflektieren etwa über das Wohnen und die Arbeit,
  • die Mathematiker und Wirtschaftswissenschafter über die Bevölkerungsentwicklung,
  • die Raumplaner und Architekten über Stadt und Verkehr,
  • die Neurologen, Psychiater und Soziologen über Neurobiologie, Intelligenz und Stress,
  • die Biologen und Verhaltensforscher über Genetik und Evolution.

Planungsgrundlagen erarbeiten die Ingenieure, und mit methodischen Problemen befassen sich die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker.

 

Dass sich fast alle Bereiche überschneiden, ist klar. Methodische Fragen und solche der Zielsetzung, von Kriterien und Standards betreffen jedes Fachgebiet. Es ist aber ausserordentlich schwierig, zu einem Konsensus zu kommen, ja nur schon eine gemeinsame Basis und Sprache zu finden. Dies ist mit ein Grund, weshalb sich die 1970 gegründete „Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung“ ebenfalls dieses ungemein verflochtenen Problemkomplexen angenommen hat.

Bereits seit vier Jahren widmet sich eine Arbeitsgruppe „Gesellschaftliche Zielsetzungen" in zwei Untergruppen einerseits der "Ökologie", anderseits den "Kriterien und Methoden der Zielbewertung". Andere Gruppen befassen sich mit der "Zukunft des Verkehrs in der Schweiz" und der "Inflation", wobei das letztere Thema auch einer Arbeitsgemeinschaft der SHG zahlreiche Nüsse zu knacken gibt.

 

Paradoxe Forderungen und Klagen

 

Diese überaus regen Aktivitäten, die auch in zahlreichen andern Vereinigungen wie der "Schweizerischen Gesellschaft für Umweltschutz" (1971; SGU), der "Basler Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Natur und Umwelt" (1970; BASNU), der „Arbeitsgemeinschaft Umwelt an den Zürcher Hochschulen“ {1971; AGU) der „Arbeitsgemeinschaft Wachstum-Umwelt" (ein Nationalfonds-Projekt der ETHZ und der Hochschule St. Gallen) oder der „Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Umweltforschung“ (SAGFU; eine Zweiggesellschaft der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 1972) wertvolle Ansätze zu einer umfassenden Betrachtungsweise zutage fördern, können hier nicht im einzelnen beschrieben werden.

Einige grundlegende Fragen seien jedoch noch angeschnitten.

 

Sowohl bei der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen von Biosphäre und Menschenwelt („Umweltschutz“) als auch bei der Förderung nicht nur des materiellen und körperlichen, sondern auch - und vor allem - des seelischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens der Menschen („Erhöhung der Lebensqualität") ergeben sich zahlreiche unvereinbare Aufgabenstellungen, Paradoxien.

¨ Eine der bekanntesten ist die Forderung nach mehr Technik, damit die schädlichen Auswirkungen der Technik korrigiert und gemildert werden können.

¨ Eine zweite besteht in der Klage über Personalmangel bei gleichzeitigem Ruf nach Geburtenkontrolle;

¨ eine dritte in der Klage über zu grosse Studentenzahlen, bei gleichzeitigem Wunsch nach mehr Grundlagenforschung und daraus resultierendem Wissen;

¨ eine vierte in der verbalen Förderung der wissenschaftlichen Forschung bei gleichzeitiger Beschneidung beispielsweise der Mittel für den Schweizerischen Nationalfonds;

¨ eine fünfte in der Befürwortung des Verursacherprinzips oder des „Verzichts“, sofern man nicht selbst betroffen ist;

¨ eine sechste schliesslich in der Forderung nach mehr Umweltschutz und Sicherheitsmassnahmen bei fehlender Bereitschaft, die Kosten zu tragen.

 

Diese Aufzählung liesse sich beliebig vermehren.

 

Die Probleme sind politisch

 

Ebenso auffallend ist die Orientierungslosigkeit der einzelnen Arbeitsgruppen in Bezug auf das, was nun eigentlich erforscht werden soll. Nicht einmal die Motive sind klar. Geht es nun um die Sublimierung einer gewissen Wirtschaftsfeindlichkeit, um die Überwindung eines weitverbreiteten Unbehagens oder latenten Malaises, um artistische Konstruktionen von Weltverbesserungsutopien oder um das Verfassen von Dutzenden von Arbeitspapieren, die, wenn es gut geht, irgendwann einmal als Broschüren oder Bücher einer breiten Öffentlichkeit vorgelegt werden sollen?

 

Gewiss haben „Denkanstösse" ihre Berechtigung, und das nächstes Frühjahr erscheinende Jahrbuch der NHG wird unzweifelhaft zahlreiche enthalten, doch ob das Ausschütten eines Füllhorns von untereinander nur lose zusammenhängenden „Ansätzen“ genügt, die Krise, in der wir uns nach Ansicht mancher Experten bereits befinden, zu überwinden oder der Katastrophe, auf die wir nach Meinung anderer Experten zutreiben, auszuweichen, bleibt genau solange fraglich, als nicht erkannt und in Konsequenz zu dieser Erkenntnis geforscht und gehandelt wird, dass „Umweltschutz“ wie „Lebensqualität“ in eminenter Weise politische Probleme darstellen - und dass die Zeit drängt.

 

Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln

 

Wenn man, wie die Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von „Kriterien und Methoden der Zielsetzung“ der SZF, etwa Lebensqualität als das Mass definiert, „in dem die Erfordernisse des Überlebens, der vollen Entwicklung und des Wohlbefindens jedes Menschen ihrer Wichtigkeit entsprechend erfüllt sind', und unerfüllte Erfordernisse als „Bedürfnisse“ fasst, dann ist klar, dass die Forschung in erster Linie der Bedürfnisanalyse gilt. In ihr werden die Wichtigkeit, der Grad und die Wünschbarkeit oder Dringlichkeit ihrer Erfüllung abgeklärt. Es sind jedoch nicht nur die vererbten und umweltbedingten, spezifisch menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, welche mit Akribie katalogisiert werden müssen, gibt es doch darüber seit Jahrtausenden Traktate und Postulate, die Bibliotheken füllen [siehe Kästchen im Artikel „Vom Umweltschutz zur Lebensqualität“].

 

Darüber sich zu ereifern gleicht einem Streit um des Kaisers Bart, wenn man sich scheut, gleichzeitig danach zu fragen, wer in welchen Fällen und mit was diese Bedürfnisse zu erfüllen die Pflicht hätte.

Es ist gewiss nicht "die" Gesellschaft, noch "der" Staat, denn, das wissen wir längst, das sind wir alle. Vielmehr, und das sei nochmals betont, ist jeder einzelne angehalten, in seinem Umkreis die seiner Rolle und Position entsprechenden Aufgaben zu erfüllen, sei es als Vater oder Mutter, Lehrer oder Unternehmer, sei es als Schüler oder Beamter, als Politiker, Journalist oder was auch immer.

 

Das Problem liegt weniger in der Eruierung von Bedürfnis-Listen als in der Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln, und zwar jedes einzelnen für seine Mitmenschen, für die Gesellschaft - diesmal als ganzes. Einen Tagesbedarf von 75 Milligramm Vitamin C und 10  bis 20 Gramm an essentiellen Aminosäuren festzustellen und nach Kräften dabei mitzuhelfen, dass dieser Bedarf auch im hintersten Winkel Afrikas und Asiens gedeckt wird, das sind zwei Paar ganz verschiedene Handschuhe.

 

Die Gefahr, in akademischen Diskussionen sogenanntes Grundlagenmaterial zu Tage zu fördern und darüber den Auftrag der hochentwickelten Industrieländer aus den Augen zu verlieren, darf nicht gering eingeschätzt werden.

Ähnliches gilt ja schon für die Kindererziehung, Sie fängt bekanntlich am ersten Lebenstag des neuen Erdenbürgers an und erfordert den vollen Einsatz beider Elternteile, von Mutter und Vater. Es könnte durchaus geschehen, dass ein Vater vor lauter Erforschung der "Erfordernisse der psychischen Entwicklung des Menschen" sowohl der "normalen psychischen Entwicklung" seiner eigenen Kinder als auch von sich selbst zuwenig Beachtung schenkt.

 

Mit andern Worten: Es darf nicht soweit kommen, dass wir vor lauter Wald (lies Technologie, Computerprognosen und Arbeitspapieren) die Bäume (lies Kinder und Heranwachsende, Hungernde und Kranke, Obdachlose, Arbeitslose und Ausgebeutete) nicht mehr sehen.

 

„Die Methode, wie wir Lebensqualität bestimmen“, sagte der deutsche Bundesminister Eppler, „ist schon Bestandteil von Lebensqualität“.

 

In Abwandlung dieser klugen Bemerkung können wir festhalten: Die Art, wie wir täglich unsern Mitmenschen und den Weltproblemen begegnen, ist ein gewichtiger Bestandteil von Lebensqualität.

 



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