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                    10 Vorlesungen mit Diskussionen an der Volkshochschule

                     3.5.-5.7.1984

 

Inhalt

I. Einführung, Übersicht

II. Entstehung

III. Schule, Erziehung, Medien

IV. Archetypen

V. Wahrnehmung und Erwartung

VI. Stereotype

VII. Stereotype in der Werbung

VIII. Bedürfnisse, Patriarchat, Religion

IX. Der Mensch als Kulturwesen

X. Vorbilder

 

Hier der Haupttext, ohne die Auskopplungen, die separat dargestellt sind

ca. 44 Seiten

 

 

I. Einführung, Übersicht

 

 

Meine Damen und Herren,

 

ich freue mich, dass Sie erschienen sind, um mit mir das Thema Menschenbilder zu behandeln. Menschenbilder, das ist ein faszinierendes Thema, wie alle Themen uferlos, kompliziert und wichtig für unser Leben.

 

Lassen Sie mich ein Motto über unseren gemeinsamen Gang durch die nächsten 10 Wochen stellen:

 

Es stammt vom französischen Moralisten Michel de Montaigne und ist gerade 400 Jahre alt. Es lautet:

"Die Menschen ... werden von den Meinungen gequält, die sie von den Dingen haben, und nicht von den Dingen selbst".

 

Genaueres am Anfang von:

Steuern Meinungen unser Verhalten?

 

Unser gemeinsames Thema wurde in der Rubrik "Psychologie, Erziehung" angekündigt. Das ist ein guter Ansatzpunkt. Doch das Thema wird uns auch in viele andere Gebiete führen: Es gehört zu den Gegenwartsfragen wie zur Religion und Philosophie. Menschenbilder finden wir in Literatur und Kunst, in der Geschichte, im Recht und in der Wirtschaft.

 

Kurz - und das ist meine erste These - auf Menschenbilder stossen wir überall, im Alltagsleben so gut wie in den Wissenschaften, in uns und um uns, in der Gesellschaft und in den kulturellen Erscheinungen. In den 10 Doppelstunden, die wir zur Verfügung haben, wollen wir daher den Menschenbildern in den unterschiedlichsten Lebensbereichen nachspüren. Es ist ganz klar, dass wir das Thema nicht erschöpfend behandeln können. Was wir aber gemeinsam tun können, das ist: unseren Blick zu schärfen für Menschenbilder, ein Gespür dafür zu bekommen, wie wirksam sie sind und einige wichtige Menschenbilder etwas näher zu betrachten.

 

 

Menschenbilder

 

Definition:

Menschenbilder sind Vorstellungen, die sich der Mensch von einzelnen Menschen - also auch von sich selbst -, von mehreren Menschen und von „dem“ Menschen macht.

Es sind Vorstellungen darüber, was der Mensch ist, kann und soll.

 

Thesen:

1. Auf Menschenbilder stossen wir überall, in und um uns.

2. Wir können für Menschenbilder ein Gespür entwickeln und sie untersuchen.

3. Menschenbilder sind wichtig und wirksam.

 

Zur Erläuterung füge ich drei weiter Thesen an:

4. Menschenbilder sind Bestandteile unserer Weltdeutung und Weltorientierung. Jeder hat Menschenbilder.

5. Menschenbilder beeinflussen Erleben, Denken und Verhalten des Menschen.

6. Menschenbilder entstehen und werden zerstört in sensiblen Phasen der Kindheit und Jugend.

 

Und schliesslich:

7. Menschenbilder finden wir in der ganzen Geschichte der Menschheit, aber das Bewusstsein davon ist erst jüngeren Datums.

8. Es gibt viele verschiedene Menschenbilder; keines ist unanfechtbar.

9. Menschenbilder werden in der Psychologie, Philosophie und Theologie, in den Sozial- und Kulturwissenschaften besprochen und untersucht.

 

 

 

Unser gemeinsames Vorhaben soll uns also zu zweierlei bringen: zum Beobachten und zum Nachdenken.

 

Lassen Sie mich ein paar Worte zur Gestaltung und zum Aufbau unserer Arbeit sagen: Ich habe vorgesehen, in jeder Doppelstunde in der ersten Stunde ein Referat zu halten, über das wir, nach einer viertelstündigen Pause etwa um 20.15 Uhr oder etwas später, diskutieren. Ich hoffe, dass alle, welche die erste Stunde zugehört haben, auch am Gespräch in der zweiten Stunde teilnehmen, ihre Fragen vorbringen, über eigene Erfahrungen und Beobachtungen berichten, sodass ein lebhafter Dialog entsteht. Sie können auch Kritik anbringen und Vorschläge machen, die etwas mit unserem Thema zu-tun haben.

 

Was den Aufbau unserer gemeinsamen Veranstaltung betrifft, so habe ich vorderhand folgende 10 Bereiche im Auge, wobei wir uns bewusst sein müssen, dass sich diese keinesfalls säuberlich voneinander abgrenzen lassen:

 

Heute möchte ich eine Einführung und einen Überblick geben...

 

Manche von Ihnen warten nun schon lange gespannt darauf, von mir zu hören, was denn nun eigentlich Menschenbilder seien. Ich werde mich der Definition nicht entziehen, möchte aber darauf hinweisen, dass erst unser ganzer Kurs diese Frage beantworten kann. Denn eine Definition ist meist das Ergebnis eines langen Konzentrationsprozesses, entweder ein Postulat oder eine abstrakte Zusammenfassung, die erst nach und nach Bedeutung gewinnt. Also:

 

Menschenbilder sind Vorstellungen, die sich der Mensch von einzelnen Menschen – also auch von sich selbst -, von mehreren Menschen und von „dem“ Menschen macht.

 

Das ist vorläufig eine sprachliche Definition, die nicht allein im Raum stehengelassen werden kann. Wie jeder andere Sachverhalt stehen auch die Menschenbilder in Beziehung zu andern Sachen, sie haben eine Funktion und eine Geschichte, sie lassen sich differenzieren und präzisieren. Das lässt sich am besten mit Thesen beschreiben. Drei Thesen habe ich einleitend bereits angetönt:

 

Das Interessante an diesen Thesen ist: Sie beruhen selber auf einem Menschenbild. Das zeigt sich sofort, wenn wir etwa These 4 betrachten:

Menschenbilder sind Bestandteil unserer Weltdeutung und Weltorientierung.

 

Dahinter steckt die Auffassung, dass der Mensch sich nicht wie die anderen Lebewesen nach instinkthaften, genetisch fixierten Programmen "verhält", sondern als Individuum der Welt gegenübertritt. Er deutet die Welt und orientiert sich in ihr. Vor allem die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere Arnold Gehlen, spricht von der "Instinktunsicherheit" und "Weltoffenheit" des Menschen. Das bedeutet: Der Mensch ist schöpferisch.

Aber: Der Mensch ist nicht völlig frei in seiner Weltdeutung. Gerade die Psychologie seit der Jahrhundertwende hat herausgearbeitet, dass der Mensch in ein ganzes Netz von unbewussten Vorgängen, von Bedürfnissen und Triebwünschen, Meinungen und Einstellungen, Bilder und Ideen eingesponnen ist. Einige Eckpunkte lassen sich etwa als "Trieb und Wille", "Gewohnheit und Gewissen", "Temperament und Begabung", "Kenntnisse und Hypothesen" fassen. Dazu kommen biologisch-medizinische Gegebenheiten, unter anderem eine artspezifische „Merkwelt und Wirkwelt“ (Jakob von Uexküll, 1909).

 

Wir werden später sehen, dass der Renaissance-Gelehrte Pico della Mirandola eine andere Auffassung hatte.

 

Ein weiteres haben Kulturanthropologie und Soziologie zum Verständnis der Weltdeutung und -orientierung beigetragen: Der Mensch ist eingebettet in den "Volksgeist" und die öffentliche Meinung, er unterliegt gesellschaftlichen Normen und Rollenerwartungen; der Staat auferlegt ihm Rechte und Pflichten, die Wirtschaft Produktion und Konsum.

Dass all dies nicht von Natur (physei) aus gewachsen ist, sondern menschliche Satzung ist (nomo, thesei bei den Sophisten), kommt dazu. Anderseits prägen Landschaft und Klima und andere natürliche Faktoren den Menschen.

Als Drittes gilt es zu sehen, dass die Welt nicht ganz beliebig gedeutet werden kann: Sie hat Ecken und Kanten, sie hat ihre Ungeheuerlichkeiten und ihre Geheimnisse, sie setzt unserem .Erkennen und Handeln Widerstand entgegen. Und die Dinge selbst, sie sind nicht einfach vorgefundene. Die Welt, die Kultur, die Menschen, sie wirken auf uns: Manche Gegenstände und Erscheinungen haben einen Aufforderungscharakter, manche Ereignisse haben eine suggestive Wirkung; etwas "springt uns in die Augen", manches überfällt uns als Eingebung, Schicksalsschlag, Schmerz.

 

Sigmund Freud hat für diese mindestens dreifache Einbettung des Menschen ein Bild gefunden: Das Ich mit seinem Selbstbehauptungsstreben muss sich in seiner zeitlichen Bildung und Entfaltung mit vielfältigen Impulsen aus dem Es, dem grössten Teil des Unbewussten also, mit den Ansprüchen des Über-Ichs, also dem Gewissen und den sozialen Normen, und mit der Realität, der manchmal unerbittlichen Gegenwart, auseinandersetzen.

 

In anderen Worten können wir sagen: Der Mensch ist ein personales und soziales Wesen, er ist "Schöpfer und Geschöpf der Kultur" (Michael Landmann, 1961), er lebt nicht nur als unspezialisiertes Naturwesen in der Welt, sondern er "hat" Welt und Selbstbewusstsein; er ist „homo faber“ und „homo destructor“, rational und irrational, bedingt und geprägt, aber doch frei, sich zu allem zu „verhalten“.

 

Unversehens sind wir in philosophische Betrachtungen geraten. Und das ist gerade das Erstaunliche und Faszinierende an der Beschäftigung mit Menschenbildern: Sie führt immer wieder zum Nachdenken über den Menschen, seine Eigenart und seine Stellung in der Welt, seine Auseinandersetzung mit Natur und Kultur.

 

 

Vier Menschenbilder

 

Damit unser Thema ein bisschen Farbe gewinnt, möchte ich Ihnen nun vier Menschenbilder kommentarlos anhand von Originalzitaten vorstellen. Die ersten beiden Zitate sind genau 500 Jahre alt, die zwei andern etwa 60 Jahre.

 

Die erste Schilderung stammt von Pico della Mirandola und knüpft an die biblische Schöpfungsgeschichte an:

"Endlich beschloss der höchte Meister aller Künste, dass das Geschöpf, dem nichts Besonderes mehr verliehen werden konnte, die Summe dessen besässe, was jedes Einzelwesen sein eigen nenne. So machte er den Menschen zu seinem alles auf gleiche Weise in sich vereinenden Spiegelbilde und setzte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: Keinen bestimmten Sitz, keine eigentliche Gestalt, kein besonderes Erbe haben wir dir, Adam, verliehen, damit du habest und besitzest, was du immer als Wohnung, als Gestalt, als Wesensausstattung dir wünschen mögest.

Alle anderen Wesen in der Schöpfung haben wir bestimmten Gesetzen unterworfen. Du allein bist nirgends beengt und kannst dir nehmen und erwählen, das zu sein, was du nach deinem Willen zu sein beschliessest.

In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du frei nach allen Seiten Umschau zu halten vermögest und erspähest, wo es dir behage. Nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich und auch nicht unsterblich haben wir dich erschaffen. Denn du selbst sollst, nach deinem Willen und zu deiner Ehre, dein eigener Werkmeister und Bildner (arbitrarius plastes et fictor) sein und dich aus dem Stoffe, der dir zusagt, formen. So steht es dir frei,.auf die unterste Stufe der Tierwelt herabzusinken. Doch kannst du dich auch erheben zu den höchsten Sphären der Gottheit" (nach Michael Landmann: De homine, 1962, 158).

 

Just zur gleichen Zeit als Pico della Mirandola dergestalt über die "Würde des Menschen" sprach, verfassten Heinrich Institoris und Jacobus Sprenger im Auftrag des Papstes (Innozenz VIII.) ihren "Malleus Maleficarum", den "Hexenhammer". Darin heisst es unter anderem:

 

"Bezüglich des ersten Punktes, warum in dem so gebrechlichen Geschlechte der Weiber eine grössere Menge Hexen sich findet als unter den Männern, frommt es nicht, Argumente für das Gegenteil herzuleiten, da ausser den Zeugnissen der Schriften und glaubwürdiger (Männer) die Erfahrung selbst solches glaubwürdig macht. Wir wollen, ohne das Geschlecht zu verachten, in welchem Gott stets Grosses schuf, um Starkes zu verwirren, davon sprechen, dass hierüber von Verschiedenen auch verschiedene, doch in der Hauptsache übereinstimmende Gründe angegeben werden ...

Einige Gelehrte nämlich geben diesen Grund an: sie sagen, es gebe dreierlei in der Welt, was im Guten und Bösen kein Mass zu halten weiss: die Zunge, der Geistliche und das Weib, die vielmehr, wenn sie die Grenzen ihrer Beschaffenheit überschreiten, dann eine Art Gipfel und höchsten Grad im Guten und Bösen einnehmen; im Guten, wenn sie von einem guten Geiste geleitet werden, daher auch die besten (Werke) stammen; im Bösen aber, wenn sie von einem schlechten Geiste geleitet werden; wodurch auch die schlechtesten Dinge vollbracht werden".

 

Anschliessend werden mit zahlreichen Bibelzitaten und Sentenzen aus klassischen Schriftstellern folgende Eigenheiten der Weiber vorgeführt: Bosheit, Habsucht, Hinterlist, Leichtgläubigkeit; Frauen sind ohne Verstand, lügnerisch, rachsüchtig. All dies geschieht aus "fleischlicher Begierde", die beim Weibe unersättlich ist.

"Der Grund ist ein von der Natur entnommener: weil es fleischlicher gesinnt ist als der Mann, wie es aus den vielen fleischlichen Unflätereien ersichtlich ist. Diese Mängel werden auch gekenntzeichnet bei der Schaffung des ersten Weibes, indem sie aus einer krummen Rippe geformt wurde, d.h. aus einer Brustrippe, die gekrümmt und gleichsam dem Mann entgegen geneigt ist. Aus diesem Mangel geht auch hervor, dass, da das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist, es immer täuscht“ (nach Gabriele Becker et al.: Aus der Zeit der Verzweiflung. 1977, 342 und 344f).

 

Das nächste Zitat aus unserem Jahrhundert knüpft interessanterweise an eine ähnliche Vorstellung über die Frau an:

"Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmässigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiss mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen.

Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewusstsein wie die empörende Misshandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise.

… Die breite Masse eines Volkes besteht weder aus Professoren noch aus Diplomaten. Das geringe abstrakte Wissen, das sie besitzt, weist ihre Empfindungen mehr in die Welt des Gefühls. Dort ruht ihre entweder positive oder negative Einstellung ... Ihre gefühlsmässige Einstellung aber bedingt zugleich ihre ausserordentliche Stabilität. Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt weniger dem Wechsel als Achtung, Hass ist dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie. Wer die breite Masse gewinnen will, muss den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Es heisst nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft …“ (nach Walther Hofer: Der Nationalsozialismus. 1957, 20f).

 

In einigen von Ihnen mag dieses Zitat merkwürdige Gefühle ausgelöst haben. Zu Recht, denn es stammt weder aus einem kulturkritischen noch aus einem psychologischen Werk, auch wenn es, wie der "Hexenhammer", als Handbuch verstanden werden sollte. Das Buch hiess "Mein Kampf" und erschien 1925.

 

Nur zwei Jahre später erschien von Max Scheler, den man als Begründer der neueren.philosophischen Anthropologie und damit als ersten Erforscher der Menschenbilder betrachten kann, das Werk "Die Stellung des Menschen im Kosmos". Darin fasst er für uns zusammen:

"Fragt man einen gebildeten Europäer, was er sich bei dem Worte ‚Mensch’ denke, so beginnen fast immer drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise in seinem Kopfe miteinander in Spannung zu treten.

Es ist einmal der Gedankenkreis der jüdisch-christlichen Tradition von Adam und Eva, von Schöpfung, Paradies und Fall.

Es ist zweitens der griechisch-antike Gedankenkreis, in dem sich zum erstenmal in der Welt das Selbstbewusstsein des Menschen zu einem Begriff seiner Sonderstellung erhob in der These, der Mensch sei Mensch durch Besitz der "Vernunft", logos, phronesis, ratio, mens - logos bedeutet hier ebensowohl Rede wie Fähigkeit, das ‚Was' aller Dinge zu erfassen -; eng verbindet sich mit dieser Anschauung die Lehre, es liege eine übermenschliche Vernunft auch dem ganzen All zugrunde, an der der Mensch, und von allen Wesen er allein, teilhabe.

Der dritte Gedankenkreis ist der auch längst traditonal gewordene Gedankenkreis der modernen Naturwissenschaft und der genetischen Psychologie, es sei der Mensch ein sehr spätes Endergebnis der Entwicklung des Erdplaneten, ein Wesen, das sich von seinen Vorformen in der Tierwelt nur in dem Komplikationsgrade der Mischungen von Energien und Fähigkeiten unterscheide, die an sich bereits in der untermenschlichen Natur vorkommen.

Diesen drei Ideenkreisen fehlt jede Einheit untereinander. So besitzen wir denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern - eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdecken, so wertvoll sie sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchten. Bedenkt man ferner, dass die genannten drei Ideenkreise der Tradition heute weithin erschüttert sind, völlig erschüttert ganz besonders die darwinistische Lösung des Problems vom Ursprung des Menschen, so kann man sagen, dass zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart ..." (nach Werner Trutwin, Dietrich Zillesen: Menschenbilder. 1970, 13f).

 

 Soweit vier Zitate, die mir für unser Thema Wichtiges enthalten.

 

 

Was beeinflusst unser Verhalten?

 

siehe auch:

Steuern Meinungen unser Verhalten?

 

Was beeinflusst eigentlich unser Verhalten? Wir könnten die Psychologen fragen. Doch: Es gibt nicht „die“ Psychologen und auch nicht „die" Psychologie. Zwar gibt es kaum, wie man scherzhaft zu sagen pflegt, soviele Psychologien wie einzelne Psychologen, aber etwa ein Dutzend Richtungen oder Hauptströmungen kann man schon auseinanderhalten. Das mag erschreckend oder bedauerlich klingen, aber es ist, was ich tröstlich finde, ein Ausdruck der "Unausschöpflichkeit" des Individuums (lat. "individuum ineffabile"). Daher kann die eine Richtung beim Bewusstsein, die andere beim Unbewussten ansetzen, andere beim Wahrnehmen oder Denken, andere beim Erleben oder Verhalten, wiederum andere bei den physiologischen Grundlagen oder bei den gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen, beim kranken oder gesunden Menschen, bei der Physik oder bei der Religion.

 

Ein paar wichtige Gesichtspunkte hat die Psychoanalyse zur Antwort auf unsere Frage beigetragen – wobei ich die Psychoanalyse nur stellveretend für andere Richtungen erwähne:

 

1. Jedes Verhalten (aber auch Erleben) ist integral und unteilbar: Die zu seiner Erklärung dienenden Begriffe beziehen sich auf seine verschiedenen Komponenten und nicht auf verschiedene Verhaltensweisen.

 

2. Kein Verhalten steht isoliert: Alles Verhalten ist das der integralen und unteilbaren Persönlichkeit.

 

3. Alles Verhalten ist Teil einer genetischen Reihe und, durch seine Vorläufer, Teil der zeitlichen Aufeinanderfolgen, die die gegenwärtige Form der Persönlichkeit hervorgebracht haben (nach David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Stuttgart: Klett 1962, 42-49).

 

Hinter diesen drei Punkten steckt eine Ganzheitsauffassung sowohl der Persönlichkeit als auch des Verhaltens. Beide sind unteilbar und in den Zeitlauf eingebettet. Was sich daraus als Wichtigstes für alle Untersuchungen des menschlichen Lebens ergibt ist folgendes: Das Erleben und Verhalten der Menschen ist überdeterminiert. Das heisst, es spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle: innere und äussere, Vergangenheit und Gegenwart, Anlage und Umwelt, Glauben und Wissen, körperliche, seelische und geistige, um nur einige wenige zu nennen.

 

Was in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten bewirkt, das versuchen die Wissenschaften vom Menschen herauszufinden. Je nachdem finden sie andere Ursachen. Auch das Verhalten ist also "unausschöpfbar". Daher die verschiedenen psychologischen, aber auch medizinischen und philosophischen Schulen, die verschiedenen Staats-, Gesellschafts- und Kunsttheorien.

 

"Weshalb all diese Erläuterungen?" können Sie sich fragen. Ich möchte damit zeigen, wie schwierig es ist, über den Menschen und Menschenbilder zu sprechen. Ich möchte zeigen, wie vorläufig und fragmentarisch alles ist, was wir darüber wissen. Und ich möchte Sie dazu anhalten, alles, was ich berichte und darstelle, nur als eine mögliche Art der Präsentation zu betrachten. Immerhin, als eine wie mir scheint, sinnvolle Art.

 

 

Was beeinflusst das Verhalten des Menschen?

 

Gemäss den Hauptthemen der psychologischen Forschung sind für das Verhalten eines Menschen folgende Faktoren wichtig:

 

1. Die sogenannten Funktionen oder psychischen Prozesse wie

Bewusstsein und Unbewusstes

Denken und Wahrnehmung

Empfindung und Erkennen

Phantasie und Erinnerung

Emotion und Motivation (z. B. Angst, Konflikt, Frustration, Interessen)

Lernen und Erfahrung

 

2. Dazu kommen Persönlichkeitsfaktoren wie

Typus

Temperament

Begabung

Intelligenz

Stresstoleranz

Gewohnheiten

 

3. Unter biologisch-medizinischer Perspektive kommen dazu:

das genetische Erbe, die Dispositionen und Konstitution

Merkwelt und Wirkwelt

Geschlecht

Alter

Entwicklungsstand, Reife

körperliche Merkmale

der Gesundheitszustand

der physiologische Zustand (Drogen, Ermüdung, Biochronologie)

 

4. Ferner alle sozio-kulturellen Faktoren wie

Erziehung

Ausbildung

Instruktion

Religion

Sprache

Milieu

Familie, Verwandtschaft

Gruppenzugehörigkeiten; Grösse und Macht der Gruppe

Kontakte und Erfahrungen mit andern Menschen

Medienkonsum

soziale und wirtschaftliche Schicht und Status

Besitz

Kulturkreis mit Tradition, Ideologie, öffentlicher Meinung

Zeitgeist, Mode, sozialer Wandel, soziale Normen, Leitbilder, Sitte, Brauch

Politisches und wirtschaftliches System; Lage derselben

Gesetze und Verordnungen

Rechte und Pflichten

 

5. Physikalische Faktoren wie

räumliche Nähe

technische Hilfsmittel

Wohnort, Siedlungstyp, Wohnung

Klima, Landschaft

Arbeitsort, Arbeitsplatz

 

6. und schliesslich die jeweilige Situation selber, samt unmittelbar vorhergegangenen Ereignissen und Besonderheiten des "Objekts".

Subjekt und Objekt mit je ihren Eigenheiten und ihrem Verhalten stehen in einem Kontext, der eine bestimmte Konstellation aufweist.

 

7. Als 7. Faktor sind in einer anderen Betrachtungsweise die ganz grossen Themen in Betracht zu ziehen wie:

Realität oder „Welt“

Raum und Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; Dauer, Phasen)

Materie, Energie und Information

Quantität und Qualität

Komplexität, Aggregationsgrad

Kausalität, Finalität

 

 

 

Alle diese Faktoren – Kurt Lewin bezeichnete sie als „Lebensraum“ -  bestimmen das Erleben und Verhalten des Menschen. Aber wir können nicht genau sagen, wann, wie und in welchem Ausmass. Es ist fast verhext: So viel Forschung ist schon betrieben worden, und doch wissen wir in so und sovielen Fällen nicht, wie es zu einem Ereignis oder Verhalten kommen konnte. "Was gab den Ausschlag, nicht nur vordergründig, sondern im letzten?"

 

Ob Arzt oder Kriminalist, ob Lehrer oder Forscher – sie stehen immer vor derselben Frage. Gewiss kann man es sich einfach machen und sagen: "Die Gesellschaft ist schuld" oder "Die Verhältnisse, sie sind nicht so", "Alles Verhalten ist letzten Endes triebbestimmt" (David Rapaport, 51) oder: alles Verhalten beruht auf Gewohnheitsbildung durch Konditionierung" (J. B. Watson). Aber das ist unzureichend, betrifft nur Aspekte des Ganzen.

 

Auf diesem Hintergrund ist also unsere 5. These zu sehen: Menschenbilder beeinflussen Erleben, Denken und Verhalten des Menschen. Sie sind nur ein Faktor unter vielen, aber vermutlich ein recht wichtiger. Dies darum, weil sich in ihnen vielfältige Bedürfnisse, Bewertungen und Erfahrungen zusammenschliessen und konzentrieren.

 

 

Menschenkenntnis und Lebensweisheit

 

Die Beschäftigung mit Menschenbildern ist nicht nur ein eitles Unterfangen, eine blosse Spielerei:

Was wir nämlich davon "haben" können ist zumindest ein bisschen Menschenkenntnis. Unser gemeinsames Vorhaben kann jedem von Ihnen den Anstoss geben, sich über die eigenen Menschenbilder und das Selbstbild etwas klarer zu werden.

 

Es kann Verständnis für andere Menschen wecken, die ebenfalls, wie Montaigne vor 400 Jahren treffend bemerkte, eher von Meinungen über die Dinge, in unserem Fall, Meinungen über die Menschen, gequält werden, als von den Menschen selber.

 

Und drittens zeigt die Beschäftigung mit Menschenbildern die kulturelle Bedingtheit und Wandelbarkeit der Ansichten über den Menschen. Es sind unterschiedliche Interpretationen des "unausschöpfbaren Menschen".

 

Was ist das Ergebnis? Vielleicht ein kleines bisschen mehr. Lebensweisheit.

 

Literatur

 

Gabriele Becker et al.: Aus der Zeit der Verzweiflung. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1977 (edition suhrkamp).

Jürgen Jahnke: Interpersonale Wahrnehmung. Stuttgart: Kohlhammer 1975 (Urban Taschenbuch).

David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Stuttgart: Klett, ca. 1962 (engl. in S. Koch, Hrsg.: Psychology: A Study of a Science, Study I, Vol. 3, 1959).

Bernd Schäfer, Bernd Six: Sozialpsychologie des Vorurteils. Stuttgart: Kohlhammer 1978 (Urban Taschenbuch).

Werner Trutwin, Dietrich Zillesen (Hrsg.): Menschenbilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, 7. Aufl. 1979 (Reihe Befragter Glaube, Quellentexte).

 

ferner:

Roland Asanger, Gerd Wenninger (Hrsg.): Handwörterbuch der Psychologie. Weinheim: Beltz 1980, 3. Aufl. 1983.

Wilhelm Keller: Einführung in die Philosophische Anthropologie. München 1971 (UTB), zuerst: Vom Wesen des Menschen. Basel 1943.

Michael Landmann: Philosophische Anthropologie. Berlin: de Gruyter 1982 (Sammlung Göschen, 1. Aufl. 1955).

Ann F. Neel: Handbuch der psychologischen Theorien. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1983 (Reihe Geist und Psyche, zuerst: Kindler Verlag 1974; engl. 1969).

Hans Thomae: Hauptströmungen der neueren Psychologie. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft 1969.

 

 

II. Entstehung

 

 

Meine Damen und Herren,

 

ich freue mich sehr, dass Sie auch heute wieder den Weg hieher unter die Füsse oder Räder genommen haben. Wir werden es heute gleich halten wie das letzte Mal. Zuerst werde ich Ihnen einiges berichten und um halb Neun eine kurze Pause einschalten. Anschliessend ist die Diskussion frei.

 

Das letzte Mal habe ich eine anspruchsvolle "Tour d'horizon" zum Thema Menschenbilder gegeben.

 

Der junge Grafen von Mirandola hat uns (laut Jacob Burckhardt) eines der "edelsten Vermächtnisse der Renaissance" hinterlassen: Gott spricht zu Adam: "In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du frei nach allen Seiten Umschau zu halten vermögest und erspähest, wo es dir behage ... Du selbst sollst, nach deinem Willen und zu deiner Ehre, dein eigener Werkmeister und Bildner sein."

 

Genau zur selben Zeit wurden die beiden Theologen und Mitglieder des Predigerordens, Heinrich Institoris und Jacobus Sprenger, vom Papst als Inquisitoren eingesetzt, und sie haben mit vielen Bibelzitaten (Prediger und Sprüche, vermutlich aus dem 3. Jh. v. Chr.) die Schlechtigkeit des Weibes beschrieben: Eva wurde aus einer krummen Rippe geformt. "Aus diesem Mangel geht auch hervor, dass, da das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist, es immer täuscht."

 

Adolf Hitler hat vor 60 Jahren die Masse dem Weib gleichgesetzt: beide sind weniger durch die Vernunft als durch das Gefühl bestimmt, sie beugen sich gerne dem Herrscher und einer starken Lehre und wissen mit liberaler Freiheit "meist nur wenig anzufangen".

 

Der Philosoph Max Scheler hat dann für uns zusammengefasst, Es gibt drei bedeutsame Menschenbilder:

1. das jüdisch-christliche mit Schöpfung, Paradies und Sündenfall,

2. das griechisch-antike von der Gestaltung und Beherrschung der ganzen Welt durch eine übermenschliche Vernunft, an der als einziges Lebewesen auch der Mensch teilhat,

3. dasjenige der modernen Naturwissenschaft, wonach der Mensch nur das späte Endergebnis der Erdentwicklung und der biologischen Evolution ist.

 

Diese drei "Ideenkreise" hätten keine Verbindung zueinander und seien überdies alle heute problematisch geworden, meinte Scheler schon vor 60 Jahren.

 

Tatsächlich ist der enthusiastische Freiheits- und Allmachtsgedanke der Renaissance seit der Jahrhundertwende mehrfach relativiert worden:

Der Mensch ist auf der einen Seite beschränkt oder geprägt durch seine biologische Konstitution (Merkwelt und Wirkwelt) sowie physikalische Faktoren; er ist eingesponnen in ein Netz von Bedürfnissen und Triebwünschen, Bildern und Idealen, und er ist durch soziale und kulturelle Faktoren geprägt, die er selber mitschafft (er ist Schöpfer und Geschöpf der Kultur). Und drittens setzt ihm die "Welt" Widerstand entgegen, verlockt ihn aber auch! Dinge, Menschen, Ereignisse finden wir nicht einfach vor, sondern sie wirken auf uns oder entziehen sich uns, stellen Ansprüche an uns, überfallen uns oder gaukeln uns etwas vor.

 

Man kann diese Sachverhalte auf verschiedene Weise bewerten:

 

1. Man kann sagen, der von Mirandola postulierte eigene Wille des Menschen sei von Natur und Kultur, Innenwelt und Aussenwelt vielfältig beschränkt, eingeengt, behindert.

 

2. Man kann wie Sigmund Freud (1923) formulieren: Die Aufgabe des Ich ist es, die Forderungen von Es (die Triebe, das Natürliche), Über-Ich (das Gewissen, die soziale und kulturelle Tradition) und Realität in Einklang zu bringen (Wollheim, 170ff).

 

3. Man kann, noch neutraler, den von Freud 1895 geprägten Begriff der "Überdetermination" gebrauchen: Das Verhalten eines Subjekts gegenüber dem Objekt findet in einem bestimmten situativen Kontext statt und ist von zahlreichen psychischen Funktionen und Persönlichkeitszügen, von biologisch-medizinischen, soziokulturellen und physikalischen Faktoren abhängig und kann unter räumlichen und zeitlichen, energetischen und informationellen, quantitativen und qualitativen Gesichtspunkten gesehen werden.

 

Aus diesem dritten Punkt erklärt sich auch, dass die sozialpsychologische Forschung bisher kaum eindeutige Zusammenhänge etwa zwischen Vorurteilen und Verhaltensabsichten oder Vorurteilen und realem Verhalten herausfinden konnte. Immerhin scheinen zwei Faktoren wichtig zu sein: das Selbstbild und die soziale Position.

 

Soweit die wichtigsten Behauptungen, die ich in der letzten Stunde vorgetragen habe. Ist nun jemandem von Ihnen seither eine Frage oder Bemerkung oder Beobachtung dazu aufgetaucht?

 

 

Die Entstehung von Menschenbildern

 

Wenn wir heute nach der Entstehung von Menschenbildern fragen, können wir drei Zeitdimensionen unterscheiden:

 

1. die kulturgeschichtliche,

2. die Lebensdauer des Menschen,

3. die aktuelle Begegnung von Menschen untereinander.

 

Zur kulturgeschichtlichen Dimension nur ein paar Stichworte:

Der Übergang des Menschen vom Jäger und Sammler zur sesshaften Lebensweise - vor ca. 12'000 Jahren -, zur Bildung fester Wohnstätten und zu Ackerbau und Viehzucht, wird gewiss mit einem Wandel von Menschenbildern verbunden gewesen sein. Das Aufblühen von Hochkulturen vor etwa 6000 oder 5000 Jahren ebenfalls.

 

Genauer lassen sich die Wandlungen des Menschenbildes dann im religiösen Bereich fassen: Zwischen dem Menschenbild, vor allem auch Frauenbild des alten Judentums und demjenigen der Zeit etwa des 3. Jh. v. Chr., aus dem die Sprüche stammen, auf die sich der "Hexenhammer" stützt, bestehen Unterschiede. Recht genau lässt sich auch das Frauenbild Jesu fassen und was dann in den anschliessenden Jahrhunderten, insbesondere durch Paulus und die Kirchenväter, daraus wurde.

 

Von diesen Wandlungen wollen wir in den beiden letzten Doppelstunden sprechen.

 

Ebenfalls erst später werden wir von der Entstehung von Menschenbildern in der menschlichen Begegnung erwachsener Menschen sprechen. Als Stichwort nenne ich nur den "ersten Eindruck" sowie dessen Revision und Bestätigung.

 

Heute nun soll es um die Entstehung von Menschenbildern im Lebensgang des einzelnen Menschen gehen.

 

Fortsetzung siehe:

Die Psychologie der Menschenbilder, Teil 2: Die Bildung der Vorstellungen beim Kinde

 

Literatur

 

Jean Piaget: Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1983 (1. Aufl. unter dem Titel: Jean Piaget über Jean Piaget - Sein Werk aus seiner Sicht. München: Kindler 1981; engl. 1970 in Carmichael's Manual of Child Psychology).

 

ferner:

Gustav Bally: Einführung in die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Reinbek: rowohlts deutsche enzyklopädie Bd. 131/132. 1961 (zuerst 1958).

Richard Wollheim: Sigmund Freud. München: dtv. 1972 (engl. 1971).

 

 

III. Schule, Erziehung, Medien

 

 

Meine Damen und Herren,

 

es freut mich, dass Sie auch zur dritten Doppelstunde hierher gekommen sind. Wir wollen heute von Schule und Erziehung sprechen.

Lag vor einer Woche das Schwergewicht auf den ersten 10 Lebensjahren des heranwachsenden Menschen, mit besonderer Betonung der Vorschulzeit, so möchte ich heute über die Schulzeit und Pubertät sprechen, also über die Zeit vom 7. - 15. Lebensjahr. Aber auch die anschliessende Zeit der Adoleszenz darf nicht vergessen werden. Sie bringt entweder die Lehrzeit und den Übertritt ins Berufsleben oder die Beendigung einer höheren Schule und eventuelle weitere Ausbildung. Gleichzeitig findet die Ablösung vom Elternhaus statt.

 

Sie erinnern sich an einige meiner Behauptungen vom letzten Mal:

 

1. Die ganzen ersten 20. Lebensjahre sind die wichtigsten.

2. Der Vater ist ebensowichtig wie die Mutter.

3. Vorstellungen und Erwartungen der Eltern prägen den jungen Menschen von der Geburt an. Und diese Erwartungen und Vorstellungen sind geschlechtsspezifisch.

4. Erst in der 2. Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt der Säugling zwischen Innenwelt und Aussenwelt zu unterscheiden. Das bedeutet den Anfang der Ich-Entwicklung und von Vorstellungen.

5. In den ersten 2 Lebensjahren sollte das Urvertrauen entstehen, das als Basis für alle späteren Menschenbilder dient.

6. Mit 3 Jahren ist das Kind ein kleines "Persönchen". Es fragt und trotzt, sagt: "Ich will" oder "Ich will nicht. Es drückt sich in Sätzen und Zeichnungen, aber auch in Nachahmung und Rollenspielen aus.

7. Eine wichtige Aufgabe der Eltern, insbesondere des Vaters, ist die Weltvermittlung. Das ist die sowohl gefühlshafte wie sachliche Einführung in den Umgang mit Dingen, Menschen und Ideen.

8. Etwa im 6. Lebensjahr verleibt sich das Kleinkind die elterliche Autorität ein. Es entsteht das "Über-Ich", das auch das elterliche Über-Ich enthält. Und damit hat die soziale und kulturelle Tradition ihren Eingang in das kindliche Erleben und Denken gefunden.

9. Etwa ab 7 Jahren ist das Kind zu antizipatorischen Vorstellungen fähig. D. h. es kann Vorstellungen neu kombinieren. Es entwirft beispielsweise Phantasiewelten mit Berufsund Reiseträumen, aber auch Allmachtsphantasien. Ist die Weltvermittlung bis dahin nicht gut gelungen, durchziehen diese Phantasiewelt als Tagträume den ganzen Alltag. Das Kind zieht sich aus der Realität zurück; die Realität ist nur noch lästig.

10.Es besteht eine unveränderliche Folge von Entwicklungsstufen. Jede setzt die vorhergehende voraus. Eltern dürfen also nicht zu früh etwas vom Kind verlangen, was es nicht leisten kann; anderseits müssen sie es auf dem jeweiligen Entwicklungsstand fördern.

 

Fortsetzung siehe:

Psychologie der Menschenbilder, Teil 3: Schulzeit und Pubertät

 

 

Zum Einfluss der Erwartungen

 

Es braucht also viel Verständnis für den Heranwachsenden. Warum fällt das aber oft so schwer?

… Das wichtigste ist doch, worauf ich bereits in der letzten Stunde hingewiesen habe, das Gespräch, die unermüdliche Bereitschaft zum Dialog. Nichts schlimmeres, als wenn sich der Vater ständig hinter der Zeitung verschanzt, den Jugendlichen hänselt oder ein Machtwort spricht und sagt: „Keine Diskussion. Punkt!“

 

Sinnvoller ist es, darauf einzugehen, was dem Kind und Jugendlichen wichtig ist. Das heisst, sich darauf einlassen, was ihm am Herzen liegt.

 

Wir haben das letzte Mal davon gehört, dass die Vorstellungen, was ein richtiges Mädchen oder ein Bub tun oder nicht tun darf, von Anfang an das Erziehungsverhalten bestimmen. Ob das nun die Eltern wollen oder nicht. Etwas ähnliches wurde nun für die Schulzeit als sogenannter "Rosenthal-Effekt" beschrieben. Das Buch "Knaurs moderne Psychologie" setzt mit diesem Effekt ein. Er besagt, dass die Erwartung an ein anderes Lebewesen dessen Verhalten beeinflusst. Sogar bei Ratten konnte man dies feststellen: Wenn Studenten ihre Ratten für klug hielten, zeigten diese stets ein besseres Lernverhalten in einem einfachen Labyrinth als wenn Studenten gleiche Ratten für dumm hielten (1964).

 

Rosenthal führte diese Untersuchung nachher auch in einer Schule durch. Er gab jedem Lehrer die Namen von z. B. 4 von 20 Schülern der Klasse an, die nach angeblichen Testergebnissen eine "ungewöhnlich gute schulische Entwicklung" nehmen würden. Was ergab sich nach einem Jahr? Die 4 angeblich hochbegabten Erstklässler hatten gegenüber den andern Erstklässlern einen um 15 Punkte höheren IQ. Bei den Zweitklässlern waren es immer noch 10 Punkte. In höheren Klassen gab es diesen Effekt nicht.

 

Diese Ergebnisse wurden von anderen Forschern angefochten und widerlegt. Was einzig festzustehen scheint ist, dass sich Lehrer denjenigen Schülern mehr und geduldiger zuwenden, von denen sie eine positivere Erwartung haben (Jürgen Jahnke, 141). Anderseits werden "schlechte" Volksschüler von ihren Lehrern vorwiegend als "dumm" und damit bemitleidenswert oder faul angesehen (131ff). Wie stets, so liegen auch hier zu wenig aufschlussreiche Forschungen vor, so dass man höchstens allgemein sagen kann: Im Lehrer sind "subjektive Ordnungsschemata" wirksam (137), die die Wahrnehmung und Beurteilung einzelner Schüler bestimmen.

 

Für die Sicht der Schüler sind die Ergebnisse der Forschung auch nicht aufschlussreicher: Gute Schüler schätzen ihre Lehrer positiver ein als schlechte. Gute Schüler sind zudem der Ansicht, der Lehrer habe eine gute Meinung von ihnen (129). Über Näheres schweigt sich die Forschung aus.

 

Aber es gibt zumindest eine Theorie, und zwar für die Schülerleistung. Sie sieht 5 Stufen:

 

"1. Die Leistungserwartungen des Lehrers gegenüber bestimmten Schülern ändern sich (experimentell manipuliert oder 'natürlich'), der Lehrer schätzt z. B. die Fähigkeiten des Schülers plötzlich höher ein.

2. Mit höheren Leistungserwartungen geht eine andere Ursachenerklärung einher: Misserfolge des Schülers werden eher mit mangelnder Anstrengung als mit mangelnden Fähigkeiten erklärt.

3. Der Schüler verändert allmählich sein Selbstbild, wenn er bemerkt, dass der Lehrer ihm bessere Leistungen zutraut.

4. Die Veränderung des Selbstbildes geht mit veränderter Ursachenerklärung seitens des Schülers einher. 'Der. Schüler wird erfolgszuversichtlicher, lernmotivierter und anstrengungsbereiter.'

5. Die reale Leistung wird unter diesen Voraussetzungen besser werden, wodurch das neue Selbstbild des Schülers und die veränderten Erwartungen des Lehrers Bestätigung finden.'

 

Heckhausen (1973, der diese Theorie aufgestellt hat) weist allerdings auch auf die Möglichkeit hin, dass dieser Prozess in die Gegenrichtung umschlagen kann, wenn die Erwartungen des Lehrers so sehr enttäuscht werden, dass sie nicht zu dem beschriebenen erfolszuversichtlichen Attribuierungsmuster führen, sondern das Urteil über die Fähigkeiten des Schülers zum Negativen hin beeinflussen" (Jürgen Jahnke, 141f).

 

Soviel zum Schüler-Lehrer-Verhältnis, das wie das Kind-Eltern-Verhältnis eine intensive Wechselbeziehung darstellt.

 

 

Zum Einfluss der Medien

 

Basiert so schon die Wirkung ganz unterschiedlicher Medien auf weitgehend ähnlichen Mechanismen, so sind auch Information und Belehrung, Unterhaltung und Werbung gar nicht so verschieden voneinander .

 

Fast alle Medien, auch die akustischen und geschriebenen vermitteln Bilder oder erzeugen Bilder. Wer einen Roman oder einen Brief liest, sieht nicht Buchstaben, sondern Personen und Ereignisse. Auch wer Platten hört, sieht Bilder, sogar wer die Nachrichten am Radio hört.

Diese Bilder müssen gar nicht so genau sein. Wichtig sind die Stimmung und die Gefühle, die damit verbunden sind. Das gilt auch, wo "reale" Bilder gezeigt werden. Der Palmenstrand oder das Sofa im Werbeprospekt, das nackte Mädchen auf dem Kalenderblatt, der neue Popstar oder der lächelnde Politiker, hungernde Kinder oder Flüchtlinge in der Illustrierten, am Radio, im Fernsehen, sie sind nicht interessant als Bild, sondern weil damit Stimmungen und Gefühle geweckt werden. Das Gefühl von Freiheit oder Abenteuer, von Komfort oder Sicherheit, Glanz oder Gloria, Sympathie oder Verachtung, Mitleid und Entrüstung usw. Fast alle Objekte und Personen sind austauschbar. Das Individuelle ist kaum je von Bedeutung.

 

Wie steht es nun mit der Information, mit Aufklärung und Belehrung? Gewiss, es gibt Analysen, Hintergrundstories, vertiefende Kommentare, Diskussionen. Aber enthüllen sie uns das Ganze, zeigen sie uns die wahren Zusammenhänge und die tatsächlichen Ansichten und Absichten der, sagen wir einmal "Drahtzieher", vor allem im politischen und wirtschaftlichen Bereich? Bleibt nicht das Meiste infolge Platz- und Zeitdruck an der Oberfläche?

 

Dennoch erzeugt solche Information das Gefühl, man habe etwas verstanden, man durchschaue etwas.

 

 

IV. Archetypen

 

 

Meine Damen und Herren,

 

Darf ich Sie bitten, zu raten, wen dieses Bild darstellt.

 

Es ist Marilyn Monroe, die immerhin kürzlich noch von 12 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15-24 Jahren als Idol gewählt wurde. Mir scheint, dieses Bild zeigt sehr schön, dass Idole nicht die reale Person betreffen, sondern einen Mythos davon.

 

Wie sieht dieser Mythos aus? In seinem Versuch einer Psychographie hat Norman Mailer 1973 viel, viel geschrieben, unter anderem:

 

„Sie war unser Engel, der süsse Engel des Sex, und der Schmelz des Sex ging von ihr aus gleich dem klaren Klang, der machtvoll verstärkt dem Resonanzboden einer edlen Geige entsteigt.

Auf allen fünf Kontinenten begehrten sie die Männer, die am meisten von der Liebe verstanden, und der klassische Pickeljüngling, der zum erstenmal den Benzinschlauch in den Tank seines Wagens steckte, verzehrte sich danach, auch in sie etwas reinzustecken; denn Marilyn - das war die Erlösung, eine wahre Stradivari des Sex, so umwerfend, nachsichtig, humorvoll, willfährig und zärtlich, dass selbst der mittelmässigste Musikus im alles lösenden Zauber ihrer Violine seinen Mangel an Kunstfertigkeit vollkommen vergass.

… „Marilyn Monroes Sex“, versprach das Lächeln des jungen Stars, „befriedigt jedes menschliche Begehr.“ Wenn man sie liebte - und dieses Gefühl flösste sie einem ein -, wie sollte es dann nicht möglich sein, nicht auch mühelos der ganzen Süsse teilhaftig zu werden und der grenzenlosen Verheissung künftiger Süssigkeiten, ja, jener Himmel voller Zärtlichkeiten, in denen das Fleisch Auferstehung feierte. Und sie verlangte keinen Preis dafür. Sie hatte nichts von dem dunklen Sich-Verkaufen an jene leidenschaftlichen brünetten Tiefen, die nach Blut riechen, nach lebenslangen Schwüren und nach Furien der Rache, die losgelassen werden, wenn man der Tiefe dieser Leidenschaft einmal untreu wird - nein, was Marilvn verhiess, war, dass Sex zwar schwierig und gefährlich sein könne - mit anderen, aber mit ihr, da sei es das reine Eisschiecken. Wenn ihr Geschmack sich mit deinem verband - wie herrlich, wie honigsüss musste dann der zarte Traum des Fleisches sein, den es gemeinsam zu träumen galt.“

 

Wie sich Marilyn Monroe selber sah, hat sie etwa 1954 in autobiographischen Skizzen festgehalten. Sie erschienen erst lange nach ihrem Tod, 1974 in Amerika, 1980 in Deutschland. Es wurde kein Bestseller. Einige Angaben möchte ich herausgreifen. Ihr Idol war ihr Vater, den sie nie gesehen hat; er sah aus wie Clark Gable. Sie wuchs bei Pflegeeltern und im Waisenhaus auf. Mit acht Jahren wurde sie vergewaltigt. Sie träumte von einem Zuhause, von der Wahrheit und dass sie die Leute ansahen, damit sie sich weniger einsam fühlte.

Als ihre neunten Pflegeeltern umziehen wollten und sie wieder hätte ins Waisenhaus zurückgehen müssen heiratete sie, mit 15 Jahren. Ihren Mann betrachtete sie daher als Helden einer Ritterballade, der sie aus ihrem Status als Waise errettete. Aber: "Es war als sei ich in einen Zoo gekommen". Wenn ihr Mann mit seiner Verwandtschaft spielte oder lautstark diskutierte, schlich sie sich aus dem Hause und spielte mit Kindern auf der Strasse.

Erst als sie 24 Jahre alt war hatte sie ihre ersten Erfolge in kleinen Filmrollen. Es hatte so lange gedauert, weil sie sich weder kaufen liess noch hochdiente. Als ein Studioboss sie allein auf seine Yacht einladen wollte, lehnte sie fassungslos ab und fuhr nach Hause. Sie schreibt darüber:

"Ja, es war etwas Besonderes an mir, und ich wusste auch, was. Ich gehörte zu der Art Mädchen, die man tot in einem Schlafzimmer findet, mit einer leeren Schachtel Schlaftabletten in der Hand“ (Meine Story, 71).

 

Ein Jahrzehnt später, als sie 36 Jahre alt war, fand man sie tatsächlich so.

 

Dies als Hintergrund für unser heutiges Thema "Familie, Partnerschaft, Alltag". Man kann ihn verallgemeinern, und dann geht daraus dreierlei hervor:

1. Die Vorstellung, die man sich von einem Menschen macht, muss sich nicht decken mit dem, was er ist.

2. Die Menschen leiden unter den Vorstellungen, die man sich von ihnen macht.

3. Die meisten Menschen haben ähnliche Bedürfnisse, zumindest was Geborgenheit und Zärtlichkeit, Wahrheit und Reinheit betrifft.

 

Einiges mag dem Erwachsenen bewusst sein, manches ist es aber nicht. Mit seiner Auffassung, dass sich so vieles im Unbewussten abspielt, hat Freud sicher recht gehabt. Auf dem langen Weg vom Säugling über den ABC-Schützen zum Erwachsenen ist aber viel verloren gegangen oder zugeschüttet worden.

Eltern-Bilder wurden auf einen Sockel gestellt, hinuntergestossen, und in der Pubertät durch Idole ersetzt. Und nun soll der junge Erwachsene sich selbst mit einem kräftigen und eigenständigen Selbstwertgefühl auf diesen Sockel stellen, gleichzeitig wissend, dass tief in ihm viel Verdrängtes  und Unbekanntes schlummert?

 

Selbstverständlich kann ich hier keine "Psychologie der Erwachsenen" geben. Schon deshalb nicht, weil ich immer wieder zumindest versuche, den Einfluss von "Menschenbildern" herauszuarbeiten. Und solche "Vorstellungen des Menschen über den Menschen" sind nur ein Ausschnitt aus dem Denken, Erleben und Verhalten des Erwachsenen.

 

Fortsetzung siehe:

Die Psychologie der Menschenbilder, Teil 4: Die Selbstwerdung des Erwachsenen

 

 

Zu Realität und Wunschbild

 

… In Ergänzung zum Schema, das ich Ihnen einst von Freud vorgetragen habe - das Ich vermittelt zwischen Es, Über-Ich und Realität - treten in der Persona nun auch die Erwartungen der Realität "in Erscheinung“. Bei Freud finden sich diese mit dem Ich-Ideal im Über-Ich.

Viel mehr als bei Freud ist bei Jung der Mensch nicht nur ein Triebwesen, sondern auch ein soziales Wesen (BIU, 35). Und damit hängt zusammen, dass so vieles am Menschen nicht nur individuell, sondern auch kollektiv ist. Bedürfnisse von und Erwartungen an Menschen sind in vieler Beziehung gar nicht so verschieden, sondern recht ähnlich. Durch alle Menschen wirken gemeinsame Bedürfnisse und kollektive Erwartungen. Davon werden wir bald noch sprechen.

 

… Wir können diesen historischen Exkurs durchaus auf die Gegenwart übertragen. Sofern die Anima als Wunschbild des Mannes aufgefasst wird, trägt sie z. B. die Züge des "jungen Mädchens", "zarten Geschöpfs", der "fast unberührten Braut" und der "Prinzessin", die Sartre aus Gefahren oder aus dem Gefängnis rettet und verteidigt.

 

Das Motiv, "die Geliebte zu retten" hat schon 1910 Freud untersucht. Dabei stellte er fest, dass es vor allem "das irgendwie sexuell anrüchige" Weib war, welches auf viele Männer eine eigenartige Faszination ausübte. Die Dirne bedarf der Rettung durch den Mann und würde ohne ihn jeden sittlichen Halt verlieren. Freud führte diesen Wunsch auf einen frühkindlichen Mutterkomplex zurück. Der Knabe erkennt, "dass der Unterschied zwischen der Mutter und der Hure doch nicht so gross sei, dass sie im Grunde das nämliche tut". Und die Rettungsphantasie stammt aus dem Ödipuskomplex (Bally, 50-52).

 

Wie dem auch sei, auffallend ist, dass üblicherweise nicht nur die "lichte Seite" des weiblichen Wesens, wie bei Sartre, die männliche Vorstellungswelt beherrscht, sondern auch die dunkle also: das pflegende Weib (Bally, 77) und das gefallene Mädchen.

 

Ganz deutlich haben wir das am Anfang bei Norman Mailers Schilderung von Marilyn Monroe gesehen: Sie ist "der süsse Engel des Sex". Paradoxer noch: Sie verkörperte Reinheit, Sauberkeit, Arglosigkeit und war doch eine verheissungsvolle, willfährige "Stradivari des Sex".

 

In memory of Marilyn Monroe"

 

Zu „Anima“ und „Animus“

 

C. G. Jungs These ist, dass jeder Mensch nicht nur eine Persona nach aussen und einen gleichgeschlechtlichen dunklen Teil (Schatten) in sich hat, sondern auch noch einen gegengeschlechtlichen Teil.

Erst alle drei machen die Ganzheit des Menschen aus. Wie man gern erscheinen möchte, das ist die Person was man an sich nicht gerne sieht, ist der Schatten, und was man auch noch in sich hat, ist der andersgeschlechtliche Urgrund.

 

Schon Freud hat (seit 1899) von der Bisexualität des Individuums gesprochen und sie vor allem biologisch bedingt gesehen. Jung dagegen sieht sie eher innerseelisch, und er verwendet dafür gerne das alte chinesische Bild von Yin und Yang. In jeder Frau steckt, ob gewollt oder nicht, auch einiges Männliche, in jedem Mann einiges Weibliche.

 

Die "Anima" des Mannes resp. der "Animus" der Frau hat nun drei, wie man sagen könnte, Wurzeln:

 

1. Die uralte, menschheitsgeschichtliche Erfahrung des Mannes mit der Frau (und umgekehrt): "Im Unbewussten des Mannes steckt ein vererbtes kollektives Bild der Frau, mit dessen Hilfe der Mann die Natur der Frau verstehen kann" (vgl. BIU, 83; Fordham, 63)

2. Die eigene Erfahrung des männlichen Wesens mit Frauen, von der Mutter und Schwestern bis zu Freundinnen und Geliebten.

3. Die eigenen weiblichen Züge und Neigungen des Mannes: das weibliche Prinzip oder das weibliche Element im Manne. (Daher spricht Jung auch von Seele = anima = "weiblicher Geist" im Manne, welch letztere dem Bewusstsein allerlei einflüstert, aber ihm auch die Bilder des Unbewussten vermittelt – siehe ETG, 189ff.)

 

Es muss hier festgehalten werden, dass diese drei Aspekte untereinander zusammenhängen, aber auch mit dem Schatten und der Persona. Nichts ist isoliert oder isolierbar. Alles hängt im Seelischen miteinander zusammen.

Aber es gibt Bereiche, die zeitweise eine Eigendynamik entfalten, ein Eigenleben führen und schliesslich, wie Jung es nennt, "Komplexe" bilden, die seelische Energien auf sich ziehen und an sich binden.

 

Die Vielfalt der Seelen-Bilder ist nahezu unerschöpflich. Sie zeigen sich wie der Schatten als Kräfte des Unbewussten in plötzlichen Einwirkungen auf das Verhalten, in Träumen und durch Projektion. Wie auch den Schatten, finden wir sie, viertens, in Mythen und Märchen, in der Literatur und bildenden Kunst.

 

Wichtig ist, dass es bei Anima und Animus je zwei Grundformen gibt: eine lichte und eine dunkle, eine positiv und eine negativ bewertete. Das Anima-Bild kann also eine Göttin, Fee Jungfrau, Gefährtin, oder aber eine Hexe, Bettlerin, Dirne, Amazone sein. Das Animus-Bild entfaltet sich ähnlich in Gott, Ritter, Jüngling oder Teufel, Rattenfänger, Gigolo, usw.

 

Ob diese Figuren alle in der "Grossen Mutter" resp. im "alten Weisen" zusammenfallen, wie Jung meinte, möchte ich offen lassen. Bedeutsamer scheint mir bei allen seelischen Bildern die Doppeldeutigkeit oder Gegensätzlichkeit.

Es scheint zu den Eigenheiten des Menschen zu gehören alles in zwei Extreme aufzuspalten und zu bewerten oder in Extremen zu erleben und zu begehren. Hell-Dunkel, Gut-Böse, lustvoll-unlustvoll, attraktiv-eklig sind solche gegensätzliche Bewertungen oder Erlebnisqualitäten. Ganz besonders spielt dieser Mechanismus bei der Typisierung im Menschen in Wünschen oder in der realen Begegnung. Fast die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht ein unheimlicher Drang, den Menschen hochzustilisieren und gleichzeitig zu erniedrigen.

 

 

„Anima“ und Projektionen

 

Da sich nach Jung alle unbewussten Inhalte unter anderem auch durch Projektion äussern, findet folgendes statt: Der Mann sucht weibliche Wesen, "welche die Projektion seiner Seele möglichst anstandslos aufnehmen" können (BIU, 82; Jacobi, 177).

 

Frieda Fordham schreibt, die Anima habe eine "zwingende Kraft, weil sie ein archetypisches Bild des kollektiven Unbewussten ist. Sie wird auf jede Frau, die nur den kleinsten Haken bietet, um das Abbild daran aufzuhängen, projiziert" (65).

 

Soweit so gut. Wie kommt es aber, dass der eine sich Dirnen zuwendet, der andere aber der Unschuld vom Lande? Welcher Persona entspricht das Frauenbild der reinen Jungfrau, welcher die lüsterne Hexe? Gerade darüber schweigt sich Jung aus. Daher können wir nur theoretisch postulieren:

 

1. Einer Persona, die Moral und Position betont, steht die Anima des "gefallenen Mädchens" gegenüber.

2. Einer Persona, die das Herrschen und Kompromisslosigkeit betont, steht eine zarte Jungfrau gegenüber.

3. Einer Persona, die Konzilianz und Kreativität betont, steht eine amazonenhafte Anima gegenüber.

4. Einer Persona, die Milde und Sentimentalität betont, steht die Hexe gegenüber.

 

Und so weiter. Sie sehen, das überzeugt nicht so ganz.

 

Wenn also Jung schreibt, es könne gerade die eigene schlimmste Schwäche sein, die ein Mann sichtbar heirate (BIU, 82), dann klingt das doch etwas zu einfach, ebenso dass der Held in der Aussenwelt zuhause der Pantoffelheld sei (88) oder: "Ist die Persona intellektuell, so ist das Seelenbild ganz sicher sentimental" (Jacobi, 179).

 

Jolande Jacobi schreibt: "Das Seelenbild ist selten eindeutig, fast immer eine komplex-schillernde Erscheinung, mit allen Eigenschaften gegensätzlichster Natur ausgestattet" (175; vgl. 182).

 

Jolande Jacobi nennt an Animusfiguren etwa Ritter Blaubart und den Rattenfänger, Don Juan, Chauffeure und Piloten (175, 183), aber nicht Zigeuner, Bettler, Lumpen, Sklaven, Filou, Säufer, Zuhälter, Geck, Mönch, Bonze, Inquisitor, Mörder, Schlächter, Teufel.

 

Was möchte ich damit zeigen? So einleuchtend die Jungsche Theorie der inneren und der projizierten Bilder ist, so schwierig ist es, herauszufinden, was im Einzelfall vor sich geht.

 

Zu C. G. Jungs Bilderlehre

 

Gewiss gibt C. G. Jungs Bilderlehre wie übrigens jede psychologische Theorie nur Hinweise darauf, wie es sein könnte und grift dabei immer nur einen Aspekt des menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns heraus.

Immerhin verdanken wir Jung mehrere wichtige Erkenntnisse für den schwierigen, aber nicht aussichtslosen Weg der Individuation - und sie sind auch für Familie, Alltag und Partnerschaft bedeutsam:

 

1. Aus dem Ideal-Selbstbild und den Erwartungen an uns bilden wir eine Persona. Sie ist nicht dasselbe mit den verschiedenen Rollen, die der einzelne spielt, sondern das Gemeinsame dahinter. Je nach der Starrheit der Persona sind die sozialen Rollen uniform oder differenziert und farbig.

2. Hinter der Persona steckt meist noch ein ganz anderer Mensch. Je starrer oder künstlicher nämlich die Persona, desto stärker die Kompensation im Unbewussten durch den Schatten einerseits, Anima resp. Animus anderseits. Alle drei machen erst die Ganzheit des Menschen aus.

3. Sowohl Schatten wie Anima wirken durch plötzliches oder unerklärliches Verhalten, in Träumen und Phantasien und in Projektionen.

4. Die Persona ist wirksam im Berufsleben und noch am Familientisch. Wenn aber enge Gemeinschaft im Arbeitsteam oder in der "guten Stube" Stress bringt, schlägt der Schatten, schlagen auch Züge der Anima (-us) durch.

5. Der Schatten wird projiziert. Ich werfe dem Kollegen oder Vorgesetzten gerade das vor, was ich im Innersten selber gern tun möchte. Ich unterschiebe einem Partner oder irgendeinem Gegenüber die bösen Absichten, die ich eigentlich selber habe. Ich unterstelle ihm Motive, Träume, Überspanntheiten, die eigentlich die meinen sind.

6. Auch Animus und Anima werden projiziert. Gemäss des "schillernden Charakters" der Anima (Jacobi, 182) stellt der Mann, je starrer seine Persona ist, desto widersprüchlichere Forderungen an "seine" Frau: sie muss ihm Mutter und Jungfrau, verführerisch und ein guter Kumpel, sensibel und robust sein.
Der Animus könnte ähnlich widersprüchlich sein.

7. Alle Menschen - zumindest die Abendländer - sind in manchen Grundstrukturen gleich. Auch ihre seelischen Abläufe und wohl auch Bedürfnisse sind einander recht ähnlich. Das zeigt sich in der Analyse von Mythen und Märchen, Geheimwissenschaft und Literatur durch die Jahrtausende. Es zeigt sich aber auch in Träumen und Phantasien.

8. Jeder Mensch stellt eine sehr vielfältige Ganzheit von verschiedenartigsten bewussten und unbewussten Kräften, Impulsen und Bildern dar. In welchem Grade er sich diese bewusst macht, anerkennt und gestaltet, macht seine Individualität aus.

 

Was ergibt sich daraus?

 

Einerseits kann der Versuch, sich unbewusste Faktoren, Vorgänge und Bilder bewusst zu machen, helfen, etwas besser mit sich selber fertig zu werden. Anderseits kann es helfen, dass man über seine Mitmenschen, Partner, Kollegen usw. nicht zu schnell den Stab bricht. Und drittens kann es mithelfen, im Gespräch, im beharrlichen Dialog eine Beziehung, eine Partnerschaft, eine Berufs- oder Familiengemeinschaft zu gestalten, und zwar so zu gestalten, dass jeder mit etwas weniger Angst und Überheblichkeit und ein bisschen mehr Selbstbewusstsein und Toleranz, etwas eher er selbst sein kann.

 

 

Literatur

 

Frieda Fordham: Eine Einführung in die Psychologie C. G. Jungs. Zürich: Rascher 1959 (engl. 1953).

Aniela Jaffé: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Zürich: Rascher 1962 (= ETG).

C. G. Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Zürich: Rascher, 6. Aufl. 1963 (zuerst 1928) (= BIU).

Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Zürich: Rascher, 4. Aufl. 1959 (1. Aufl. 1940).

Marilyn Monroe: Meine Story. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1980 (engl. 1974 by Milton H. Greene).

 

 

V. Wahrnehmung und Erwartung

 

 

Meine Damen und Herren,

 

Was haben die bisherigen 4 Doppelstunden zur Aufklärung über das Thema "Menschenbilder" beigetragen?

 

1. Das Thema lässt sich, wie jedes Thema, von ganz verschiedenen Seiten her anpacken: z. B. von der Geschichte her, von der Psychologie oder Soziologie her. Oder: von einem Text her, von einem Entwicklungsabschnitt im Leben des Menschen oder von einem Filmstar her.

 

2. Daraus hat sich ergeben: Es gibt nicht "das" Menschenbild, ja es gibt nicht einmal "den" Menschen. Der Mensch ist ungleich mehr, als was über ihn geschrieben wird; er ist unverständlicher, reichhaltiger, kurz "unausschöpfbar" ("individuum ineffabile").

 

3. Insbesondere hat die Psychologie mit einiger Berechtigung darlegen können, dass in jedem Menschen vieles wirksam ist, von dem er nichts weiss oder nichts wissen will. Aber auch diese dunklen oder anderen Seiten in ihm gehören zu ihm, machen erst seine Ganzheit aus.

 

4. Kein Mensch lebt allein. Von Geburt an bewegt er sich unter Gegenständen und Menschen. Und mit ihnen tritt er in mannigfaltige Wechselbeziehungen. D. h. weder die Beziehungen zu materiellen Objekten, noch zu Lebewesen, noch zu Ideen sind Einbahnstrassen. Schon der Säugling lebt in einer Partnerschaft mit Eltern oder Pflegepersonen, wie immer auch diese Partnerschaft aussehen mag. Und der Umgang mit Einrichtungsgegenständen und Spielsachen kann ähnlich gesehen werden: Das Kind wirkt auf sie ein und sie wirken auf das Kind. Diese Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt halten das ganze Leben hindurch an.

 

5. Vieles im einzelnen Menschen wird durch andere Menschen bestimmt oder geformt. Wenn wir uns gegenüber ganz ehrlich sind können wir nicht mit letzter Bestimmtheit sagen: "Dies ist meine ganz persönliche Meinung". Sondern wir müssten sagen: "Auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen und vorläufigen Kenntnisse bin ich zu dieser Meinung gelangt. Ich habe einiges gehört und gelesen, habe im Umgang mit Dingen und Menschen einiges gelernt, aber ob es der Weisheit letzter Schluss ist - darauf könnte ich nicht Gift nehmen.“

 

6. Freilich gibt es Situationen und Probleme, für die ich "felsenfeste Überzeugungen" habe, z. B. was die Bestimmung von Mann und Frau ist, dass es Gott gibt oder dass der Mensch kann, wenn er will usw. Ich stosse aber immer wieder auf Menschen, die das Gegenteil behaupten, z. B. das Leben hat keinen Sinn, es gibt keinen Gott, der Mensch ist ein hilfloses und ohnmächtiges Wesen.

 

 

Den andern Menschen achten!

 

Wenn nun andere Menschen andere Ansichten haben als ich, heisst das nicht, dass ich nicht meine eigenen Ansichten haben darf. Im Gegenteil, ich soll eigene Meinungen haben und sie deutlich kundtun, aber ich muss zweierlei wissen:

 

1. dass sie das Ergebnis zahlreicher besonderer Umstände im bisherigen Gang meines Lebens sind und

2. dass, wenn ich das Recht und die Pflicht zur eigenen Meinung habe, auch alle andern Menschen dasselbe Recht und dieselbe Pflicht haben.

 

Noch allgemeiner ausgedrückt: Wenn ich mich als Menschen betrachte, muss ich auch alle andern Menschen als Menschen betrachten. Es gibt nicht nur einen einzigen Menschen, mich, und alle andern wären dann Bösewichte, Trottel, Tiere oder Objekte.

 

Immerhin, die Tendenz gerade dazu, ist bei vielen Menschen vorhanden. Offenbar gehört auch das zum Wesen des Menschen.

 

Aber, wenn wir um diese verhängnisvolle Tendenz wissen, können wir uns, jeder einzelne, darum bemühen, ihr entgegenzusteuern. Was bedeutet das?

 

Den andern als Menschen achten!

 

Dieses Bestreben gelingt nicht immer. Das spricht nicht gegen das Bestreben. Der Mensch ist auch ein strebendes Wesen. Und viele Strebungen sind gegenläufig. Beispielsweise eben die Tendenz, den andern gering zu schätzen oder zu verachten, und die Gegentendenz, den andern zu respektieren.

 

Viele grundlegende Strebungen sind uns bekannt: nach Anlehnung und Auflehnung, nach Anpacken (z. B. Realität bewältigen) und Flüchten (z. B. Rückzug in Tagträume), nach Selbständigkeit und Unterweisung, nach Ruhe und "Action", usw.

 

Also: Der Mensch ist mehr als er von sich und von andern weiss. Es wirken in ihm auch dunkle, unbewusste Kräfte. Er lebt in Wechselbeziehungen zu seiner Umwelt, seien es Objekte, Menschen oder Ideen. Jeder hat das Recht und die Pflicht zu eigenen Überzeugungen. Solange er strebt, sind in ihm gegensätzliche Tendenzen wirksam.

 

Was ich hier fast philosophisch skizziert habe, hat einmal ein weiser Mensch in einer Formel zusammengefasst: "Toleranz heisst, sich selber im andern erkennen".

 

Diese Formel sollten wir uns heute bewusst halten, wenn wir vom ersten Eindruck und vom Zusammenleben in Familie, Alltag und Partnerschaft sprechen.

 

 

Was ist eigentlich Realität?

 

Ein Hörer hat das letzte Mal sehr klug gefragt: Was ist eigentlich Realität? Und er hat die Erkenntnis geschildert, dass ein Kind z. B. ein Zirkuszelt anders sieht als sein Vater. Das Zirkuszelt ist nicht ganz weiss, es hat darauf etwas blaue Farbflecken, oder es sind bläulich schimmernde Schmutzspuren, oder es sind blaue Schatten wegen der unterschiedlichen Neigung der Zeltplanen, oder der blaue Himmel wird von ihnen etwas reflektiert. Vielleicht ist aber auch die Innenseite als Dach über der Arena wie ein Himmelszelt blau angemalt, und diese Farbe schimmert durch den Stoff. Vielleicht hat das Kind aber auch gerade vorher eine blaue Hausmauer angesehen oder zum Himmel geschaut oder früher in einem Malheft ein blaues Zelt gesehen oder gemalt.

Wir wissen nicht, welche der sieben Erklärungen zutrifft, aber fest steht, dass Kind und Vater dasselbe Zelt sehen, jedoch unterschiedliches empfinden und behaupten: "Das Zelt ist weiss", "Das Zelt ist blau".

 

Ich habe dann ergänzt, dass wir noch viel mehr sehen

als das Zelttuch: Masten, Verstrebungen, Nähte, Flecken, Verankerungsseile, Fahnen, aufgemalte Figuren und Schriften, Tafeln, usw. Und ich hätte auch sagen können: Vater und Kind sehen ja noch viel mehr: Zirkuswagen, Vorbauten vor dem Zelt, andere Wagen, Menschenschlangen vor dem Billettschalter, Menschen vor und neben dem Zelt und den Wagen, aber auch Verkehrssignale, Lampenmasten, Oberleitungen von Tram und Bus, dazu Schmutz und Spiegelungen auf der Scheibe, wenn sie das Zelt vom Tram oder Auto aus betrachten, usw.

 

Ein Objekt wahrnehmen ist also ein recht komplizierter Vorgang:

 

1. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf dieses Objekt und nicht auf ein anderes. Und zwar suchen wir entweder nach dem Objekt, weil wir uns vorher schon eine Vorstellung oder Erwartung davon gebildet haben, oder aber es erregt unsere Aufmerksamkeit durch seine Grösse, Farbe, Form oder sonst eine Beschaffenheit.

2. Wir sehen über viele andere kleinere Objekte hinweg, also: wir blenden aus.

3. Wir sehen gar nie das ganze Objekt, sondern unser Blick springt pro Sekunde 3 - 5 Mal hin und her. Unser Auge tastet das Objekt also in Hin- und Herbewegungen ab.

4. Wir nehmen an, dass das Objekt nicht nur eine Attrappe ist, sondern ein richtiges Objekt mit einer Rückseite und Unterseite, also: wir ergänzen, was wir nicht sehen.

5. Wir nehmen an, dass das Ganze nicht nur eine Tarnung ist, sondern eine bestimmte Funktion hat.

6. Das Objekt löst in uns Gefühle aus: Freude, dass wir es gefunden haben oder sehen, oder Erinnerungen oder Wünsche.

 

Was heisst das? Wir sehen zugleich weniger und mehr als was wir sehen. Wir sehen nie nur ein Objekt, sondern ein bestimmtes Objekt in einer bestimmten Umgebung. Wir haben es gesucht oder es fesselt unsere Aufmerksamkeit, erzeugt Gefühle. Und schliesslich fliessen in die Wahrnehmung unsere Sehgewohnheiten und früheren Erfahrungen mit ähnlichen Objekten ein.

 

 

Zum „ersten Eindruck“

 

Dieselben Vorgänge spielen sich nun ab, wenn wir einem Menschen begegnen. Nur ist die Sache da noch viel komplizierter …

 

Damit sind wir zu dem gelangt, was die neuere Psychologie unter den Titeln "interpersonale Wahrnehmung", "verbale und nonverbale Kommunikation" sowie "soziale Interaktion" untersucht. Dabei sind freilich die früheren Ergebnisse der Ausdruckskunde und Gestaltpsychologie, der Charakterkunde und Typenlehre, aber auch der Sinnesphysiologie und Phänomenologie in den Hintergrund gedrängt worden.

 

Auf der andern Seite kranken diese neueren Forschungen daran, dass etwa Bedürfnisse und Absichten, Einstellungen und Erwartungen, Vorstellungen und Ideale schlecht zu erfassen sind, von "inneren Bildern" ganz zu schweigen.

 

 

Beim ersten Eindruck von Menschen findet auch ein Schliessen von der Aussenseite auf das Innere statt. Dabei müssen wir uns wieder das Zirkuszelt vor Augen halten: Wir wissen nicht, was die Ursache dafür ist, dass wir das Zelt blau sehen: Es kann an Farbflecken oder Schatten auf dem Zelt liegen, an der Reflexion des Himmelsblau oder an einem inwendig aufgemalten Himmel, es können aber auch ganz andere Gründe sein: ein Spiegelung auf einer Scheibe, ein Nachwirken von etwas, was wir gerade vorher gesehen haben oder gar eine Erinnerung daran, wie ein Zelt irgendwann und irgendwo einmal ausgesehen hat. Und vielleicht haben wir nur ganz beiläufig hingeschaut, weil unser Interesse von etwas anderem gefesselt war.

Das gilt auch für den ersten Eindruck.

 

 

Fortsetzung siehe:

Die Psychologie der Menschbilder, Teil 5: Wie ich den andern Menschen sehe

 

 

Literatur

 

Helga Bilden: Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Klaus Hurrlemann, Dieter Ulich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim: Beltz 1980.

Heide Hering: Weibsbilder. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1979 (rororo aktuell).

Marielouise Janssen-Jurreit: Sexismus. München: Hanser 1976.

Jürg Willi: Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt 1975.

 

 

VI. Stereotype

 

 

Meine Damen und Herren,

 

Wir haben vor 14 Tagen recht ausführlich über die Wahrnehmung und den ersten Eindruck gesprochen. Dabei haben wir erkannt, dass diese ganz alltäglichen Ereignisse viel komplizierter sind, als wir meinen. Schon das Sehen eines Zirkuszelts ist ein überaus komplizierter Vorgang. Und beim ersten Eindruck haben wir nicht weniger als 12 wichtige Punkte festgehalten.

 

Es wäre nun schön, wenn wir sauber unterscheiden könnten zwischen

·        natürlichen oder notwendigen Vereinfachungen bei der Wahrnehmung und

·        gesellschaftlich oder individuell bedingten Verschiebungen und Umdeutungen.

 

Fortsetzung siehe:

Psychologie der Menschenbilder, Teil 6: Stereotype

 

Eine kurze Zusammenfassung:

 

Stereotype beeinflussen

 

1. einander in Verbindungen (korrelativ):
Wir - die andern
Vorgesetzter – Untergebener
Mann – Frau

2. einander nach Ähnlichkeit (Bündel)

3. Selbstbild, Rollenverhalten, Wünsche

4. Wahrnehmung und Stellungnahmen

5. Verhalten: Meiden, Diskriminieren, Vernichten

6. Gruppenzusammenhalt und -normen

7. Zusammenleben

8. kulturelle Tätigkeiten: Forschung, Kunst, Philosophie

9. Gesellschaftsstruktur und Institutionen

10. internationale Beziehungen
Stabilität         Kontinuität

 

Stereotype betreffen

 

1. Annahmen über
Eigenschaften, Fähigkeiten, Wesenszüge, Unzulänglichkeiten

2. Behauptungen über
Verhaltensweisen

3. Vermutungen über
Bedürfnisse, Interessen, Absichten, Ziele

4. Zuschreibungen von
Position und Lebensraum

5. Zuschreibungen von
Rollen: Aufgaben, Pflichten

6. Erwartungen bezüglich
Funktion und Nutzen

7. Verhaltensregeln für den Umgang

8. Bewertungen

9. emotionale Stellungnahmen

10. Begründungen für 1 – 9

 

 

 

Was erwarten Männer von Frauen und Frauen von Männern?

 

Ich möchte nun nur den Pt. 6., die Funktionserwartungen, herausgreifen.

 

Lassen Sie mich an die Untersuchung anknüpfen, die ich vor 14 Tagen vorgestellt habe. Verheiratete Männer gaben an, welche Gründe zu einer Eheschliessung führen. Abgesehen von der "liebevollen Zuneigung zu einer Frau" (66 %) wurde angegeben:

 

·        Kein Mann ist dauernd gerne allein (66 %)

·        Sie ist die Voraussetzung, um Kinder zu haben (67 %)

·        Der Mann kommt leichter über die Alltagssorgen weg (60 %)

·        Eine Ehefrau sorgt am besten für ein gemütliches Zuhause (59 %)

·        Ein Mann braucht eine Frau, die ihm den Haushalt macht (54 %).

 

Es handelt sich also nicht um Eigenschaften oder Bedürfnisse der Frau, sondern um Erwartungen bezüglich Funktion und Nutzen an die Frau.

 

Wir können dies noch ein bisschen systematisieren. Einerseits unterscheiden wir körperliche (oder materielle), seelische und geistige Funktionen, anderseits die Bereiche Aussenwelt, Heim und Schlafzimmer.

 

Wie Sie sehen, habe ich diese Schemata ausgefüllt.

 

Abb.: Funktionserwartungen

 

Aber beileibe nicht vollständig. Ich habe sie für Sie auf der Rückseite einer Zusammenstellung der soeben erwähnten wichtigen Punkte für Sie kopieren lassen.

 

Nun möchte ich Sie bitten: Versuchen Sie doch einmal zu Hause, diese Schemata weiter auszufüllen, und zwar wie Sie die Sache sehen. Sie können das allein tun oder aber auch mit einem Partner zusammen. Sie können daraus sogar ein Gesellschaftsspiel machen, das immer komplizierter wird.

 

Sie können z. B. je mit einer verschiedenen Farbe eintragen:

 

1. Was Männer von Frauen im allgemeinen und „leider“ erwarten (und umgekehrt).

2. Was Ihr Partner von Ihnen idealerweise erwartet, was Sie von ihm ideal erwarten. Also wie Sie oder er es gerne hätten.

3. Was Sie bereit sind, real zu tun.

 

Ich bin sicher, jeder Punkt könnte Anlass zu Diskussionen, aber auch zum Nachdenken geben.

 

 

Die Erwartungen sind gross und vielfältig

 

Wenn wir nun die Erwartungen betrachten, die ich bereits eingetragen habe, dann können wir dreierlei feststellen.

 

1. Es wird klar, warum unsere Erwartungen an einen und denselben andern Menschen so weit auseinandergehen können. Es handelt sich eben um Funktionen in ganz verschiedenen Bereichen. Und der Mensch lebt nun einmal in verschiedenen Bereichen. Also ist das Stereotyp, das der Mann von der Frau hat, gar nicht widersprüchlich, sondern vielfältig.

Die Frau soll sich in einer Gesellschaft gut bewegen können, sie soll eine gute Hausfrau und Mutter, aber auch eine verführerische Geliebte sein. Das ist nicht widersprüchlich - aber anspruchsvoll. Oft stehen dem viele reale Hindernisse entgegen. Das Haus und tausend Kleinigkeiten sauber und in Ordnung zu halten, erfordert viel Zeit und Kraft. Wie soll da die Hausfrau sich noch als Aushängeschild des Mannes schön machen können, oder fröhlich sein, oder geduldig zuhören, wenn der Mann von seinen beruflichen Sorgen erzählt?

 

Es ist schwer, gewiss. Aber wenn wir uns die Erwartungen an den Mann ansehen, sind sie ganz ähnlich. Soll er doch tüchtig und zärtlich sein, überall Entscheidungen treffen, vernünftig und zuverlässig sein, Verständnis haben und Treue üben.

 

Es ist ein geringer Trost, aber kein unbedeutender: Die Ansprüche an Frau und Mann sind gross und sie sind, sicher mit vielen Nuancen, weit verbreitet.

 

 

Die Bedürfnisse von Mann und Frau sind gleich

 

2. Das führt uns zur zweiten Erkenntnis. Die unterstrichenen Erwartungen tauchen bei Frau und Mann auf. Könnte es etwa sein, dass beide viele Bedürfnisse gleichermassen oder ganz ähnlich haben? Ich bin der Überzeugung, dass dem so ist!

 

Mann und Frau mögen sich in ihrem Erleben und Denken, im Lebensgefühl und Lebensrhythmus durchaus voneinander unterscheiden, aber manche Grundbedürfnisse sind ihnen gemeinsam: der Wunsch nach einem Heim, nach Sicherheit, nach Anerkennung, nach Geliebtwerden und Zärtlichkeit, nach einem Eigenbereich wie nach Eigenständigkeit.

 

Dass es dabei individuelle Varianten gibt, dass im Laufe des Lebens manches verbogen und verdrängt wurde, sei nicht bestritten. Aber grundsätzlich formuliere ich: Die Bedürfnisse von Mann und Frau sind gleich, verschieden sind nur manche leiblichen, seelischen und geistigen Vorgänge.

 

 

Machtkämpfe sind Bilderkämpfe

 

3. Die dritte Erkenntnis geht dahin, dass viele Machtkämpfe in der Pubertät, in der Ehe, aber auch im Wirtschaftsleben und in der Politik offenbar Bilderkämpfe sind. Aus der religiösen Welt kennen wir den Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts und den Bildersturm der Reformation im 16. Jahrhundert.

 

In der Partnerschaft oder Ehe ist es freilich etwas anders. Zwar macht sich der eine Bilder vom andern, wie er ihn gern sähe, aber der andere kann sich dagegen wehren. Er will diesem oder jenem Bild nicht entsprechen, sondern sein, wie er selber sein will.

 

Nun gilt es zu bedenken: Forscher haben herausgefunden, dass man meistens seinen Ideal-Typ heiratet. Das ist recht einleuchtend. Wenn man sich zur Heirat entschliesst, dann ist es gewisser Vorzüge wegen, die man am andern sieht. Das ist das eine. Das andere aber ist: Diese Vorzüge decken gewiss nicht alle neun Bereiche auf unserem Schema ab. Da wir aber stets den ganzen Menschen heiraten und dieser Mensch wie alle Menschen ein grosses Reservoir von unausgeschöpften Möglichkeiten hat, kann ein Ehepaar daran gehen, gemeinsam "Bilderentwicklung" zu treiben. Das heisst also etwa, über dem von mir skizzierten Schema zusammensitzen und nicht sagen: "Nein, das will oder kann ich nicht", sondern zu sagen: "Was können wir tun?"

 

Der erste Schritt besteht darin, wie ich schon das letzte Mal erwähnt habe, die Bilder auf den Tisch zu legen.

 

Es ist schon viel, wenn wir uns überhaupt über unsere Stereotype und über diejenigen des Partners aussprechen können und mit der Zeit ein Bewusstsein für solche Bilder erlangen. Doch das genügt noch nicht. Wir müssen uns fragen, was steckt dahinter und warum will ich das Bild nicht erfüllen? Diese Fragen hängen zusammen.

 

Wenn wir nach den Hintergründen fragen, stossen wir nämlich auf zweierlei: die Urbilder oder archetypischen Bilder einerseits, den Wunsch, dass der Partner das doch zeigen soll, weswegen er "auserwählt" worden ist, anderseits.

 

Zuerst zu den Urbildern:

 

Was steckt hinter dem Dornröschentraum des Mädchens, hinter dem Jungfrau-Bild des Mannes? Die Reinheit, die Unschuld. Wo sind diese zu finden? Unter einem gewissen Blickwinkel vor dem Sündenfall (vgl. Erich Fromm: Haben und Sein, 117-22). Also könnte man folgern: Eigentlich sehnen wir uns ins Paradies zurück. Im Paradies lebten Adam und Eva. Indem sie, verführt von der Schlange, vom "Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen" assen, waren sie ungehorsam gegen Gott. Das ist aber nur das eine, das andere ist der Verrat. Als sich Adam und Eva versteckten, rief Gott: "Adam, wo bist du?" Dieser antwortete, er habe sich gefürchtet, weil er nackt sei. Als Gott fragte, ob er vom Baum der Erkenntnis gegessen habe, antwortete Adam: "Das Weib, das du mir zugestellt hast, das hat mir von dem Baume gegeben; da habe ich gegessen."

 

Adam hat sich also nicht schützend vor Eva hingestellt und die Schuld auf sich genommen, sondern sie verraten (Fromm, 120). Das könnte die Ursache dafür sein, dass die Frau ihren Mann gern als "tapferen Helden" sähe und er selber gerne der "unerschrockene Ritter" wäre.

 

Die Sündenfall-Geschichte zeigt uns also zwei wesentliche Strebungen des Menschen auf: Den Wunsch nach Rückkehr ins Paradies einerseits, der Wunsch nach Kompensation einer männlichen Schwäche anderseits. Sehnsucht und Sühne stecken sicher hinter vielen Ur-Bildern.

 

Der zweite Wunsch

 

betrifft, dass der Partner das zeigen soll, weshalb man ihn "gewählt" hat. Dabei geht es nicht eigentlich um das Zeigen, also dass die Frau sich als Schmuckstück, der Mann als Könner zur Schau stellt. Sondern Mann wie Frau wünschen, dass der Partner für seine besonderen Qualitäten Anerkennung in der Aussenwelt findet. Geschieht dies nicht, stellt jeder auch seine Qualitäten unter den Scheffel.

Ein plumpes Beispiel: Wenn ein Mann im Berufsleben z. B. für seine Intelligenz nicht die Anerkennung findet, die ihm nach Ansicht seiner Frau gebührt, legt sie in der Aussenwelt kein Gewicht auf ein attraktives Äusseres. Und umgekehrt.

 

Man könnte also sagen: Jeder nimmt seine Möglichkeiten zurück, um den andern nicht in den Schatten zu stellen. Das ist verhängnisvoll und führt zu einer ganzen Kettenreaktion von Resignationen.

 

Die Lösung liegt auf der Hand: Man muss seine Möglichkeiten gemeinsam aufbauen und ausbauen, auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene.

 

Das nenne ich "gemeinsame Bildentwicklung": Eine gute Hausfrau und Mutter muss kein Mauerblümchen sein, ein guter Ehemann und Vater muss sich nicht wie ein Kuli am Arbeitsplatz behandeln lassen. Beide können einander helfen, ihre Chancen zu nutzen. Das heisst beileibe nicht, dass die Frau sich nun bunt bemalen oder der Mann seine Ellbogen gebrauchen soll, es geht um etwas Inneres: um eine Schönheit die von Innen her leuchtet, um eine Entschiedenheit, die von Innen her getragen ist. Wovon getragen? Vom Wissen, dass man etwas gemeinsam erarbeitet.. hat.

 

Was hat man erarbeitet? Eine gewisse Ich-Stärke, ein kräftigeres Selbstbewusstsein (vgl. Roland Asanger, 539). Nämlich die Überzeugung: "Ich kann, also will ich!" In der Auseinandersetzung mit Stereotypen erhält jeder Partner die Chance, seine Meinung dazu ehrlich und aus der Tiefe heraus zu sagen. Dabei kann sich die Erkenntnis herauskristallisieren, dass wir vor allem in den Bereichen Sexualität und Körperlichkeit sehr präzise Vorstellungen über die Schicklichkeit des Verhaltens haben (z. B. eine Frau darf nett, aber nicht attraktiv sein).

 

 

Subtilität auch im Umgang mit andern Menschen

 

Aber, dort wo es um den Umgang mit Menschen, mit Kindern beispielsweise, mit Verkaufspersonal, mit Angestellten geht, da ist viel weniger Subtilität und Reflexion vorhanden.

 

Gerade im Zwischenmenschlichen aber werden Menschen geschädigt; durch das Aussehen nicht. Das Aussehen tut nicht weh, es kann höchstens den guten Geschmack verletzten.

Schwäche, Arroganz und Unwissenheit aber können in der Erziehung und im alltäglichen Leben verletzten. Ist dies erkannt heisst es, daran zu gehen, die ursprünglichen gegenseitigen Erwartungen einerseits zu modifizieren, aber auch auszubauen, so dass jeder die Möglichkeit erhält, sie aus eigener Überzeugung so wie er es möchte und beide es sinnvoll finden, zu erfüllen. Das ist eine grosse Aufgabe und bringt eine grosse Arbeit an sich selbst mit sich.

 

Diese Arbeit hört nie auf, sie ändert sich je nach Lebensalter. Das mag betrüblich klingen. Aber wir dürfen auch wissen, dass sich in jedem Lebensalter neue Chancen bieten. Und diese Chancen zu nutzen bedeutet auch, den vielen andern Menschen um uns herum die Chance zu geben, dass sie meine und meines Partners Qualitäten anerkennen können.

 

Wir sehen: Es geht nie nur um die Partner. Sie leben stets in einer grösseren oder kleineren Gemeinschaft, begegnen vielen Menschen. Wenn nun aber bei diesen vielen andern ähnliche Vorgänge ablaufen wie bei uns, dann könnte man das geschilderte Verfahren der "Bildentwicklung" auch ausdehnen auf weniger partnerschaftliche Beziehungen. Dann hiesse das, dass wir auch gemeinsam mit dem Kind, oder dem Direktor, dem Italiener oder dem Kriminellen daran gehen könnten, die gemeinsamen Chancen zu nutzen. Und das Ergebnis wäre in einigen Fällen ein Aufbau von einigermassen ehrlichen Bildern und ein Abbau von Stereotypen.

 

Das ist gewiss nicht leicht. Aber jeder einzelne kann es immer wieder versuchen. In diesem Optimismus der unzähligen Möglichkeiten, die im Menschen stecken, wünsche ich Ihnen einen guten Nachhauseweg.

 

 

VII- Stereotype in der Werbung

 

 

Meine Damen und Herren,

 

Betrachten wir dieses Bild. Zeigt es eine Mitarbeiterin einer Werbeagentur? Kaum. Zeigt es eine Käuferin von Zigarillos? Kaum. Was zeigt es denn? Ein Stereotyp. Die Frau als Lustobjekt.

 

Es wird als sauber unterschieden.

 

Ein zweites Beispiel. Wofür wirbt dieser Mann? Für Schmuck? Nein, für einen Computer? Nein. Er wirbt für Damenbinden.

Das war etwa 1966. Noch 10 Jahre später litten Männer unter Menstruationsbeschwerden, wie dieses Bild zeigt. Die kleingedruckte Begründung: "Weil ihre Frauen darunter leiden. Und mit ihrer Nervosität, Gereiztheit, Angegriffenheit den Partner und die Familie in Mitleidenschaft ziehen". Als braucht die Frau ein Spezialmittel gegen Krämpfe und andere "Begleiterscheinungen".

 

Betrachten wir noch ein weiteres Inserat: Was zeigt es: "Heitere Abende, gemütliche Soupers und glanzvolle Bälle nehmen ihren Anfang." Dazu gehören elegant gekleidete Leute und - ein hervorragender Sekt. Dieses Inserat erschien vor über 70 Jahren.

 

Wir haben also bei den Stereotypen, welche die Werbeleute verwenden, drei ganz verschiedene Arten:

 

- Sex als Blickfang.

- Appell an die Furcht oder das schlechte Gewissen.

- Ansprechen des Bedürfnisses nach Geselligkeit, Glanz, Prestige.

 

Diese drei Punkte gehören zu den wichtigsten in der Werbung:

Sex, Angst vor dem Ungenügen, Prestige. Man kann diese drei auch miteinander verbinden. Etwa in der Anzeige der Basler Werbeagentur GGK: "Söhnlein ist nicht nur ein Sekt für Lebemänner" oder in der Maidenform-Reklame der 50er Jahre: "Mir träumte, ich trüge einen Maidenform ...".

 

Kein Wunder, dass wir als Betrachter nicht gerade eine gute Meinung von den Werbeleuten haben.

 

 

Die Vermarktung der Frau

 

Wie die Frau seit dem Zweiten Weltkrieg vermarktet wird wollen wir uns das nächste Mal etwas näher ansehen. Zur Vorbereitung darauf kann ich Ihnen vier Vorschläge machen:

 

1. Schauen Sie einmal in das rororo-Taschenbuch von Heide Hering "Weibsbilder".

 

2. Versuchen Sie einmal beim Ansehen von Inseraten, Plakaten oder Werbespots herauszufinden, wie und als was die Frau heute dargestellt wird. Sie können als Hilfe dazu die Liste nehmen, die ich Ihnen in der letzten Stunde verteilt habe: die 10 Punkte, was Stereotypen betreffen.

 

3. Überlegen Sie sich, ob es "frauenfeindliche" Werbung gibt. Ich kann Ihnen einen Trick verraten, wie man das herausfindet. Versuchen sie einfach an Stelle der Frau oder des Körperteils einer Frau, einen Mann zu setzen. Und ändern Sie im Text das Wort Frau oder sie in Mann oder er. Ist das Ergebnis läppisch, dann sind Sie auf eine frauenfeindliche Darstellung gestossen.

 

4. Fragen Sie sich, wie die Darstellung von Frauen in der Werbung wohl auf Kinder, auf Buben und Mädchen wirkt.

 

 

Für Mode ist auch der Konsument verantwortlich

 

Mode ist ein sehr kompliziertes gesellschaftliches wie kulturelles Geschehen. Werbung kann nie allein Mode schaffen, sondern sie kann sie sich nur sofort zunutze machen. Sie festigt sie dadurch für eine gewisse Zeit, aber sie muss sich auch beim Abklingen der Mode nach einer andern umsehen.

 

Für Mode ist der Konsument, der Bürger, wenigstens ein Teil davon, gleichermassen verantwortlich wie die Werbung.

 

 

Viele unterschiedliche und entgegengesetzte Bedürfnisse

 

…Gehört es wirklich zum Wesen des Menschen, dass er so viele unterschiedliche und meist entgegengesetzte Bedürfnisse hat? Jawohl. Das gehört zum Menschen. Und was auch noch dazugehört ist wie bei jedem Lebewesen folgendes:

 

1. Die Bedürfnisse variieren im Laufe der Zeit. Wenn wir eines gestillt haben, tritt es für einige Zeit in den Hintergrund. Z. B. nach dem Essen sind wir satt.

 

2. Ein noch nicht gestilltes Bedürfnis erhöht unsere Aktivität. Z. B. Wenn wir Hunger haben, suchen wir nach etwas Essbarem.

 

3. Ein noch nicht gestilltes Bedürfnis bestimmt unser Verhalten stärker als andere Bedürfnisse. Z.B. Wenn wir Hunger haben, interessieren uns viele andere Dinge weniger.

 

4. Bedürfnisse entfalten sich nicht nur von innen her, sondern sie können auch "geweckt" werden. Z. B. Wenn uns der Geruch eines schmackhaften Mahls vor der Essenszeit in die Nase steigt.

 

Diese vier Punkte gelten sowohl für ganz banale Bedürfnisse wie Ernährung, aber auch für seelische und geistige Bedürfnisse.

 

Eine komplizierte Regulation findet zwischen den Bedürfnissen und zwischen den verschiedenen Ebenen im Menschen statt. Diese Regulation ist, je nach Temperament und Lebensgeschichte des Menschen anders, also individuell. Aber nicht so sehr, dass jeder eine andere hätte. Es gibt Menschen mit ähnlichen Regulationen. Diese lassen sich in Typen zusammenfassen. Das sind die Typen, welche die Werbeleute je unterschiedlich anzusprechen versuchen.

 

Daher gibt es Werbung, auf die der eine hereinfällt, ein anderer nicht. Daher gibt es Werbung, die der eine lässig, der andere blöd findet. Wobei überdies zu beachten ist, dass es auch auf den Zeitpunkt ankommt. Es kann geschehen, dass wir dieselbe Werbung gestern morgen gar nicht beachtet haben, heute Abend springt sie uns plötzlich ins Auge.

 

Werbung ist also gar keine so einfache Sache. Zum Glück möchte ich sagen. Zum Glück für die Konsumenten, die so einfach doch nicht zu ködern sind und zum Glück für die Werbeleute, die sich, wie alle Berufsleute, ja alle Menschen, immer wieder anstrengen müssen.

 

Fortsetzung siehe:

Psychologie der Menschenbilder, Teil 7: Stereotype der Werbung

 

 

VIII. Bedürfnisse, Patriarchat, Religion

 

 

Meine Damen und Herren,

 

In der letzten Stunde habe ich von den Stereotypen in der Werbung berichtet. Obwohl das auf den ersten Blick als ein sehr oberflächliches Thema erscheint, sind wir dennoch auf einige ganz tiefe Fragen gestossen, nämlich:

 

1. Was sind eigentlich unsere Bedürfnisse?

2. Ist etwa unsere Gesellschaft oder Kultur patriarchalisch?

3. Gehören auch Religion und Sexualität zu den Gebieten, welche die Eltern als "Weltvermittlung" dem Kind zu vermitteln haben?

 

Ich möchte einiges, was ich im Vortrag ausgeführt habe und was wir in der Diskussion weiter behandelt haben, nochmals etwas detaillierter zusammenfassen.

 

1. Die menschlichen Bedürfnisse

 

Sie erinnern sich, dass ich vor 14 Tagen mit Überzeugung behauptet habe, die meisten grundlegenden Bedürfnisse von Mann und Frau seien gleich. Verschieden seien nur manche körperliche, seelische und geistige Vorgänge, z. B. Erleben und Denken, Lebensgefühl und Lebensrhythmus.

Mann und Frau hätten aber als gemeinsam z. B. den Wunsch nach einem Heim und nach Sicherheit, nach Anerkennung, Geliebtwerden und Zärtlichkeit, nach einem Eigenbereich und nach Eigenständigkeit.

 

Vor einer Woche habe ich erklärt, dass wir keine vollständige Liste aufstellen können, was für Bedürfnisse der Mensch alles hat. Aber es sei auffallend, dass die meisten irgendwie einen Gegensatz bildeten, oder genauer eine Polarität, die man sich als Schaukel (Gigampfi) vorstellen kann. Ganz grob formuliert kann man sagen, dass einander gegenüberstehen oder ausgleichen:

 

·        der Wunsch nach einem Heim, nach Geborgenheit und der Wunsch nach Abenteuer und Freiheit,

·        das Bedürfnis nach Sicherheit und nach Risiko, Wagnis,

·        das Bedürfnis nach Selbstachtung und nach Anerkennung durch andere Menschen,

·        das Bedürfnis nach Geliebtwerden und Gefürchtetwerden,

·        das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und nach Verletzen, Wehtun,

·        das Bedürfnis nach Eigenständigkeit und nach Dabeisein, Mitmachen,

·        das Bedürfnis nach Aktivität und nach Ruhe, usw.

 

Diese gegensätzlichen Strömungen in uns wechseln im zeitlichen Ablauf miteinander ab. Wir müssen die Gelegenheit haben, einmal der einen nachzuleben, ein andermal der andern. Wenn wir diese Chancen nicht haben oder nicht nützen, dann passiert das, was eine Frau an der "Phänomena" beobachtet hat: Auf jeder Seite gibt es zwar Bewegung, aber es ist wie ein hilfloses Strampeln, das keine grosse Bewegung ergibt und beide Seiten zu nichts führt, beide Seiten nicht zufriedenstellt.

So sieht es aber auch in vielen Menschen aus: Sie leben in einer dauernden Gehemmtheit, ja Verklemmtheit, so dass weder das eine Bedürfnis noch das andere je richtig befriedigt wird.

 

2. Unsere patriarchalische Kultur

 

Seit etwa 3000 Jahren ist unsere abendländische Kultur patriarchalisch orientiert. Das findet seinen Ausdruck in der etwa gleichzeitig mit der Entstehung des Königtums in Israel um das Jahr 1000 v. Chr. zuerst mündlich erzählten Geschichte von Schöpfung, Paradies und Sündenfall. Und da finden wir in der 2. Version folgende Aussagen:

"Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch (d. h. Adam) allein sei. Ich will ihm eine Hilfe schaffen, die zu ihm passt". Gott bildete zuerst die Tiere und dann Eva. Nach dem Sündenfall sprach Gott zum Weib: "Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären! Nach dem Manne sollst du verlangen; er aber soll dein Herr sein!" Zu Adam sprach er: "Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist". Und zum erstgeborenen Sohn Adams, zu Kain) sprach er später: "Du sollst Herr werden über die Sünde".

 

Das also ist die Formel des Patriarchats: Die Frau als Hilfe des Mannes, als Mutter, dem Manne zugewandt und ihm untertan. Der Mann aber als Arbeitender, Bebauer der Erde und Ernährer sowie als Erzeuger von Kindern und Herr der Begierde.

Was bald noch als wichtig in der biblischen Menschheitsgeschichte dazukam, darf auch nicht unterschlagen werden: Für die Abstammung sind nur die männlichen Nachkommen massgebend und - die Töchter der Menschen waren schön (Gen. 6,1). Die erste mit Namen genannte schöne Frau war die Ehefrau Abrahams: seine Halbschwester Sara(i), aber sie war unfruchtbar, weshalb Abraham mit seiner ägyptischen Magd Ismael zeugte. Erst als Abraham 100 Jahre und Sara 90 Jahre zählten erhielten sie doch noch einen Sohn: Isaak. Für ihn suchte Abraham das zweite schöne Mädchen aus: Rebekka. Abraham selber nahm sich in seinem hohen Alter noch weitere Frauen.

 

 

3. Die Werbung

 

Die Beschreibung der Werbung das letzte Mal hat uns nicht nur auf die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse gebracht, sondern auch darauf, dass diese zielgruppenspezifisch angesprochen werden. Die Stereotype, welche von den Werbeleuten verwendet werden, spiegeln die in jedem Konsumententyp, Frau wie Mann, wirksamen Stereotype. Die drei wichtigsten Bedürfnisse, die angesprochen werden sind:

 

a) Sex

b) Überwindung von Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühlen

c) Gesellschaft, Glanz, Prestige.

 

In der Diskussion sind wir dann auf die Frage gestossen, ob und wie Elternhaus und Schule den Kindern Aufklärung und Religion zu vermitteln hätten.

 

Wir können naheliegenderweise das Thema Sex mit Aufklärung in Beziehung setzen, aber ebenso Schuld, Gewissen, Minderwertigkeit mit Religion. Und wir haben festgestellt, dass beide Gebiete sehr eng zusammenhängen. Interessanterweise ist nun auch das dritte Thema - Gesellschaft, Glanz, Prestige - eines, das sowohl von Schule wie Elternhaus bei der Weltvermittlung fast vollständig ausgeklammert wird. Und auch es hängt mit Religion wie mit Sexualität zusammen.

 

 

Wer bietet Sexualerziehung, Religionserziehung, Sozialkunde

 

Das mag Sie erstaunen, daher möchte ich es noch etwas begründen. Was ist aus der Diskussion das letzte Mal hervorgegangen: Entweder klärt die Jugend sich selber auf, auf der Strasse, oder die Eltern sollten es, tun oder können es aber meistens nicht.

Es gibt seit Jahrzehnten Bestrebungen, in der Schule "Sexualerziehung" einzuführen. 1980-82 wurden in 29 Klassen des Kantons Zürich Versuche durchgeführt. Auf Grund davon sollen in nächster Zeit Richtlinien für einen solchen Unterricht im ganzen Kanton verabschiedet werden, wobei Dispensation vorgesehen ist. Verschiedene Gruppierungen haben diesem Vorhaben den Kampf angesagt.

 

Ähnliches gilt für die Religionserziehung. Es gibt Eltern, die ihren Kindern weder Dogmen noch Religionsgeschichte vermitteln und dann irgendwann sagen: "Du musst deinen eigenen Weg finden". Andere verlangen: „Du musst das und das einfach glauben, du darfst das und das tun, dieses und jenes aber nicht" - wie es übrigens so häufig auch für den sexuellen, körperlichen Bereich gefordert wird.

 

In der Schule gibt es ein Fach "Biblische Geschichte" (früher auch "… und Sittenlehre"), aber der Lehrer kann es ziemlich frei ausfüllen. Auch hier ist Dispensation möglich.

 

Für den dritten Bereich, den ich einmal "Sozialkunde" nennen möchte, fehlt uns fast ganz das Bewusstsein. Ich befürchte, weder Elternhaus noch Schule leisten auf diesem Gebiet viel Weltvermittlung. Höchstens wiederum in dem Sinne: "Du darfst, und du darfst nicht". Und vielfach die selbe Meinung: "Den Rest sollen die Kinder selber lernen".

 

Diese Auffassung ist bedauerlich, genauso wie in den Bereichen Sex und Glauben. Denn ohne Kenntnisse, Anleitung und Hilfe kann man nicht viel lernen und vor allem, nicht viel Positives.

 

Sozialkunde bedeutet also nicht nur richtiges Benehmen lernen, sondern auch: erfahren warum, erfahren warum die einen etwas dürfen, die andern aber nicht, erfahren auch warum es Strafe gibt, Streit, Verbrechen, Süchte, Terror, Krieg.

 

Und unter vielen solchen Unterweisungen wäre auch das Bedürfnis nach Geselligkeit, Glanz, Prestige zu behandeln: Warum möchten die Eltern am Abend ausgehen, die Mutter ein neues Kleid, der Vater ein neues Auto kaufen? Ich bin überzeugt, wir bleiben den Kindern in den meisten Fällen eine überzeugende Antwort schuldig. Das muss nicht einmal Absicht sein, es kann auch daran liegen, dass wir es selber gar nicht wissen.

 

Das ist bei alledem ein zentraler Punkt: Wissen wir eigentlich über uns selber richtig Bescheid, etwa über unsere Bedürfnisse, über unsere Erwartungen, über unsere Stereotype? Und wissen wir, warum wir von den Kindern strikten Glauben verlangen oder warum wir selber ungläubig sind?

Überzeugte Eltern und Atheisten müssen sich gleichermassen und immer wieder die vor 400 Jahren von Montaigne formulierte Fragen stellen: "Que sai je?"

 

 

IX. Der Mensch als Kulturwesen

 

 

Meine Damen und Herren,

 

Die Diskussion vor einer Woche war vielleicht etwas gar weit ausgreifend, von der Stereoanlage bis zu den Gottessöhnen, vom Brillantring bis zur dummen Frau, von der Erweiterung unseres Horizonts durch die Kenntnis fremder Kulturen bis zum Schweben 10 cm über dem Boden.

 

Wenn auch verwirrend, so waren diese Gespräche doch sehr anregend. Wiederum haben sie mich veranlasst, eingehender darüber nachzudenken und zu versuchen, etwas Ordnung in die Sache zu bringen.

 

Ich möchte davon ausgehen, dass der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist. D. h. er hat manches mit andern Lebewesen gemeinsam, anderes aber ist nur ihm eigen: das Schaffen von Kultur, die Sprache, das Fragen. Und umgekehrt wirkt die Kultur auf ihn zurück, sie prägt ihn.

 

Einige Bedürfnisse und Verhaltensweisen teilt der Mensch mit den Tieren: Nahrung, Sexualität, Brutpflege, Geselligkeit usw. Andere nicht, z. B. Sehnsüchte nach Vergangenem, Erwartung von Wunscherfüllungen, Leistungsstreben, Überspielen von Schwächen, Schuld usw.

 

Nun war meine These das letzte Mal: Viele Bedürfnisse sind allen Menschen, Eskimos, Europäern und Negern, Steinzeitmenschen, den Menschen der Renaissance und uns heutigen gemeinsam.

Dies hat mich dazu gebracht, zu fragen: Ws könnte sonst noch allen Menschen gemeinsam sein? Und ich bin auf zwei weitere Eigenarten gestossen.

 

1.

Die eine wurde von einem Zuhörer erwähnt: die Eigenart nämlich, dass der Mensch kaum in der Gegenwart lebt, sondern Vergangenheit und Zukunft im Fokus hat. Er träumt vom Glück, er erinnert sich an frühere Wunscherfüllungen oder frühere Entbehrungen, er stellt sich die Befriedigung von Wünschen in der Zukunft vor, er sehnt sich nach etwas, er hofft, er glaubt. Die Realität ist für den Menschen gar nicht so wichtig, er schwebt gewissermassen 10 cm über dem Boden. Ich glaube das gilt, in unterschiedlichem Masse, für alle Menschen aller Zeiten.

 

Sigmund Freud hätte gesagt, dass für den Menschen die "psychische Realität" mehr bedeute als die materielle Realität. Und ich finde, es ist schon so: Häufig ist es für uns nicht so wichtig, was wir sehen oder hören, sondern was wir meinen, es kommt nicht so sher darauf an, wie etwas ist, sondern wie wir es gerne hätten.

 

2.

Weitere Eigenarten, die allen Menschen gemeinsam sind, hat der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt gesucht und gefunden: Es handelt sich um elementare Reaktions- und Verhaltensweisen:

 

1. Bewegungen wie das Saugen und Greifen des Säuglings oder Brutpflegehandlungen der Mutter,

2. Ausdrucksbewegungen und -verhalten wie Schreien, Lächeln, Gruss, Unterwerfungs- oder Dominanzgesten,

3. Gefühlsregungen wie Angst vor Fremden, Zorn, Enttäuschung, Freude.

 

Einige davon mögen freilich leicht geschlechtsspezifisch sein, aber nicht sehr. Was auch hieher gehört, ist die Ansprechbarkeit auf sog. "Schlüsselreize", z. B. das "Kindchenschema": runde, kindliche Formen erwecken unsere Sympathie und liebevolle Gefühle.

 

Ich wiederhole zusammenfassend: Alle Menschen haben einige Eigenarten gemeinsam:

·        elementare Bedürfnisse

·        ein weitgehendes Leben in Vorstellungen

·        elementare Reaktions- und Verhaltensweisen.

 

Da der Mensch nun aber auch ein Kulturwesen ist, hat er viele unterschiedliche Kulturen entwickelt und diese haben sich im Laufe der Zeit verändert. Also kann man sagen, elementare Bedürfnisse und Verhaltensweisen und elementares Vorstellungsleben sind historisch und geographisch je unterschiedlich geformt, geprägt. Das Klima kann dabei mitspielen, aber auch der wirtschaftliche Stand, ferner die technischen Hilfsmittel und das Wissen.

 

 

Die Vorstellungswelt

 

… Der Werbemensch benützt die Vorstellungswelt des Menschen, nicht die Realität. Ähnlich macht es auch der Künstler: Er malt z. B. kaum je nach der Realität oder nach einem Modell, sondern nach einer idealisierten Vorstellung, die er sich bildet. Raffael hat das folgendermassen formuliert:

"Um eine Schöne zu malen, müsste ich deren mehrere vor Augen haben. Da es mir an Modellen fehlt, male ich aus dem Gedächtnis nach einer Idee, die ich im Kopfe habe."

 

Ebenso ist bekannt, dass viele Bildhauer und Maler für weibliche Figuren männliche Modelle benutzten, sogar Michelangelo, Carvaccio und Rubens. Am bekanntesten dafür ist Michelangelos Skulptur der „Nacht“ in der Mediceischen Grabkapelle. Es ist ein Mann, dem der Künstler einfach zwei Rundungen angeklebt hat.

 

Und was sieht der Betrachter? Ob er die Gemälde oder Figuren "nur" real sieht, ist fraglich.

In vielen Fällen macht er sich eher eine Vorstellung davon, was der Künstler gemeint hat,  oder er verbindet mit dem Bild eigene Vorstellungen und Gefühle.

 

Das gilt auch für Texte und Vorträge. Der Autor oder Redner hat Ideen in seinem Kopf. Was er zu Papier bringt, ist vielfach nicht das, was er gerne möchte. Und die Leser oder Hörer entwickeln bei der Lektüre oder beim Zuhören ihre Vorstellungen.

 

Bei Inserat, Bild oder Text, bei einem Werbespot, Plakat oder Vortrag, bei einem Roman oder Artikel ist also das was real, materiell vorliegt, gar nicht so wichtig, sondern Vorstellungen, die sich mit der "physikalischen Reizkonfiguration" verbinden.

 

Wir könnten, aber das nur nebenbei, sogar noch weiter gehen und behaupten, sogar wenn wir einen realen Menschen sehen, interessiert er uns gar nicht so sehr als Person, sondern als Objekt unserer Vorstellung. Der andere Mensch ist wichtig in seiner Funktion für die Befriedigung irgendwelcher Bedürfnisse, die wir haben. Im Extremfall heisst das, der Mensch zielt mit seinem Sinnen und Trachten immer haarscharf an andern Menschen als Menschen vorbei.

 

Zweitens muss ich darauf hinweisen, dass die Bilder, die ich ausgewählt habe, sehr speziell sind. Es decken sich nämlich nicht nur die Stereotypen, die ich herausgreife, sondern auch die bildhaften Darstellungen.

 

 

 

… Ich habe nun zu einigen Bildern der Werbung Bilder aus der Vergangenheit gesucht, die vor allem bezüglich Situation, Gestalt oder Lage der Frau bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen. Ich muss aber nochmals betonen, dass ich auch andere Bilder hätte auswählen können.

früher                                                             heute

Manesse Liederhandschrift (1320)             Mann am Strand (Postkartenverlag Toumbis, Athen) H

Prager Dom: Triforiumsbüste:

Anna von Schweidnitz (1374/78)                „Echt Frau“ (1980) S

Très Riches Heures Duc de Berry (1416)  Motorradbraut (1979) H

Lukas Moser:

Tiefenbronner Altar (1431/2)                        Paar (1976) H, S

Raffael: Madonna (1507)                              Hausfrau (1984)

Tizian: Danae (1554)                                    Frau mit Zigarillos (1978) S

Mann trägt Frau (1604)                                 Mann trägt Frau (1979) H

Bernini: Entrückung der hl. Teresa (1650)  Verzückte (1968)

Hogarth: The Rake’s Progress (1735)        „MM“ Sekt (1980) S

Liotard: Schokoladenmädchen (1744)       Chefsekretärin (1984)

Richard Houston: Astronomy (ca. 1750)     Blumenmädchen (1976) H, S

Pullover (ca. 1850)                                         Pullover (ca. 1950)

Arnold Böcklin: Triton und Nereide (1875)  Mann mit liegender Frau (1978) H

 

(H = aus Heide Hering: Weibs-Bilder. Zeugnisse zum öffentlichen Ansehen der Frau. Ein hässliches Bilderbuch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1979; aktualisierte Neuauflage 1987.

S = aus Christiane Schmerl: Frauenfeindliche Werbung. Sexismus als heimlicher Lehrplan. Berlin: Elefanten-Press 1980: Reinbek: Rowohlt 1983)

 

Was ich damit zeigen möchte, ist folgendes:

 

Die Stereotype, die sich in diesen Frauenbildern zeigen, sind altes Kulturgut. Sie sind nicht von der Werbung erfunden, sondern nur benützt worden. Und was geben sie Ausdruck: einem patriarchalischen Weltbild.

 

Ich hätte dasselbe auch an Bildern von Männern durchexerzieren können. Das möchte ich Ihrem Spürsinn überlassen. Ich habe aber auf der Zusammenstellung, die sie auf dem Blatt mit den Zusammenfassungen erhalten haben, Hinweise gegeben, wie das jeweils ungefähr entsprechende Männer-Stereotyp zu bezeichnen wäre.

 

Noch ein Wort zu dieser Liste. Die ersten 7 Punkte habe ich einem Buch von Christiane Schmerl mit dem Titel "Frauenfeindliche Werbung" (1980) entnommen. Ich bin dann aber bald zu weiteren gelangt und bin überzeugt, dass sich die Liste noch weiter fortsetzen liesse.

 

 

X. Vorbilder

 

 

Meine Damen und Herren.

 

In den vergangenen Stunden hat sich immer wieder gezeigt, dass das Thema "Menschenbilder" nicht nur ein psychologisches Thema, sondern viel mehr noch ein philosophisches Thema ist. Wir haben das Thema von verschiedenen Seiten angepackt und sind immer wieder auf eines gestossen, nämlich auf das Nachdenken darüber, was in unserem Kopf vorgeht, was wir eigentlich wollen und was der Mensch sei.

 

Das ist richtig so. Unsere gemeinsamen Bemühungen können zu nichts anderem führen als zum Nachdenken über uns selber. Das ist das wichtigste Ziel von Psychologie wie Philosophie.

 

Sie waren vielleicht erstaunt, dass ich so wenig Rezepte gegeben habe. Ich habe nur allgemeine Forderungen angemeldet, etwa:

 

• Eltern (Vater und Mutter) haben als wichtigste Aufgabe gegenüber ihren Kindern die Weltvermittlung. Diese Weltvermittlung besteht unter anderem in dreierlei:

1. die sowohl gefühlshafte wie sachliche Einführung in den Umgang mit Dingen, Menschen und Ideen;

2. den Entwicklungsstufen des Kindes entsprechende Förderung aber auch Forderungen;

3. Mithilfe bei der Interpretation der verschiedenen Einflüsse von
- Schule und Lehre
- Gruppen Gleichaltriger
- Medien und Werbe-Mittel.

 

• Eltern sollen mit ihren Kindern gemeinsam lernen; diese Auffassung von Partnerschaft als Miteinander gilt auch später für Ehe und Beruf.

 

• Erwachsene ganz allgemein sollen zur Erkenntnis gelangen, dass in jedem Einzelnen viel mehr steckt als er meint, z. B.

- ein Schatten mit den negativen Seiten, die man nicht wahrhaben will,

- eine gegengeschlechtliche Seite mit ihren Vorzügen und Schwächen,

- eine Fülle von Kräften und Möglichkeiten, die man noch lange nicht ausgeschöpft hat.

Diese inneren Seiten und Kräfte gilt es, sich bewusst zu machen und zu entwickeln, so dass jeder ein ganzer Mensch wird und damit seine Persona flexibler machen und seine Projektionen etwas zurücknehmen kann.

 

• Erwachsene sollten sich auch Gedanken darüber machen, wie sehr sie in Vorstellungen leben, dass sie z. B.

- Funktionserwartungen an ihre Partner haben, die auf jahrhundertealten Stereotypen beruhen,

- dass sie daher im Gegenüber eher ein Objekt für Ihre Bedürfnisbefriedigung sehen als einen Menschen,

- dass sie viel häufiger träumen, glauben, hoffen als die Realität, wie sie ist, wahrzunehmen.

 

• Ferner habe ich einige ganz allgemeine Behauptungen aufgestellt:

·        Es könnte alles auch ganz anders sein.

·        Niemand ist gegen Irrtum gefeit.

·        Manches ist viel komplizierter, vielfältiger und auch verwirrender als wir meinen.

 

• Und schliesslich habe ich einen Hinweis gegeben, was wir bei aller Skepsis, aber auch beim Festhalten an unseren Überzeugungen tun sollen und können: nämlich echt, ehrlich und ehrenhaft sein.

 

Das sind gewiss nicht die Rezepte, welche die Psychologie in populären Zeitschriften und Büchern zu verbreiten pflegt. Es sind schon fast philosophische Gedanken. Und auf diese kommen wir, wie gesagt, immer wieder, wenn wir uns mit dem Menschen befassen.

 

Dieses Vermeiden von handfesten Rezepten oder Orientierungsmarken ist auch der Grund, weshalb ich bis jetzt nicht vom Vorbild gesprochen habe.

 

Fortsetzung siehe:

Psychologie der Menschenbilder, Teil 9: Vorbilder

 


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