HomeDie Psychologie der Menschenbilder

 

Siehe auch: Menschenbilder in Staat und Wirtschaft

Literatur:

            Menschenbilder allgemein I und Teil II

            Modelle in der Psychologie

            Rationalität/ Homo oeconomicus/ Annahmen und Menschenbilder in der Ökonomie

            Der Kampf gegen Unwissenheit und Vorurteile

            Frauen-Stereotype und Sex in der Werbung

 

 

Auskopplungen aus einer Vorlesungsreihe an der Volkshochschule, Mai-Juli 1984

ca. 57 Seiten

Mit einiger Literatur im Text

 

 

Inhalt

 

Teil 1: Bilder und Vorurteile

Teil 2: Die Bildung der Vorstellungen beim Kind

Teil 3: Schulzeit und Pubertät

Teil 4: Die Selbstwerdung des Erwachsenen

Teil 5: Wie ich den andern Menschen sehe

Teil 6: Stereotype

Teil 7: Stereotype in der Werbung

Teil 8: Glauben, Wissen und "öffentliche Meinung"

Teil 9: Vorbilder

 

 

Menschenbilder, das ist eine faszinierendes Thema, wie alle Themen uferlos, kompliziert und wichtig für unser Leben.

Es gehört nicht nur zur Psychologie, sondern zu den Gegenwartsfragen, zur Religion und Philosophie. Menschenbilder finden wir in Literatur und Kunst, in der Geschichte, im Recht und in der Wirtschaft.

...

 

Definition:

Menschenbilder sind Vorstellungen, die sich der Mensch von einzelnen Menschen - also auch von sich selbst -, von mehreren Menschen und von "dem" Menschen macht.

Es sind Vorstellungen darüber, was der Mensch ist, kann und soll.

...

Teil 1: Bilder und Vorurteile

 

Leben wir denn nur in Bildern?

 

 

Menschenbilder dürfen nicht als isolierte Bestandteile, Faktoren oder Instrumente der Weltdeutung und -orientierung gesehen werden. Es gibt auch zwei andere Gruppen von Bildern, welche unsere Weltdeutung bilden und leiten, nämlich Weltbilder und Gottesbilder.

Diese drei Bildarten hängen miteinander auf vielfältige Weise zusammen und bestimmen auch andere Bilder wie natur- und Geschichtsbilder, Gesellschafts- und Staatsbilder.

 

Ob der "Untergang des Abendlandes" (Oswald Spengler, 1918) oder "Vermassung und Kulturverfall" (Hendrik de Man, 1951) diagnostiziert wird, ob der Mensch als "Krone der Schöpfung" oder "grössenwahnsinnig gewordene Raubaffenspezies" (Theodor Lessing) betrachtet wird, ob behauptet wird, "Arbeit macht frei" oder der Staat sei der "grosse Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott" (Thomas Hobbes) - immer sind solche Formeln und Aussagen Ausflüsse von Welt-, Gottes- und Menschenbildern. Das gilt auch für Behauptungen wie: "Gott ist tot" (Friedrich Nietzsche), "L'état, c'est moi" (Ludwig XIV.) oder "Gut ist, was mir nützt".

 

"Leben wir denn nur in Bildern?" können Sie fragen. Gewiss nicht, aber sehr vieles was der Mensch erlebt und schafft geschieht in Bildern und besteht aus Bildern. Denken Sie nur an Schlafträume und Tagträume, an Spaziergänge oder Gespräche, an Lektüre und an das Fernsehen, an Sprichwörter oder Kunstwerke.

 

Dabei ist zu beachten, dass es sich keineswegs immer um "Bilder" im gewöhnlichen Sinne handeln muss, also um Bildwerke, Photographien, Phantasiefiguren oder Konstruktionen. Wir haben ja Menschenbilder als Vorstellungen definiert. Vorstellungen können nun bildhaft oder aber unanschaulich sein, dazu sehr präzise oder vage, einfach oder kompliziert, mit Gefühlen und Stimmungen verbunden, mit Worten und Taten auch. Die Bildhaftigkeit ist nur die hauptsächlichste Ausdrucksform der Vorstellungen und eine hervorragende Weise, uns darüber zu verständigen.

 

So sind auch Weltbilder Vorstellungen, wie und woraus die Welt zusammengesetzt ist, wie sie funktioniert und sich uns erschliesst. Gottesbilder sind Vorstellungen über das Wirken und Walten einer Macht; die höher ist als das menschliche Streben und Erkennen. Und Menschenbilder sind Vorstellungen darüber, was der Mensch ist, was er kann und was er soll.

 

Wer hat was für Bilder?

 

Statt von Vorstellungen können wir auch von Haltungen und Einstellungen, Ansichten und Meinungen, Überzeugungen und Vorurteilen, Einschätzungen und Erwartungen, ja von Mentalität und Ideologie sprechen. Manche Psychologen haben versucht, diese Funktionen voneinander abzugrenzen, aber mit wenig Erfolg.

Bedeutsamer ist da schon die folgende Differenzierung: Einstellungen oder Vorurteile können auf erkenntnismässige (kognitive), gefühlsmässige (affektive) und verhaltensbezogene (conative) Anteile untersucht werden. Das heisst, Bildhaftes ist stets mit Bewertungen und Gefühlen, Erwartungen und Absichten verbunden.

 

Wir fragen uns nun: Wer hat Menschenbilder? Der Mensch. Doch diese Antwort ist zu unbestimmt. Daher fange jeder bei sich selber an:

 

1. Ich, ganz persönlich. habe Vorstellungen über den Menschen, und zwar eine ganze Reihe: Vorstellungen von "dem" Menschen überhaupt, von bestimmten Menschengruppen, von einzelnen Menschen meiner Umgebung und schliesslich von mir selber.

 

2. Dasselbe gilt auch für alle andern Menschen. Jeder hat ganz allgemeine und ganz spezifische Vorstellungen.

 

3. Mit einiger Vorsicht kann man diese Thesen verallgemeinern und sagen: Eine Menschengruppe, z. B. Politiker, alte Menschen oder Italiener, haben Vorstellungen über "das Wesen des Menschen" oder bestimmte Zeiten und Kulturkreise haben solche Vorstellungen, z. B. das Christentum, die Naturvölker, das Abendland, das Rokoko. Oder noch anders: die Evolutionstheorie um 1900, die Soziologie der Chicagoer Schule oder die generative Linguistik. Sie alle basieren auf Menschenbildern oder formulieren solche.

 

Kehren wir zurück zum Individuum. Hier unterscheidet die Sozialpsychologie seit längerer Zeit neben dem mehr oder weniger allgemeinen Menschenbild das sogenannte Selbstbild vom Fremdbild. Selbstbild wie Fremdbild haben mindestens je drei Facetten:

 

a) Das Selbstbild enthält folgendes:

1) wie ich mich selber sehe oder einschätze,

2) wie ich gerne gesehen werden, sein oder erscheinen möchte, und

3) wie ich meine, dass die andern mich sehen.

 

b) Analog dazu umfasst das Fremdbild folgende Komponenten:

1) wie ich einen oder mehrere andere Menschen sehe und beurteile,

2) was ich von andern Menschen erwarte, und

3) was ich über deren Selbstbilder meine.

 

Dies ist nur grob skizziert,. Doch es ist bereits recht kompliziert.

 

Es wird noch komplizierter, wenn man, wie das ursprünglich geschah, Gruppen statt Individuen betrachtet. Der Publizist Walter Lippmann führte 1922 für Gruppen-Vorstellungen den Begriff "Stereotyp" ein. Was wir unter "Wir" verstehen hiess fortan "Autostereotyp", was wir den anderen ("Die") zuschrieben: "Heterostereotyp".

 

Was wissen wir über Vorurteile?

 

Die Untersuchung solcher Stereotype hat unter dem Titel "Vorurteilsforschung" zwar einige interessante Ergebnisse gebracht, aber nicht das, was man erwartete. Die sozialpsychologische Untersuchung von individuellen Menschenbildern ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang gekommen, sie läuft unter dem Titel "interpersonale Wahrnehmung" oder "interpersonale Attraktion".

 

Zu den erstaunlichsten Ergebnissen gehören wohl folgende:

 

1. Da Vorurteile meist sehr hartnäckig sind, hat man gerne angenommen, es stecke in ihnen ein "Körnchen Wahrheit". Zahlreiche Untersuchungen lassen aber daran Zweifel aufkommen (Bernd Schäfer, Bernd Six, 1978, S. 62-66).

 

2. Auch die sogenannte "Sündenbocktheorie" konnte nicht bestätigt werden, also die aus Frustration herrührende Verschiebung der eigenen Aggression gegen Andere (S. 123-125, 178ff).

 

3. Vorurteile werden irgendwie gelernt, aber sie sind kaum veränderbar (S. 257-294), z. B. weder durch Information oder Kontakt - ausser in ganz bestimmten Fällen, wie man bei solchen Ergebnissen stets anfügen muss.

 

4. Sowohl bei Gruppenvorurteilen wie bei individuellen spielen das Selbstbild (vgl. auch Jürgen Jahnke, S. 64f, 106, 116) und der soziale Status (Schäfer, Six, S. 14f, 218, 281-290, 292; Jahnke, S. 114) eine recht bedeutsame Rolle. So kommt eine Forscherin zum bemerkenswerten Schluss: "Je begehrenswerter sich ein Mann vorkommt, desto attraktiver wird die Frau sein, die ihm seinem Gefühl nach zusteht" (Elaine Walster et al., S. 206). In dieselbe Richtung weist eine andere Behauptung: "Menschen suchen ... Personen, die ihren Idealen entsprechen; ob diese dann als ähnlich oder komplementär wahrgenommen werden, hängt weitgehend von der Selbstzufriedenheit der Menschen ab" (Bernard J. Murstein, S. 185).

 

Im Moment ist für uns an diesem Selbst- und Fremdbildern zweierlei interessant.

1. Sie spielen bei Beziehungen zwischen Menschen eine Rolle.

2. Sie hängen mit Vorgängen wie "'sehen", "einschätzen" und "beurteilen", "meinen" und "erwarten" zusammen.

 

...

 

Erstaunlich ist, dass es kaum stichhaltige Untersuchungen über den Zusammenhang von Vorurteilen (oder Menschenbilder) mit tatsächlichem Verhalten gibt. Und meistens wurden nur Verhaltensabsichten erfasst, die nicht unbedingt mit tatsächlichem Verhalten in Übereinstimmung stehen mussten. "Nach den vorliegenden empirischen Untersuchungen", heisst es daher in einer neueren Zusammenfassung (Bernd Schäfer, Bernd Six, 1978, S. 231), "ist es ... illusionär zu glauben, die Kenntnis der Ausprägung von Vorurteilen wäre ausreichend, um eindeutig Verhalten in Form von Diskriminierungen vorauszusagen". Zumindest Kenntnisse von soziokulturellen und Situationsvariablen wären vonnöten (S. 245).

 

Was die "zwischenmenschliche Anziehung" betrifft, so sind die Ergebnisse auch nicht viel erhellender. Sie laufen meist auf eine Tautologie hinaus: z. B. zu Personen, die man sympathisch findet, fühlt man sich mehr hingezogen oder: sympathische Personen werden positiver und nachsichtiger beurteilt.

Und was das tatsächliche Verhalten anbelangt, so gibt es Hinweise, dass Menschen, die man mag, eher nachgeahmt werden und ihnen gegenüber Hilfsbereitschaft und Bereitschaft zur Zusammenarbeit grösser sind (Gerold Mikula, 1977, S. 29-30).

 

Ähnlich unbefriedigend sind schliesslich auch die Untersuchungen darüber, wie Menschenbilder oder Stereotype unsere Wahrnehmungen beeinflussen. In den fünfziger Jahren hat man es mit folgenden Ansätzen versucht: Statt von Menschenbild sprach man

von "impliziten Persönlichkeitstheorien" (Lee J. Cronbach, 1955; Jerome S. Bruner und Renato Tagiuri,1954),

von "kognitiver Komplexität" (George Alexander Kelly, 1955)

und "Attribuierung" (Fritz Heider, 1958) einerseits,

von "kognitiver Dissonanz" (Leon Festinger, 1957)

und "Austausch-" oder "Ausgewogenheits-Prinzip" (equity; John W. Thibaut und Harold H. Kelley, 1959; George Caspar Homans, 1961; Peter Michael Blau, 1964)

andererseits.

"Auch hier bestätigt sich die Erfahrung", heisst es in einer kritischen Zusammenfassung (Jürgen Jahnke, 1975, S.123), "dass die Empirie zumeist mehr Fragen aufwirft als sie Antworten liefert".

 

Fazit: Wir können zwar vieles über Bilder, Vorurteile, Einstellungen usw. sagen und schreiben, aber wir wissen recht wenig davon Wir müssen uns mit Vermutungen begnügen. Die wichtigste Vermutung dabei ist, dass hinter so vielem, was der Mensch meint und tut, unter anderem Menschenbilder stecken.

 

Literatur

Gordon W. Allport: The Nature of Prejudice. Cambridge, Mass.: Addison-Wesely 1954;
dt.: Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971.

Michael Argyle, Peter Trower: Person to Person. Ways of Communication. Holland: Multimedia/ London: Harper & Row 1979;
dt.: Signale von Mensch zu Mensch. Die Wege zur Verständigung. Weinheim: Beltz 1981.

Peter Michael Blau: Exchange and Power in Social Life. New York: Wiley 1964; zahlreiche Aufl. bis New Brunswick: Transaction Publications 2008.

Jerome S. Bruner, Renato Tagiuri: The perception of people. In G. Lindzey (Hrsg.): Handbook of Social Psychology. 1954.

Lee J. Cronbach: Processes affecting scores on 'understandig of others' and 'assumed similarity.' Psychological Bulletin 52, 1955, 177-193.

K. D. Hartmann (Hrsg.): Vorurteile. Ihre Erforschung und ihre Bekämpfung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, Reihe Politische Psychologie Bd. 3, 1964.

Peter Heintz: Soziale Vorurteile. Ein Problem der Persönlichkeit, der Kultur und der Gesellschaft. Köln: Verlag für Politik und Wirtschaft 1957.

George Caspar Homans: Social Behavior: Its Elementary Forms. New York: Harcourt, Brace World/ London: Routledge & Paul 1961; mehrere Aufl. bis 1974;
dt.: Elementarformen sozialen Verhaltens. Köln: Westdeutscher Verlag 1968; 2. Aufl. 1972.

Jürgen Jahnke: Interpersonale Wahrnehmung. Stuttgart: Kohlhammer, Urban Taschenbuch 213, 1975.

George Alexander Kelly: A theory of personality. The psychology of personal constructs. New York: W. W. Norton 1955, erneut 1963; Nachdruck London: Routledge 1990; mehrere Aufl. bis 2000;
dt.: Die Psychologie der persönlichen Konstrukte. Padermann: Junfermann 1986.

Gerold Mikula, Wolfgang Stroebe (Hrsg.): Sympathie, Freundschaft und Ehe. Psychologische Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen. Bern: Huber 1977..

Uta Quasthoff: Soziales Vorurteil und Kommunikation - Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1973.

John W. Thibaut, Harold H. Kelley: The social psychology of groups. New York: Wiley 1959, mehrere ed. bis New Brunswick, N. J.: Transaction Publications 1991.

Bernd Schäfer, Bernd Six: Sozialpsychologie des Vorurteils. Stuttgart: Kohlhammer, Urban Taschenbuch 207, 1978.

 

 

 

 

Teil 2: Die Bildung der Vorstellungen beim Kind

 

Entwicklungsstufen der ersten 20 Lebensjahre

 

Wie entstehen Menschenbildern im Lebensgang des einzelnen Menschen? Bekannte Behauptungen der neueren Tiefen- und Entwicklungspsychologie besagen, das erste Lebensjahr des Menschen und die Mutter-Kind-Beziehung seien das wichtigste. Dem möchte ich die folgende Gegenthese entgegenhalten: Nicht nur das 1. Lebensjahr, sondern die ersten 20 Lebensjahre sind die wichtigsten. Säuglingszeit, Kindheit, Pubertät und Adoleszenz sind. zwar von unterschiedlicher Bedeutung, aber gleich wichtig.

Und genau so wichtig wie die Mutter-Kind-Beziehung ist die Vater-Kind-Beziehung. Wir leben zwar, wie es Alexander Mitscherlich 1966 formuliert hat, in einer "vaterlosen Gesellschaft" aber das heisst nicht, dass das gut sei. So wenig wie die Mutter, so wenig ist der Vater für ein Kind ersetzbar.

 

Lassen Sie mich vorerst einige wichtige Entwicklungsstufen der menschlichen Entwicklung skizzieren. Eine Fülle von Angaben bis zum 6. Lebensjahr enthält das reich bebilderte Buch von Stefan Herzka: Es trägt den Titel "Das Kind von der Geburt bis zur Schule" (1972 [7. Aufl. 2001]). Ein ähnlicher Bildband für die nächsten 14 Lebensjahre, die, wie ich betonen möchte, eben so wichtig sind, ist mir leider nicht bekannt.

 

Ganz grob gesehen kann man 5 Abschnitte unterscheiden:

Die Säuglingszeit (das 1.Lebensjahr)

Die Kinderzeit:

            Das Kleinkindalter (2.-6.Lebensjahr)

            Das Schulalter (6.-12.Lebensjahr)

Das Jugendalter:

            Die Pubertät (12.-16. Lebensjahr)

            Die Adoleszenz (16./18.-20./22.Altersjahr).

 

...

Die Bildung des Über-Ichs nach Sigmund Freud

 

Betrachten wir nun etwas genauer, was im Kind passiert. Unter den vielen Theorien, die es darüber gibt, möchte ich zwei herausgreifen: Die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die genetische Entwicklungspsychologie des Welschschweizers Jean Piaget; beide verbinde ich mit anderen Erkenntnissen.

 

Nach Freud lebt das Neugeborene völlig im und vom "Es". Seine "Welt" ist noch eine ganzheitliche, ungeschiedene. Erst in der 2. Hälfte des 1. Lebensjahres beginnt das kleine Wesen zwischen sich und der Aussenwelt zu unterscheiden, insbesondere die Mutter (oder eine andere Betreuungsperson) als sogenannte "Bezugsperson" von andern Personen zu unterscheiden. Daraus ergibt sich eine Angst vor Trennung, die sich im sogenannten "Fremden" etwa im 8. Monat äussert. Man kann diesen Zeitpunkt auch als ersten Anfang des "Ich" betrachten.

Ungefähr im Alter von 1 Jahr kann das Kleinkind die ersten Wörter sprechen und verstehen und es beginnt zu gehen. Etwa mit 2 Jahren spricht es von sich selbst als "ich" und beginnt bereits Vater oder Mutter zu spielen. Die Ich-Entwicklung geht nun zügig weiter, ist verbunden mit pausenlosem Fragen "Was ist das?" einerseits, mit der Bekundung des eigenen Willens "ich will"  oder "ich will nicht" anderseits. Die Trotzphase setzt ein.

 

Mit 3 Jahren ist das Kleinkind schon ein richtiges "Persönchen". Es verfügt also bereits über eine Art Selbstbewusstsein, gleichzeitig werden die Rollenspiele immer intensiver. Nachahmung und dramatisches Ausdrucksverhalten nehmen zu. Das Kleinkind weiss aber zwischen Spiel und Realität zu unterscheiden. Es interessiert sich auch für Ehe und Heirat. Es möchte einmal den gegengeschlechtlichen Elternteil heiraten.

 

Die Freudsche Auffassung dieser sogenannten phallischen Phase vom 4.-6. Lebensjahr scheint mir fragwürdig. Daher möchte ich nicht auf Kastrationsangst und Penisneid respektive Ödipus- und Elektrakomplex eingehen.

Von Interesse scheint mir aber die Vermutung, dass sich etwa im 6. Lebensjahr - wie Freud sagt "als Erben des Ödipuskomplexes" - das Über-Ich zu bilden beginnt. Es entsteht, indem sich das Ich die Eltern-Autorität einverleibt oder "introjiziert".

Es hat mehrere Funktionen:

·        Es ist ein Ideal des Ich, das sich aus dem Vorbild der Eltern, aber auch aus Ge- und Verboten ergibt. Es bildet damit den Massstab für die künftige Selbstbewertung.

·        Zweitens ist es eine überwachende und kritische Instanz, welche unser Verhalten genau beobachtet und analysiert.

·        Und drittens gibt es Anweisungen, was in einer bestimmten Situation zu tun oder zu unterlassen ist.

 

Bedeutsam ist, dass das Über-Ich nicht zwischen tatsächlichen Handlungen und blossen Vorstellungen unterscheidet. Ob tatsächlich oder nur gedacht und gewünscht - bei Zuwiderhandlungen gegen Verbote, Übertretungen von Geboten und Nichterfüllung von Ideal-Normen ergeben sich Schuldgefühle und gar Strafbedürfnisse.

 

Nun wird das Über-Ich nicht nur aus dem strengen Teil der Eltern in einem selber gebildet. Freud hat (1933) mit einem Kunstgriff auch die ganzen kulturellen und sozialen Normen ins Über-Ich hineingeholt. Er sagt, dass "das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut" wird. Und zwar, weil die Eltern ihre eigenen Idealforderungen, die sie selbst in der Auseinandersetzung mit ihren Erziehern erworben haben, an das Kind herantragen.

 

So erfüllt sich das Über-Ich "mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben". Darum, meint Freud, lebt der Mensch und die Menschheit nie ganz in der Gegenwart. "In den Ideologien des Über-Ich lebt die Vergangenheit, die Tradition der Rasse und des Volkes fort, die den Einflüssen der Gegenwart, neuen Veränderungen nur langsam weicht".

 

Literatur

 

Ludwig Marcuse: Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Hamburg: Rowohlt 1956. München: Kindler 1964, Zürich: Diogenes 1972.

Gustav Bally: Einführung in die Psychologie Sigmund Freuds. Mit Originaltexten Freuds. Reinbek: Rowohlt 1961, bes. S. 89 (zuerst im Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Bd. III, 1958).

David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Versuch einer Systematik. Stuttgart: Klett, ca. 1962
(engl. in S. Koch, Hrsg.: Psychology - A Study of a Science, Study I, Vol. 3, 1959).

Richard Wollheim: Sigmund Freud. London: Collins 1971;
dt.: Sigmund Freud. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972.

Hans Kunz: Grundfragen der psychoanalytischen Anthropologie. Ausgewählte Abhandlungen. Hrsg. von Heinrich Balmer. Göttingen: Verlag für Medizinische Psychologie im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 1975.

 

Verwandte Auffassungen bei Soziologen

 

Dasselbe Phänomen hat der französische Soziologe Emile Durkheim um die Jahrhundertwende als "kollektives Bewusstsein" beschrieben. Es ist etwas, was über das einzelne Individuum hinausgeht und es sowohl mit seinen Mitmenschen wie mit der gemeinsamen Vergangenheit verbindet.

Ähnlich, wenn auch eher mit Betonung der Vergangenheit, hat der Zürcher Psychiater C. G. Jung vom "kollektiven Unbewussten" gesprochen.

 

Mehr die Gegenwart betrachten wiederum die Soziologen seit der Jahrhundertwende. Charles Cooley hat die Persönlichkeitsbildung als Auseinandersetzung mit dem "Spiegelbild-Ich" aufgefasst. Der werdende Mensch hat keine andere Möglichkeit, sich selbst zu sehen, als in den Augen der andern um ihn herum, in ihren Reaktionen auf sein Verhalten, die ihm sein Spiegelbild vorhalten. Der Mensch lernt also sich selber sehen, indem er seine "Wirkung auf andere" beobachtet. Da er aber nun von den andern Anerkennung, Lob und Liebe zu erhalten sucht, muss er das tun, was sie von ihm erwarten - soweit er das begreift und sich vorstellen kann.

Diese Vorstellung nannte der Soziologe George Herbert Mead den "verallgemeinerten Andern" (the generalized other). Im Gegensatz zu Freuds "Über-Ich" hat dieser verallgemeinerte Andere als soziale Kontrollinstanz in mir eine verlockende Stimme, die sagt, was ich tun oder lassen muss, um Lob und Beifall zu erringen, während das Über-Ich eher verbietet und anklagt.

 

Alle diese Forscher sehen das Werden der Persönlichkeit nicht als blosse Entfaltung oder Reifung eines im Keim schon vollständig vorhandenen Wesens an, wie man das früher tat. Sie sehen vielmehr eine langsame Entwicklung der Persönlichkeit durch eine Wechselwirkung des heranwachsenden Menschen mit andern Menschen und damit auch mit der Kultur. Es ist ein etappenweiser Vorgang, der in vielen Auf und Ab die ersten 20 Jahre ausserordentlich intensiv verläuft, aber auch später noch weiter geht.

 

Wir können sagen: Die Persönlichkeit ist in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt bis zum Tod im Werden.

 

Die geistige Entwicklung nach Jean Piaget

 

Was nun die geistige Entwicklung im speziellen anbelangt, so hat ihr Jean Piaget Jahrzehnte der Forschung gewidmet. 1970 hat er eine kurze Zusammenfassung verfasst, die 1981 auf deutsch erschienen ist, vor einigen Monaten unter neuem Titel in 2. Auflage ("Meine Theorie der geistigen Entwicklung").

 

Auch er sieht den Aufbau, diesmal der geistigen Welt des Individuums, als Konstruktion, welche auf "Interaktionen zwischen Subjekt und Objekten" beruht.

In den ersten Lebensmonaten ist der Säugling ganz auf seinen Körper und seine Wahrnehmungen bezogen.

In der 2. Hälfte des ersten Jahres beginnt er die "Permanenz von Objekten" zu entdecken. Zuerst sind diese noch an die Wahrnehmung gebunden. D. h. der Säugling beginnt z. B. nach einem Ball zu suchen, der unter einen Sessel gerollt ist. Rollt der Ball später unter ein Sofa und findet der Säugling ihn dort nicht sofort, sieht er wieder unter dem Sessel nach, wo das Suchen bereits einmal von Erfolg gekrönt war. Das Objekt ist also, wie Piaget schreibt, noch an seine Position "im Wahrnehmungsfeld des Kindes gebunden".

Erst im 2. Lebensjahr werden die Objekte von aktuellen Wahrnehmungen unabhängig. Es ergeben sich Vorstellungen. Etwa ab 1 1/2 Jahren kann das Kleinkind solche bilden und an ihnen orientiert handeln.

Im 2. Halbjahr des 2. Lebensjahres bilden sich, wie Piaget schreibt, "semiotische Prozesse wie Sprache und innere Bilder". Das ermöglicht etwa Nachahmung durch Identifikation in Rollenspielen, aber auch sich in Zeichen, also z. B. Sätzen oder Zeichnungen, ausdrücken.

 

Bis etwa zum 7. Altersjahr lebt das Kleinkind in reproduktiven Vorstellungen: Es kann sich ein Objekt oder Ereignis vorstellen, das es zwar kennt aber zu diesem Zeitpunkt nicht tatsächlich wahrnimmt. Erst von 7 oder 8 Jahren an treten antizipatorische Vorstellungen auf. Das heisst, das Kind kann sich nun das Ergebnis einer neuen Kombination bisheriger Vorstellungen vorstellen.

Mit 11 bis 13 Jahren gewinnt der Jugendliche schliesslich die Möglichkeit, sogenannte aussagenlogische oder formale Operationen auszuführen. D. h. er kann Aufgaben der folgenden Art lösen: "Edith hat hellere Haare als Susanne; Edith hat dunklere Haare als Irina; Wer hat die dunkelsten Haare?"

 

Selbstregulation und Wechselbeziehung mit den Eltern

 

Abgesehen von dieser Stufen- oder Stadientheorie vermittelt uns Piaget zwei wichtige Einsichten:

 

1. Es sind vier Faktoren für die menschliche Entwicklung massgeblich, nämlich drei von Piaget "klassisch" genannte:

-         biologische Reifung

-         Erfahrung der materiellen Umwelt

-         und Wirkung der sozialen Umwelt.

Piaget fügt nun als vierten Faktor die Selbstregulation (Äquilibration) dazu. Man könnte sie etwa dem Freudschen Ich vergleichen. Diese Selbstregulation erst organisiert und koordiniert die drei andern heterogenen Faktoren zu einer Gesamtheit.

 

2. Durch die Selbstregulation in der Interaktion von Subjekt und Objekten ergibt sich eine unveränderliche Folge von Entwicklungsstadien. Jedes Stadium setzt dabei das vorangehende als durchlaufenes voraus. Es ist deshalb sinnlos von einem Kind etwas zu verlangen, das es auf Grund seines Entwicklungsstandes noch gar nicht leisten kann. Umgekehrt ist es bedauerlich, wenn man das Kind auf seinem jeweiligen Entwicklungsstand nicht fördert.

 

Was ergibt sich aus den skizzierten Ansichten für die Entstehung von Menschenbildern?

 

1.      die Bedeutung der Eltern und die Entwicklung von Vorstellungen seit der 2. Hälfte des 1. Lebensjahres, also ausserordentlich früh;

2.      das Wechselspiel von Fragen und Wollen, Selbstbewusstsein und Rollenspiel, Nachahmung und Ablehnung seit dem 3. Lebensjahr. Daraus ergibt sich:

3.      Menschenbilder werden, wie andere Vorstellungen, nicht einfach einem Kind wie mit einem Stempel aufgeprägt, sondern von diesem in der Auseinandersetzung mit der Umwelt aufgebaut.

 

Darüber, wie ein solcher Aufbau vor sich geht, wissen wir wenig. Eine erste sensible Phase wird von einigen Forschern bereits in den ersten Minuten und Stunden nach der Geburt gesehen, wo vor allem der enge körperliche Kontakt des Säuglings mit Vater oder Mutter ausschlaggebend ist (Klaus, Kennell). Dieser Kontakt soll insbesondere die in der zweiten sensiblen Phase von der 6. Woche bis zum 6. Monat stattfindende "Prägung auf die Mutter" (Grey) ermöglichen.

 

Wie dem auch sei, wichtig scheint mir jedenfalls das im 1. + 2. Lebensjahr aufzubauende "Urvertrauen", wie es der Freud-Schüler Erik H. Erikson nennt. Dieses Vertrauen in die durch nichts erschütterbare Liebe der Eltern ist die Grundlage für alle späteren Menschenbilder. Wenn eine solche seelische Bindung, in der sich Säugling und Kleinkind angstfrei und geborgen fühlen, gelingt, kann auch kein noch so abschreckendes späteres Erlebnis dieses Vertrauen in das Menschliche aufheben.

 

Schon von Anbeginn an entwickelt sich eine Wechselbeziehung zwischen Eltern und Kind: Das Kind reagiert auf Sinnesreize und die Eltern auf die kindlichen Signale. Im Idealfall bieten beide Seiten einander Anregung und Belohnung. Dabei lernen sie, wie das eigene Verhalten den "Partner" im positiven Sinn aktiv beeinflussen kann. Das beginnt beim Blick- und Hautkontakt und beim Lächeln und setzt sich später in Lob und Tadel, Aufmunterung und Strafe fort. Es ist ein subtiler gegenseitiger Regulierungsvorgang.

Durch solche Regulierungsvorgänge werden im Kind und später Jugendlichen innere Bilder aufgebaut, und im Verlauf der Zeit umgebaut, ergänzt, abgebaut und verfestigt. Sie sind auch bei den Regulationsvorgängen zwischen erwachsenen Menschen wirksam.

Ich habe bereits erwähnt, dass sich aus dem Wunsch nach Anerkennung oder Liebe das Verhalten so reguliert, dass es sich an den vermuteten Erwartungen der andern orientiert.

 

Literatur

Jean Piaget über Jean Piaget - Sein Werk aus seiner Sicht. München: Kindler 1981
(engl. 1970 in Carmichael's Manual of Child Psychology);
2. Aufl. u. d. T.: Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1983.

 

Unterschiedliche Erziehung von Knaben und Mädchen

 

Betrachten wir das etwas genauer. Neuere empirische Untersuchungen haben ergeben, dass bereits in den ersten Lebenswochen weibliche und männliche Säuglinge von den Eltern unterschiedlich behandelt werden. Die männlichen Säuglinge werden häufiger gestillt oder gefüttert, und die Mutter hält sich mehr in ihrer Nähe auf.

 

Dass männlichen heranwachsenden Wesen also mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, zieht sich von da an durch die ganze Kindheit und Jugend. Ab dem 3. Monat geben Mütter Mädchen mehr zärtlichen Körperkontakt, fördern dagegen bei Knaben mehr die Muskelaktivität. Schon hier wird also dem Knaben mehr Möglichkeit zum sogenannten explorativen Verhalten gegeben. Indem Mütter z. B. einen Ball ein wenig wegwerfen und den männlichen Säugling mit dem Gesicht dahin drehen, sorgen sie dafür, dass er sich von ihnen entfernen, Raum und Spielzeug selbständig erobern kann. Weibliche Säuglinge dagegen werden in der Nähe gehalten, die Mutter dreht sie mit dem Gesicht eher zu sich und holt den Ball selber für sie heran.

 

Schon kleinste Babys erhalten je nach Geschlecht unterschiedliches Spielzeug. Später ist dies noch deutlicher der Fall. Männliche Kleinkinder werden zum Beispiel im Umgang mit Bauklötzen unterwiesen, so können diese, wie man sagt, bestimmte Kompetenzen (z. B. Statikvorstellungen) entwickeln. Durch Ermutigung wird der kleine Bub veranlasst, solche Kompetenzen weiter zu üben und zu entwickeln.

 

Schon im 2. und 3. Lebensjahr ergibt sich aus der unterschiedlichen Behandlung von Mädchen und Buben folgendes. Mädchen identifizieren sich eher mit innerfamiliären Rollen (vor allem Mutter und Kind), Buben identifizieren sich eher mit ausserhäuslichen, eher sachbezogenen Tätigkeiten, z. B. Polizist, Autofahrer, Kranführer, Soldat, Feuerwehrmann.

 

Schon in diesem frühen Alter, kann man etwas schematisch sagen, spiegelt sich im Verhalten des Kleinkindes die Welt der Erwachsenen: Der Knabe ist aktiver, expansiver, konstruktiv, das Mädchen passiver, unselbständiger, eher hegend und pflegend.

 

Wie kommt das? Ganz einfach, indem die Eltern ihre Geschlechterstereotype von Anfang an auf das junge Leben anwenden. Eltern haben ihre Vorstellungen von geschlechtstypischen Aktivitäten und demzufolge unterstützen sie die ihrer Meinung nach "richtigen" Aktivitäten von Knaben und Mädchen. Mit Freud könnten wir sagen: Das "Über-Ich" der Eltern wirkt schon von der Geburt ihres Kindes an.

 

Unter solchen Umständen entwickelt sich auch das Selbstbild des Kleinkindes geschlechtsspezifisch. Wenn es mit 3 Jahren ein "Persönchen" ist, weiss es auch, dass es ein Mädchen oder Knabe ist.

2, 3 Jahre später sieht das Kind, dass es sein Leben lang ein Knabe oder Mädchen bleiben wird. In diesem Zeitraum, also vom 4. - 6. Lebensjahr, finden nun gleichzeitig Bewertungsvorgänge statt. Zuerst sind für Geschlechtsunterschiede hauptsächlich Kleidung und Frisur massgeblich, dann werden es Grösse und Stärke. Und letzteres, also Grösse und Stärke, wird mit "männlich" in Verbindung gebracht und mit Macht und Prestige verbunden.

 

Dabei bleibt es, mehr oder weniger, für den Rest des Lebens.

Auf Grund seiner Macht darf das männliche Wesen viel mehr, als das weibliche. Dem weiblichen Wesen stehen fortan nur drei Möglichkeiten offen: Auflehnung, Flucht oder Unterordnung.

 

Die "ideale" Erziehung

 

Lassen Sie mich diese Vorgänge noch von einer neutraleren Warte aus beschreiben. Nämlich, wie Erziehung in einem idealen Sinne vor sich zu gehen hätte, ideal auch, wenn sie Mädchen und Knaben zumindest die gleichen Chancen böte.

 

Wenn wir das Urvertrauen einmal voraussetzen, ist die grösste Aufgabe der Eltern die "Weltvermittlung". Und die Art der Weltvermittlung macht den Erziehungsstil aus. Was heisst Weltvermittlung? Alexander Mitscherlich spricht von Unterweisung und Frustration. Und er hat dabei hauptsächlich den Vater im Auge.

 

Wichtig ist dabei nicht despotische Belehrung, sondern eine sowohl gefühlsbetonte wie sachliche Einführung in den Umgang mit Menschen, Dingen und Ideen. Versteht es der Vater, dies dem Kind zum Erlebnis werden zu lassen, so kann als Ergebnis folgendes festgestellt werden: "Ein Entfaltungsschema geordneten Verhaltens, das wir Gewissen (Über-Ich) nennen, wäre angelegt, und zweitens: ein Stück Bewältigungspraxis des Lebens wäre vom Vater auf den Sohn übermittelt worden" (Alexander Mitscherlich).

 

Die Gefühlshaftigkeit in dieser "Sozialbildung" des jungen Menschen ist notwendig für die Wertorientierung. Nur sie erlaubt eine Fixierung im Gewissen. Und nur sie bildet die Basis für die "emotionale Einstellung zur Berufswelt und das Engagement in der Gesellschaft". Auseinandersetzungen und schmerzliche Erfahrungen bleiben freilich beiden Seiten nicht erspart: Beide erleben in Konkurrenz, Misstrauen und Bewunderung, in Furcht, Neid und Zuneigung eine "Ambivalenz der Gefühle". Soweit Alexander Mitscherlich.

 

Wenn die Eltern keine Weltvermittlung leisten

 

Wie wird diese Weltvermittlung von den Eltern geleistet? Dreierlei scheint mir wichtig während der ganzen Kinder- und Jugendzeit:

 

1. Das Gespräch am elterlichen Tisch, beim gemeinsamen Spielen, beim Spazieren.

 

2. Die Ermöglichung des Spielens, und damit meine ich nicht so sehr das Fussballspielen auf der Strasse oder Wiese, sondern des Spielens im weitesten Sinne: Rollenspiele, Symbolspiele, Abenteuerspiele, Bauen, Basteln usw., kurz alle eigenen kreativen Aktivitäten des Kindes in von ihm entworfenen Welten.

 

3. Das Nicht-so-wichtig-Nehmen der Schule und vor allem der Ausbildungspläne für später. Der Lehrer soll durchaus Noten geben, das dient ihm, dem Kind und den Eltern zur Standortbestimmung. Aber die Eltern sollen keine Notenhysterie betreiben.

 

Was geschieht, wenn die Weltvermittlung von den Eltern nicht geleistet wird? Wir erinnern uns, dass das Kleinkind im Alter von 3-4 Jahren recht gut zwischen Spiel und Realität unterscheiden kann.

Wenn nun die Weltvermittlung fehlt, ergibt sich in einer sensiblen Phase, die ich etwa auf das 5.-8. Altersjahr ansetzen möchte, folgendes: Das Kind baut sich eine eigene Welt auf und zieht sich in diese zurück. Diese Welt wird nun bestimmend. Es ist eine Phantasiewelt mit Berufs- und Reiseträumen, Allmachtsphantasien und Menschenbildern, die als Tagträume beherrschend bleiben. Stehen sich sonst Spielwelt und Realität gleichbedeutend gegenüber, so gilt nun die Realität nicht mehr viel, sie ist bloss noch lästig. Die Umgangssprache hat dafür ein Wort: "Scheiss".

 

Wir können also sagen: Das Ausbleiben der Weltvermittlung hat den Aufbau einer Traumwelt zur Folge. Oder: Es sind nicht die Widerstände der Realität, die Ecken und Kanten, die Frustrationen und Enttäuschungen, welche eine Ablehnung der Realität erzeugen, sondern die nicht gelernte Bewältigung der Realität.

 

Bei Mädchen drückt sich dieser Rückzug von der Realität ganz anschaulich etwa im Wunsch aus, ins Kloster zu gehen und Nonne zu werden (so bei George Sand) oder aber eine grosse Künstlerin z. B. Dichterin (Harriet Beecher-Stowe), Schauspielerin, Sängerin zu werden. Andere Träume gehen in die Richtung der Erlösung durch einen Märchenprinzen: Dornröschen wird nach 100 Jahren von einem Königssohn wachgeküsst.

 

Bertha von Suttner, die grosse Vorkämpferin für den Frieden, vergnügte sich vor über 100 Jahren mit ihrer gleichaltrigen Kusine "mit einem selbsterfundenen Spiel, das sie 'Puff' nennen - sie denken sich Szenen aus, die in ihrer Zukunft spielen und führen diese dann mit verteilten Rollen vor. Immer geht es dabei um eine sehr bewegende Liebesgeschichte. Ein amerikanischer Cowboy, ein europäischer Gesandtschaftsattaché oder ein indischer Maharadscha hält um die Hand von Bertha oder Elvira an - und schon beginnt wieder ein neues Drama."

 

Auch die russische Revolutionärin Wera Figner flüchtete sich in Phantasien. "Vielleicht, so träumt sie vor sich hin, wird sie eines Tages nach Moskau kommen, und der Zar wird auf sie aufmerksam werden und um ihre Hand anhalten. Er wird sie mit Brillanten und Rubinen schmücken und ihr sein Reich zu Füssen legen."

 

Und die Schauspielerin und Sängerin Erika Pluhar, schreibt noch mit 33 Jahren in ihr Tagebuch: "Ich liege unter meiner Bettdecke wie ein Kind und erzähle mir Märchen, um mich zu beruhigen. Märchen von einer Liebe, die irgendwo auf mich wartet wie ein Königssohn. Die mächtiger sein wird als alle meine Bedenken und Enttäuschungen, die mich trösten und entschädigen wird für alles Böse, das je in meinem Leben war - ach Gott, eine freie mutige Frau möchte ich sein, und laufe mit dieser Maske durchs Leben, und bin dahinter ein dummes ängstliches liebesbedürftiges Kind, das weint."

 

Ganz analog dazu sehen sich die Knaben entweder als grosse Naturforscher, Detektive, Sportler oder Popstars, gefeiert, angebetet oder gefürchtet. Oder sie sehen sich als Helden oder Ritter, die ein Burgfräulein, eine Königstochter aus Gefahr retten. Jean Paul Sartre dachte sich mit etwa 7 Jahren Fortsetzungsromane aus, in denen er als Held junge Mädchen, zarte Geschöpfe vom Tod errettete. Nachzulesen in "Les mots" (dt.: Die Wörter, 1965, 87-89):

„Alles lief in meinem Kopf ab; da ich nur ein vorgestelltes Kind war, verteidigte ich mich durch die Vorstellungskraft.

… ich mochte keine Feen, denn deren gab es zu viele um mich her; die Feenwelt wurde daher ersetzt durch eine Welt der Heldentaten. Ich wurde ein Held; ich verzichtete auf meinen Charme; es handelte sich nicht mehr darum, Wohlgefallen zu erregen, sondern sich durchzusetzen.

… Ich ging über ein brennendes Dach und hielt eine ohnmächtige Frau in meinen Armen; unten schrie die Menge: es war klar, dass das Gebäude gleich einstürzen würde. In diesem Augenblick sprach ich die schicksalsvollen Worte: „Fortsetzung in der nächsten Nummer.“ – „Was hast du gesagt?“ fragte meine Mutter. Ich antwortete vorsichtig: „Ich halte mich in Spannung.“ Und in der Tat schlief ich ein inmitten von Gefahren, in einer entzückenden Unsicherheit. Am nächsten Abend war ich pünktlich beim Stelldichein, fand mein Dach wieder und die Flammen und einen sicheren Tod. Plötzlich entdeckte ich eine Wasserrinne, die ich am Vorabend nicht bemerkt hatte. Gerettet, Gott im Himmel! Aber wie sollte ich mich daran festhalten, ohne meine kostbare Bürde fahrenzulassen? Glücklicherweise kam das junge Mädchen wieder zu sich, ich nahm sie auf den Rücken, sie schlang ihre Arme um meinen Hals. Aber nein, nach einigem Nachdenken liess ich sie wieder bewusstlos werden, denn wenn sie auch nur ein bisschen mithalf bei ihrer Rettung, wurde mein Verdienst dadurch herabgemindert. Glücklicherweise gab es das Seil zu meinen Füssen; sorgfältig befestigte ich das Opfer daran, der Rest war nur ein Kinderspiel. Würdige Herren - der Bürgermeister, der Polizeichef, der Feuerwehrhauptmann - umarmten und küssten mich, ich bekam eine Medaille, verlor meine Selbstsicherheit und wusste nichts mehr mit mir anzufangen, denn diese Umarmungen der hohen Persönlichkeiten erinnerten allzusehr an diejenigen meines Grossvaters. Ich löschte alles aus und begann von neuem. Wieder war es Nacht, ein junges Mädchen rief um Hilfe, ich stürzte mich ins Getümmel . . . Fortsetzung in der nächsten Nummer.“

 

Literatur

Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München: Piper 1963; bes. S. 219, 224, 426f; 10. Aufl. 1996.

Gunda Wolff: Die ersten Lebensjahre. Eine Einführung in die Problematik der seelisch-geistigen Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes. Stuttgart: Klett-Cotta 1979; Frankfurt am Main: Ullstein Taschenbuch 1983.

Helga Bilden: Geschlechtsspezifische Sozialisation. In Klaus Hurrelmann, Dieter Ulich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim: Beltz 1980.

Frigga Haug: Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sozialisation. Berlin: Argument-Verlag 1983.

 

 

 

Teil 3: Schulzeit und Pubertät

 

Die Jugendlichen müssen vielfältige Kompetenzen erwerben

 

Es besteht eine unveränderliche Folge von Entwicklungsstufen. Jede setzt die vorhergehende voraus. Eltern dürfen also nicht zu früh etwas vom Kind verlangen, was es nicht leisten kann; anderseits müssen sie es auf dem jeweiligen Entwicklungsstand fördern.

 

Gerade der letzte Punkt gilt nun auch für die Zeit der Latenz (7.-10. Lebensjahr), die Vorpubertät (10.-12.Lj.), die Pubertät (12.-16. Lj.) und die anschliessende Adoleszenz.

 

Es ist merkwürdig, dass gerade für die Schulzeit bis zum Erwachsenwerden das Bewusstsein dafür meist fehlt, dass auch hier Entwicklungsstufen zu beachten sind. Das "Fremden" im 8. Monat, die Trotzphase im 3.-5. Lebensjahr, die Schulreife, das sind Einschnitte, die vielen Eltern bewusst sind, aber für die Zeit nachher werden die Kenntnisse und Vorstellungen eher diffus.

 

Wichtig scheint mir, dass der junge Mensch in der Zeit zwischen Schulbeginn und Erwachsensein in mindestens drei Spannungsfeldern lebt:

1.      zwischen Realität und Phantasie

2.      zwischen "Ich" und den "andern"

3.      zwischen Anlehnung und Auflehnung.

 

Diese drei Spannungsfelder sind ineinander verwoben, doch im Laufe der Entwicklung verschieben sich die Akzente mehrmals. Vergegenwärtigen wir uns, was in diesen etwa 14 Jahren passieren muss: Aus dem ABC-Schützen soll ein reifes Wesen werden, das aus eigener Kraft und Überzeugung auf mindestens drei Arten Partner sein kann:

 

-         vollwertiger Partner eines gegengeschlechtlichen Menschen,

-         einfühlsamer Partner eines neu sich entwickelnden Lebens,

-         kompetenter Partner im Beruf.

 

Bereits in den ersten Schuljahren geht es bei weitem nicht nur um Kenntniserwerb. Vielmehr muss der Schüler sich etwa in eine staatliche Institution, den Unterricht, einordnen, er hat eine "Arbeitshaltung", einen "Werksinn" wie Erik H. Erikson es nennt auszubilden, und zu lernen, sich in Gruppen Gleichaltriger durch- und einzusetzen. Er muss, im weitesten Sinn, nun leistungsmassige und soziale Kompetenz erwerben.

 

Mit dem Erwachen sexueller Regungen gegen Ende der Vorpubertät, mit der beginnenden Geschlechtsreife, die sich durch Menstruation resp. Samenergüsse mit etwa 11 Jahren einstellt, wird das Problem noch schwieriger. Ich weiss nicht, wie die Vorstellung aufgekommen ist, ausgerechnet in diesem Zeitpunkt sei für Eltern "das Gröbste überstanden" und die Mutter könne nun daran gehen, sich wieder nach einer Betätigung im Berufsleben umzusehen. Nichts könnte verfehlter sein.

 

Sehen wir uns doch einmal an, was der Jugendliche in dem nun folgenden Jahrzehnt alles bewältigen muss:

 

1. Er muss nicht nur mit seiner Sexualität, sondern mit seiner ganzen Körperlichkeit fertig werden. Das reicht von sexuellen Bedürfnissen und Bedürfnissen nach Aktivität, Bewegung, sportlichen Leistungen bis zum Aussehen, der Wirkung auf andere und damit bis zum Essen, zur Körperpflege, zu Kleidung und Haarschnitt.

 

2. Dem Jugendlichen werden soziale Positionen und Rollen bewusst, bald auch wirtschaftliche und politische Ideologien.

 

3. Das aussagenlogische, formale Denkvermögen wächst, und damit auch die Fähigkeit zum Durchschauen von Rollen und Ideologien, und schliesslich auch zur Kritik daran.

 

4. Daraus ergibt sich der Wunsch, eigene Ideale und Werte in Bezug auf sich selber, aber auch in Bezug auf die Welt aufzustellen. Romantische Verklärung und Weltverbesserungsideen sind das Ergebnis.

 

5. Bei all diesen Unternehmungen erwartet der Pubertierende einerseits in der Schule und später in der Lehre, anderseits bei Kameraden wie Erwachsenen Anerkennung.

 

6. Doch noch nicht genug damit. Auf diesem dornenvollen Weg der Selbstfindung, der Findung des Du und der Erkenntnis der Wahrheit stellt sich auch einmal die Frage nach der Berufs- oder Studienwahl, die Frage nach der Ablösung vom Elternhaus und schliesslich der Entwurf eines, wie ich es genannt habe, "partnerschaftlichen" Lebensplans.

 

7. Erlebt in diesem 2. Lebensjahrzehnt der junge Mensch nicht auf der Basis einer emotionalen Sicherheit im Elternhaus ein verständnisvolles Wechselspiel von Förderung und Forderung durch Mutter und Vater, so kann sich daraus eine negative Selbsteinschätzung ergeben, die später Folgen haben wird.

 

Die Jugendlichen nicht alleine lassen!

 

Es braucht also viel Verständnis für den Jugendlichen. Warum fällt das aber oft so schwer? Nicht nur weil die Eltern zuwenig von dieser Zeit wissen, sondern weil sie selber oft genug mit sich selber, mit ihren eigenen Problemen zu tun haben. Sei das nun der Aufbau von beruflichen Karrieren oder die eigene Midlife-Krisis, sei es die Ehe selbst, die nach 10-20 Jahren Probleme aufwirft.

 

Dabei ist nicht zu übersehen, dass neben die Eltern zunehmend andere "Erziehungs"-Instanzen treten, insbesondere:

-         Schule und Lehre

-         Gruppen und Organisationen von Gleichaltrigen

-         Medien und Werbe-Mittel.

 

Aufgabe des Elternhauses bleibt es aber gerade, dem jungen Menschen zu helfen, diese überaus vielfältigen Einflüsse zu integrieren, d. h. sie dürfen ihn damit nicht allein lassen. Das Elternhaus ist und bleibt die zentrale "Instanz" bei der Erwerbung des Selbstwertgefühls. Es ist z .B. nicht einzusehen, warum 2/3 aller Eltern ihre Knaben und Mädchen auf der Gasse "aufklären" lassen, oder dass 75% der 14-17jährigen Burschen niemanden haben, mit dem sie über sexuelle Probleme sprechen können.

 

Gruppen bieten Geborgenheit und Orientierung

 

...

Wie steht es nun mit den Gruppen? Auch hier gibt es Wechselbeziehungen, aber andere.

 

Etwa mit 3 Jahren beginnt das Kleinkind, sich an andere Kinder anzuschliessen. Dabei spielen die einzelnen Kinder anfänglich nebeneinander, erst später miteinander. Während zwei Kinder meist ohne grössere Auseinandersetzungen nebeneinander spielen, treten bei mehreren Kindern, z. B. in der Spielgruppe, eher Streitigkeiten auf.

 

Im Kindergarten erfüllt das Kind soziale Forderungen, die aus der Gemeinschaft mit andern Kindern erwachsen, leichter als jene, die zu Hause gestellt werden.

 

Der Schulbeginn bedeutet die Einordnung in eine institutionell, also nicht frei, gebildete Gruppe. Schmerzliche Erfahrungen bleiben für die meisten nicht aus. Der Schüler muss lernen, sich gegenüber seinen Kameraden durchzusetzen. Mit 9, 10 Jahren beginnen einige deutlich Führungsansprüche zu stellen.

Dass die Gruppe Orientierungsfunktion hat, ist klar; das zeigt sich zuerst vor allem an der Kleidung und am Spielzeug: "Die andern haben (oder: dürfen) doch auch ... !"

Im Idealfall entwickelt das Schulkind etwa ab der 3. Klasse ein bemerkenswertes psychologisches oder diplomatisches Geschick. Auffallend ist, dass Knaben eher in grösseren Gruppen, Mädchen eher in paarweisen Grüppchen (Dyaden) zusammen sind. Bald wird die eigene Klasse auch als Wir-Gruppe empfunden; sie betrachtet obere oder untere Klasse kritisch. Auch das eigene Schulhaus wird gegenüber andern Schulhäusern überhöht; die Kinder betrachten Schüler anderer Schulhäuser herablassend, als blöd oder sogar als "Feinde".

 

Während bis zur Pubertät nur die Gruppen, denen der Schüler selber angehört, bedeutsam sind, werden dann die Bezugsgruppen oder peer-groups zunehmend wichtiger. Es sind Gruppen, bei denen der Pubertierende Mitglied ist, aber auch solche, bei denen er gerne dabei wäre oder an denen er sich orientiert. Im letzteren Fall könnte man auch von Vergleichsgruppen sprechen.

Gerade das Vergleichen ist ein zentraler Vorgang in der Pubertät. Die sich schärfende Beobachtungsgabe wird in Kritik, was nichts anderes heisst als "Unterscheidung", laut. Nicht nur wird das eigene Elternhaus mit anderen verglichen und das, was die Eltern tun und lassen, mit dem was sie behaupten und verlangen, sondern auch die eigene Stellung in der Familie, in Freundschafts-, Jugend- und Sportgruppen sowie die Stellung der andern wird kritisch unter die Lupe genommen.

 

Anderseits ist bemerkenswert, dass viele Gruppen von Jugendlichen die Hierarchien der Erwachsenenwelt spiegeln, ja sogar noch verschärfen. Extremfälle waren vor noch nicht so langer Zeit die Rocker-Gangs: Da war der Chef, mit einigen Paladinen, dann das Fussvolk und die Kulis und schliesslich die Motorradbräute, richtige Underdogs, gerade gut genug für Küche und Bett.

 

Der Kritikfähigkeit stehen somit Sehnsüchte entgegen, z. B. Hingabe an eine Führerfigur, Zugehörigkeit, Geborgenheit in einer Gemeinschaft, genau wissen wo man steht und was man zu tun hat.

 

Wenn die Eltern-Bilder vom Podest stürzen ...

 

Der starke Wunsch nach Idealen konkretisiert sich oft im Verfechten von Ideologien oder in der Ausrichtung auf Idole.

Woher kommt diese Ausrichtung auf Idole? Ich habe eben erwähnt, dass der Jugendliche am Anfang der Pubertät beginnt, das Verhalten von Vater und Mutter an ihren Behauptungen zu messen. Das Ergebnis ist meist eine herbe Enttäuschung.

 

Der Vater dokumentiert am Familientisch Dominanz in der Familie und Kompetenz im Beruf, aber wenn es brenzlig ist, kneift er oder droht. Er spricht von hehren Werten und hoher Moral, aber er selber legt das grösste Gewicht auf materiellen Wohlstand und Sicherheit, Aufstieg und Überrundung seiner Konkurrenten, und er rechtfertigt sein Verhalten und dasjenige anderer mit Sachzwängen. Der Pubertierende entdeckt so die Kluft zwischen "Haben" und "Sein".

Zweitens sieht der Pubertierende immer deutlicher, wie der Vater die Mutter behandelt, wie dieser schwierige familiäre Aufgaben auf sie abschiebt, wie er sie als funktionierendes Wesen, nicht aber als vollen Menschen betrachtet.

Und drittens sieht der Pubertierende, wie sich die Mutter diese Rollenzuweisung gefallen lässt, da sie das schon 10 oder 20 Jahre geschehen lassen hat.

 

Das mag überzeichnet sein, aber eine Enttäuschung über die Eltern kommt sicher häufig vor. Dabei sind es weniger die Gebote und Verbote, Auffassungen und Behauptungen, die von den Eltern kaum begründet werden, sondern eher die Erkenntnis, dass Vater und Mutter in ihrer Selbstverwirklichung nicht soweit gekommen sind, wie sie nach Ansicht der Jugendlichen hätten kommen sollen.

 

Das Bild von Vater und Mütter stürzt also vom Podest. Es kann durchaus sein, dass die Scherben später, im Erwachsenenalter wieder gekittet werden, doch die Sprünge bleiben bestehen.

 

Wenn wir wieder die Vorstellung vom Über-Ich zu Hilfe nehmen, können wir sagen, dass das Eltern-Vorbild herausgebrochen wird. Da aber die Funktion der idealen Forderungen bleibt, füllt nun der Pubertierende die Lücke mit seinen eigenen Idealen, einerseits etwa Ganzheitlichkeit, Wahrhaftigkeit und Sinn, anderseits Freiheit, Friede, Solidarität.

Somit steht nun in der Auseinandersetzung mit den Eltern deren Über-Ich mit seinen oftmals als "antiquiert" aufgefassten Moralvorstellungen das Über-Ich des Jugendlichen mit seinen Idealen gegenüber.

 

Idole: Abkehr von der Realität

 

Aber bei den Idealen kann es nicht bleiben. Auch Bilder müssen auf das Podest gestellt werden. Das sind die Idole. Es ist noch nicht die eigene Person des Jugendlichen. Vorerst sind es einmal die Wunschbilder, wie sich der Jugendliche gern sähe: bewundert, gefeiert, gefürchtet. Er ist noch viel zu unsicher, von Gefühlen hin und hergerissen, als dass er sich selber aufs Podest stellte. Daher stellt er eine reale Person hin, die nicht als Person da oben steht, sondern nur wegen des Beiwerks: Glamour oder Stärke, Erfolg und damit Macht.

 

Über die Vermittlung solcher Vorbilder durch die Medien werden wir nachher noch sprechen. Benützen wir für die Betrachtung der Idole eine Umfrage, die vor kurzem [1984] bei 400 15-24jährigen Schweizern durchgeführt wurde.

 

Offenbar gibt es zwei Arten Idole. Solche, die gerade im Rampenlicht stehen und deren Namen daher austauschbar sind, und solche, die zum Mythos geworden sind, also etwa Elvis Presley, James Dean, Marilyn Monroe. Eher als Alibi-Mythen möchte ich Albert Schweitzer und John F. Kennedy ansehen. Hat einer der jungen Menschen etwas von diesen beiden Männern gelesen, z. B. die Dissertation von Albert Schweitzer "Die psychiatrische Beurteilung Jesu" (1913) oder sein grosses Werk "Kultur und Ethik" (1923)? Und ich muss gestehen, von Kennedy ist mir kein Buchtitel bekannt. Also sind beide Vertreter von Idealen: Ehrfurcht vor dem Leben und Mitmenschlichkeit auf der einen, das junge Amerika, Dynamik und Mut auf der andern Seite.

 

Bei den andern Mythen können wir fragen, weshalb sind Brigitte Bardot und die Beatles keine geworden, oder Grace Kelly und Louis Armstrong? Oder liegt es an der beschränkten Auswahl der Namen, die man den jungen Menschen vorgelegt hat?

 

Bemerkenswert ist weiter, dass Schriftsteller und Politiker sowie "ernste", klassische Künstler wie Picasso oder Herbert von Karajan keine Idole sind.

 

Weshalb erscheint bei 36 % insgesamt, im Welschland sogar bei über 50 % der Jugendlichen Jean-Paul Belmondo als "leuchtendes Vorbild". Der Journalist schreibt: "Ihr Idol ist einer, der dem gestrengen Bürochef, wenn nötig, die Faust locker auf die Nase pflanzt und einer, der in der Diskothek die begehrteste Maid ungefragt an sich drückt."

Also phantasierte Stärke und wahllose Brutalität werden verehrt. Nicht reale Stärke und Selbstüberwindung wie bei - ebenfalls genannt - Clay Regazzoni und Reinhold Messner.

 

Wir sind dieser Abkehr von der Realität schon einmal begegnet, etwa im Alter von 7 bis 10 Jahren, nämlich wenn die Weltvermittlung nicht funktioniert hat. In der Pubertät und Adoleszenz spielt sich nochmals dasselbe ab. Freilich müsste hier die Weltvermittlung anders aussehen: Die Unterweisung im Umgang mit Dingen muss nun ergänzt werden durch die Unterweisung in Ideen, Institutionen und Mechanismen, vorab politischen und wirtschaftlichen.

 

Fragen der Jugendlichen

 

Warum gibt es Krieg und Kolonialismus, Hunger und Flüchtlingselend, warum Brutalität und Kriminalität, warum Süchte und leiden, warum Waldsterben und Arbeitslosigkeit?

Was ist macht, und warum gibt es Herrschaft von Menschen über Menschen?

Warum müssen wir uns die Erde untertan machen?

 

Darauf mochte der Jugendliche Antwort erhalten.

 

Zweitens fragt der Jugendliche: Wie ist der Umgang einerseits mit bereits geschlechtsreifen Jungen oder Mädchen, anderseits mit Erwachsenen wie Fachlehrer, Lehrmeister und Beamten zu gestalten?

 

Drittens: Warum Moral, warum Beruf, warum Lernen?

 

Und schliesslich das Wichtigste: Wie lernt man den Umgang mit sich selbst, seinen Schwächen, Unsicherheiten und Ängsten, seinen Bedürfnissen und Stimmungen, seine Ideen und Absichten?

 

Findet diesbezüglich keine Unterweisung durch die Eltern und die Schule statt, bleibt den Jugendlichen oft nur die Flucht ins Träumen übrig. Dabei möchte ich nichts gegen die Idole gesagt haben. Die Bindung an sie ist eine notwendige Übergangsstufe. Bedauerlich ist nur, wenn sie nicht irgendwann zu Beginn des Erwachsenenalters durch den betreffenden Menschen selbst in einem einigermassen realistischen Selbstwertgefühl abgelöst werden.

 

Auch die Eltern müssen lernen

 

Das Selbständigwerden ist also ein schwieriger Prozess, vor allem wenn die Eltern-Bilder zerbrochen sind. Umgekehrt scheint es, dass die Ablösung vielen Eltern schwerer fällt als den Jugendlichen. Das könnte drei Gründe haben:

 

1. Die erwähnten eigenen beruflichen und ehelichen Probleme. Die Eltern müssen das Bild des Erfolgreichen im Beruf und der harmonischen Ehe aufrechterhalten.

 

2. Die Orientierung der Eltern an ihrer eigenen Jugendzeit: "Als ich jung war, hätte ich mir so etwas nie erlaubt", sagen sie. Wobei die Frage offen bleibt, ob sie in ihrer Erinnerung nicht gerade viele Ereignisse aus ihrer Pubertät ausblenden.

 

3. Die Orientierung der Eltern am Bild ihrer Kinder im Kleinkindalter. "Früher war es doch so nett und folgsam, so ordentlich und hilfsbereit."

 

Da viele Eltern aber spüren, dass diese auf die blosse Fassade oder rückwärts gewandte Ausrichtung oft nicht hilft, die Probleme zu lösen, geraten sie in eine grosse Unsicherheit. Was können und dürfen sie heute von ihren Kindern verlangen, wo sind Grenzen zu setzen und wie weit ist Nachsicht geboten?

Etwas drastisch formuliert könnte man sagen: Durch die Pubertät ihrer Kinder kommen die Eltern selber auch in eine Art Pubertät. Manches Alt-Hergebrachte scheint nicht mehr zu tragen, die Selbstsicherheit gerät ins Wanken. Wäre das etwa ein Anlass, den eigenen Lebensstil zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern? Warum nicht? Man könnte ja das elterliche Leben auch als ein Lernen mit und an den Kindern betrachten.

 

Schon vor 2000 Jahren hat Seneca das gewusst: "Solange die Menschen lehren lernen sie auch."

 

Sogar die Aufforderung von Jesus (Mat. 18,3): "Kehrt um und werdet wie die Kinder" könnte in diesem Sinne als Appell an die Eltern verstanden werden: Lernt wieder!!

 

Und wenn ich anfangs von der Partnerschaft von Eltern und Kind über mindestens 20 Jahre gesprochen habe, dann bedeutet Partnerschaft nicht nur einander helfen, sondern auch: voneinander lernen.

 

Der Einfluss der Medien

 

Eltern wie Kinder stehen beide unter einem nicht zu unterschätzenden Einfluss der Medien. Zum einen "stehlen" diese viel Zeit, zum andern prägen sie Bilder.

Dabei ist zu sehen, dass sich selbstverständlich auch die Medien an grossen Gesamtheiten der Erwachsenen und Jugendlichen ausrichten. Man denke nur an die "Einschaltziffern", auf welche das Fernsehen so grosses Gewicht legt. Oder an den Drang zur "Aktualität", zu dem was "In" ist.

 

Die Medien sind tatsächlich, wie ihr Name besagt, weitgehend "Vermittler" von vorherrschenden Welt-, Gesellschafts- und Menschenbildern, sie reiten auf dem Trend, den sie auch wieder mitbestimmen.

 

Ganz grob geschätzt nehmen die Medien 70% der freien Zeit von Jugendlichen und Erwachsenen in Anspruch, und etwa 70 von dem, was sie über die "Welt" erfahren, geschieht durch die Medien. Man stelle sich das einmal vor: 70% unserer Freizeit nähren wir uns aus Konserven, und 70% unserer Information über die Welt stammt aus 2. oder 3. Hand!

 

Schon vor mehr als 10 Jahren wurden folgende Zahlen bekannt gegeben: In den USA verbringen bereits Dreijährige mehr als 3/4 Stunden täglich vor dem Fernsehapparat. In den USA wie  in andern Ländern sitzen Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren 12 bis 24 Stunden pro Woche vor dem Bildschirm. Im Alter von 14 (17) Jahren hat der Durchschnittsamerikaner bereits 19 000 (18 000) Fernsehtote konsumiert, davon die Hälfte in den Nachrichtenprogrammen. Analoge Zahlen über Bettszenen und Alkoholkonsum sind mir nicht bekannt, wären aber sicher ebenso wichtig.

 

Das Fernsehen als Babysitter, Märchenerzähler und Spielkamerad? Das ist keine gute Lösung. Was könnten die Gründe sein:

 

1. Bequemlichkeit der Eltern. Das ist bedauerlich, denn Gespräch und Spiel sind die besseren Weltvermittler. Das Kind dem Spielen und der Verarbeitung der Tageserlebnisse zu entziehen, ist schädlich. Es muss eigene Bilder und Phantasien entwickeln und darüber sprechen können.

 

2. Das eigene Interesse der Eltern an solchen Sendungen.

Der Wunsch der Erwachsenen nach Entspannung und Unterhaltung sowie Information ist berechtigt. Aber die Erwachsenen dürfen sich nicht über die Erkenntnis hinwegsetzen, dass Kinder und Jugendliche keine Erwachsenen sind.

 

Dabei geht es nicht nur ums Fernsehen. Auch Zeitungen und Illustrierte, Heftchen aller Art, Schallplatten und Radio, Filme, Bücher, Plakate und Poster, Werbeprospekte und Kataloge vermitteln Bilder. Und dann erst die übrigen Werbe-Mittel! Auch sie vermitteln und erzeugen Vorstellungen und Meinungen, sprechen Bedürfnisse an oder wecken sie und versprechen auf verschiedene Art deren Erfüllung.

 

Was lernen wir aus den Medien?

 

Medien, insbesondere durch ihr pausenloses Wirken, erzeugen das Gefühl des Wissens: "Ja so ist es!.

Ein ganz kleines Beispiel. Vor vielen Jahren wurde im Fernsehen die Wirkungsweise des Lasers vorgeführt. Am nächsten Tag fragte man einige Zuschauer: "Wissen Sie, was ein Laser ist?" Die Antwort lautete: "Ja, ich habe das gestern im Fernsehen gesehen." Auf die Aufforderung, den Laser zu beschreiben, antworteten dann die meisten: "Äh, äh, das geht so". Und dann kam nichts mehr, ausser: "Aber ich habe es gestern gesehen!"

 

Medien wirken also hauptsächlich über Bedürfnisse und Sehnsüchte und erzeugen Stimmungen und Gefühle. Also sie wirken.

 

Wie wenig wir das aber merken, ergibt sich aus folgendem Umfrageergebnis aus der Schweiz, aus diesem Jahr:

Drei Prozent der Fernsehzuschauer geben an, regelmässig Werbesendungen anzusehen, 18 % gelegentlich. Diese Selbsttäuschung ist beachtlich: Wenn von 80% das Werbefernsehen tatsächlich nicht beachtet würde, gäbe die Werbewirtschaft kaum soviel Geld dafür aus.

 

Erwachsene werden sich meist an die Künstlichkeit und verwirrende Fülle einerseits, das Fragmentarische und die unzureichende Erklärungskraft anderseits der Medieninformation gewöhnt haben. Aber der Pubertierende mit seiner erwachenden Kritikfähigkeit, seinem Bedürfnis nach Durchschauen und Vergleichen, aber auch nach Wahrhaftigkeit und Echtheit wendet sich oft davon ab: "Wenn schon blosser Schein, dann aber richtig!"

Vielleicht kommt daher die Vorliebe einiger Jugendlicher für die gegenwärtig diskutierten Brutalo-Videos. In einem vor kurzen im Tages Anzeiger erschienenen Bericht darüber sagte eine 16jährige: "Mich interessiert immer mehr, wie diese Gewaltszenen gemacht sind. Das sieht so wahnsinnig echt aus; diese Filmemacher sind Künstler." Und zwei andere 16jährige fast gleichlautend: "Sie stumpfen mich aber sicher nicht ab, weil ich gut zwischen der Wirklichkeit und dem Film unterscheiden kann."

 

Das Bewusstsein des Scheins ist also vorhanden. Weshalb aber überhaupt die Faszination solcher Videos? Es ist der Wunsch nach starken Gefühlen, nach Erregung. Vielleicht ist das Leben in Schule und Lehre, im Freundeskreis und im Elternhaus so sehr auf die Unterdrückung von Gefühlen ausgerichtet, dass der Jugendliche auf irgendeine Weise zu Erregungen gelangen muss. Dabei ist es zweitrangig, ob das nun bei Horrorszenen oder Sexszenen, in der Disco oder im Popkonzert, bei Trips auf dem Feuerstuhl oder bei einer Demonstration geschieht.

 

Halten wir uns zum Abschluss vor Augen,

was Jugendliche vor allem durch Fernsehen und Film lernen?

 

1. Das Leben ist hauptsächlich Begehren und Kämpfen.

2. Der Stärkere siegt und hat immer recht.

3. Einige sind oben, die meisten unten, Nobodys.

4. Der Mensch zählt nicht viel.

5. Wenn Probleme entstehen: "Nicht lange fackeln, nur feste druff!"

6. Wo ein paar Menschen zusammen sind, wird Alkohol getrunken und geraucht.

7. Wo ein Mann in die Nähe einer Frau kommt, landen beide über kurz oder lang am Boden oder im Bett.

8. Die meisten Vorschriften und Regeln gelten nur für die "andern".

9. Wer konsumiert oder Besitz hat, ist glücklich.

10.Die Lösung politischer und wirtschaftlicher Probleme wird von Sachzwängen bestimmt. Andere Motive und Zusammenhänge werden dementiert.

11.Für viele Zustände und Ereignisse ist niemand verantwortlich.

12. Was zählt, ist das Sichtbare, Messbare, Laute.

13. Manches kehrt immer wieder, anderes verschwindet einfach.

 

Das sind Welt-, Gesellschafts- und Menschenbilder.

 

Wie sich diese auf den einzelnen Konsumenten, vor allem auf seine Bedürfnisse und sein Problembewusstsein, auf seine Erwartungshaltungen und Reaktionsmuster auswirken, hängt zu einem guten Teil vom Elternhaus ab.

"Gestörte Familienverhältnisse" werden von Psychologen und Sozialarbeitern häufig für auffälliges Verhalten verantwortlich gemacht. Darunter ist gerade das Vernachlässigen der Bedürfnisse und Probleme von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, fehlende Aufsicht und Unterweisung und das Ausbleiben gemeinsamer Verarbeitung im Gespräch.

 

Fazit: Kinder und Jugendliche dürfen nicht mit den auf sie einströmenden Bildern und ihren eigenen Bildern sowie den damit verbundenen Stimmungen und Gefühlen allein gelassen werden.

 

 

 

 

Teil 4: Die Selbstwerdung des Erwachsenen

 

Es gibt keine Psychologie des gesunden Erwachsenen

 

Es ist eigentlich merkwürdig. Wir haben einen ganzen Haufen von Theorien über die verschiedenen Entwicklungsstufen während den ersten 20 Lebensjahren des Menschen. Aber es gibt kaum so etwas wie eine "Psychologie der Erwachsenen". Gewiss, viele Forschungen und Experimente werden mit Erwachsenen, freilich vorab Studenten, durchgeführt, es gibt Ehetherapie und Arbeitspsychologie, Psychologien des Konsumverhaltens und der Lebenskrisen, aber es gibt kaum eine Psychologie des gesunden, ganzen Erwachsenen.

Eine seltsame Spaltung ist festzustellen: Entweder wird der Erwachsene als therapiebedürftiger "Klient" aufgefasst und seine Störungen werden auf Kindheitserlebnisse zurückgeführt, die leider manches in Unordnung gebracht haben, oder es wird ausgemalt, wie der Mensch eigentlich zu sein hätte, wie er aber leider nicht ist.

 

Von der ganzen Fülle von Problemen des "gesunden" Menschen in seinem vielfältigen Rollen-Gefüge und in seinen verschiedenartigen Tätigkeiten ist kaum die Rede. Noch weniger jedenfalls als von bereits ähnlichen Problemen und Lösungsmöglichkeiten in der Pubertät und Adoleszenz.

 

Das bekannte Buch des Zürchers Jürg Willi, "Die Zweierbeziehung" (1975) ist lesenswert, weist jedoch zwei Mängel auf: Es ist darin kaum von Bildern die Rede, und es ist ganz an Freuds Psychoanalyse ausgerichtet. Als Ergänzung dazu möchte ich Ihnen die Bildertheorie von C. G. Jung etwas näher bringen.

 

C. G. Jung: Der Weg zum Selbst

 

Jung war nach der Jahrhundertwende einige Jahre im Banne Freuds gestanden, hatte sich dann aber 1913 von ihm losgesagt. Mit Freud war er sich einig in der Bedeutung des Unbewussten. Aber im Unterschied zu diesem sah er dessen Inhalte nicht nur als Verdrängtes an, sondern er erkannte im Unbewussten auch eigenständige Inhalte.

Das sind die "Archetypen" des kollektiven Unbewussten.

 

Ganz grob schematisiert lässt sich die Ganzheit des Menschen folgendermassen fassen: Die Entwicklung des Erwachsenen bezeichnet Jung als "Individuation". Das ist der Weg zum Selbst. Erst wenn dieser Mittelpunkt gefunden ist, kann von einem "runden" Menschen gesprochen werden. Dieses Selbst verbindet das Bewusste mit dem Unbewussten und versöhnt das Ich mit seinem Schatten. Die Persona ist weitgehend abgebaut, und die eigene Gegengeschlechtlichkeit (Anima resp. Animus) ist angenommen.

 

Die Entstehung des Selbst bedeutet eine Verschiebung des bisherigen Zentrums, des Ich.

 

Jung beschreibt diesen Vorgang als schöpferische Wandlung. Die Energie dazu stammt aus den Tiefen des Menschen selbst. Das Mittel dazu ist die Selbstbeobachtung und Bewusstwerdung. Durch das Bewusstwerden erfolgt eine schrittweise Annäherung an alle Inhalte, Funktionen und Impulse die im Menschen stecken. Anerkennt der einzelne deren Wirkung auf das Ich, so erkennt er auch sich selbst als das, was er ist, im Gegensatz zu dem, was er sein möchte.

 

Was jemand sein möchte: die "Persona"

 

Das, was jemand sein möchte, nennt Jung "Persona". Es ist eine Maske, die wir vor uns tragen und "die Individualität vortäuscht, die andere und einen selbst glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche spricht" (BIU, 47). Sehr scharfsinnig sieht Jung die Persona als "Kompromiss" zwischen Individuum und Gesellschaft über das, als was jemand erscheint.

 

Dabei fliessen drei ganz verschiedene Faktoren in die Bildung der Persona ein:

 

1. Das Ich-Ideal oder Wunschbild des einzelnen, wie er beschaffen sein und sich verhalten möchte,

 

2. das allgemeine Bild, das sich die Umgebung von einem Menschen dieser Art, in dieser Position und Lage nach ihrem Geschmack und Ideal macht,

 

3. die psychischen und physischen Bedingtheiten, also Eigenarten oder Mängel, die der Erfüllung des Ich- und Umweltideals Grenzen setzen.

 

Üblicherweise wird einer oder gar zwei dieser Faktoren ausser Acht gelassen. Wer nur sein eigenes Wunschbild ausdrückt, kann die Persona eines Sonderlings, Einzelgängers oder Rebells aufweisen. Wer sich nur an den Erwartungen der andern orientiert, kann die Persona eines wesenlosen Massenmenschen aufweisen. Wer nur seinen Bedingtheiten Rechnung trägt, kann ängstlich, gehemmt oder grämlich sein.

 

Die Persona ist also die Aussenseite des Ich gegenüber der Welt. Obwohl Jung von "Rolle" spricht, deckt sich sein Persona-Begriff nicht mit dem Rollenbegriff der Soziologie.

 

Die Soziologie geht davon aus, dass der Mensch gegenüber verschiedenen andern Menschen und je nach Situation unterschiedliche Rollen spielt. Der Mensch verfügt über ein Rollenrepertoire oder Rollen-Set. Manche Rollen sind durch den Beruf bestimmt, manche durch Alter, Geschlecht, Position usw. Je nachdem schlüpfen wir in unterschiedliche Rollen, wobei unsere Stimmungen und Gefühle durchaus eine unterschiedliche Färbung der Rolle bewirken. Manche Rollen sind zudem gar nicht scharf definiert, und umgekehrt kann ich eine unterschiedlich grosse Distanz zu meiner Rolle haben. Die eine liegt mir, ja entspricht mir so sehr, dass ich sie gar nicht als Rolle erlebe, sondern so wie ich bin; andere Rollen empfinde ich als mir aufgezwungen, ich erfülle sie nur widerstrebend oder ich lege nicht viel Wert darauf.

 

Die Persona bei Jung ist nun etwas hinter all diesen Rollen: das Gemeinsame, ja das Ideale. Er meint, die Gesellschaft erwarte, dass also "einer, der Pfarrer ist, nicht nur objektiv seine Amtsfunktion ausführe, sondern auch sonst zu allen Zeiten und unter allen Umständen die Rolle des Pfarrers anstandslos spiele. Die Sozietät verlangt das als eine Art von Sicherheit; jeder muss an seinem Platz stehen, der eine ist Schuhmacher, der andere ist Poet. Es wird nicht erwartet, dass er beides sei. Es ist auch nicht ratsam, beides zu sein, denn das wäre unheimlich. Ein solcher wäre ja 'anders' als andere Leute, nicht ganz zuverlässig" (BIU, 86).

 

Der minderwertige Teil unseres Wesen: der Schatten

 

...

Was ist der "Schatten"? Es ist der "minderwertige" Teil unseres Wesens, diejenige Seite in uns, die genau das tun will, was wir uns selber nicht erlauben dürfen.

Wie schon der Name besagt, ist der Schatten die "dunkle" Seite in uns. Er ist das, was uns an uns selber nicht gefällt, worüber wir uns schämen oder wovon wir gar nichts wissen wollen.

Dabei ist es wichtig zu sehen, dass er nicht etwa das Böse in Person ist. Das ist ja eine Wertung des Bewusstseins. Der unbewusste Schatten "ist in der Regel nur etwas Niedriges, Primitives, Unangepasstes und Missliches, und nicht absolut böse. Er enthält auch kindische oder primitive Eigenschaften, die in gewisser Weise die menschliche Existenz beleben und verschönern würden; aber man stösst sich an hergebrachten Regeln" (PR, 93; Jacobi, 170). Der Schatten hat sogar "auch eine Reihe guter Qualitäten, nämlich normale Instinkte, zweckmässige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse u. a. m." (ETG 415).

Aber er enthält, was mit unserer gesellschaftlichen Position, unserer Rolle und unserem eigenen Wunschbild unvereinbar ist. Es ist unser "dunkler Bruder" oder unsere "dunkle Schwester", die zwar unsichtbar, aber doch untrennbar zu unserer Ganzheit gehören.

 

Es ist nicht möglich, seinen Schatten zu verdrängen oder zu verleugnen. Man muss damit leben lernen; das gehört zur Individuation. Das erfordert jedoch Stärke und ein Abgehen von oft allzu hoch geschraubten Idealen. Aber wenn wir dem Schatten mutig ins Antlitz schauen, besteht die Möglichkeit, sich mit ihm auseinander zu setzen. Und wir können uns damit trösten, dass es allen Menschen so geht, denn der Schatten ist sowohl ein individueller Teil der Menschen als auch ein kollektiver. Er kommt, in ganz unterschiedlichen Grautönen, in allen Menschen vor.

 

Wie wirkt der Schatten? Auf drei Arten:

 

1. Als Überwältigung von einem starken Wunsch, einer nicht "statthaften" Erregung. Nachher sagen wir: "Ich war nicht ganz bei mir", oder: "Ich weiss nicht, was plötzlich über mich gekommen ist". Eine schwächere Form sind die Fehlleistungen.

 

2. Er tritt in symbolischer Form im Traum auf, als unangenehme Traumfigur beispielsweise, die einzelne oder zugleich mehrere seelische Eigenschaften des Träumers personifiziert darstellt. Auch in Phantasien, Visionen (Jacobi, 51) und in Halluzinationen (46) tritt er auf; im Bewusstsein als Symptom oder "Komplex" (vgl. auch 104f).

 

3. Der Schatten kann aber auch ein Mensch aus unserer Umwelt sein, der infolge einiger Eigenarten zum Projektionsträger minderwertiger, in unserem Unbewussten verborgenen Eigenschaften wird. Der Volksmund sagt da richtig: "Wir mögen am andern gerade das nicht, was wir an uns selbst nicht mögen."

 

Etwas bewusster darauf zu achten, kann helfen, mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten wenigstens vertraut zu werden. Ein gewisses Mass an Toleranz sich selber und andern gegenüber könnte das Ergebnis sein. Man muss sich nicht gerade an die Brust schlagen und sagen "Wir sind alle Sünder", aber ein Wissen darum, dass wo Licht ist, auch ein Schatten fällt, trägt etwas dazu bei, den ganzen Menschen zu verstehen.

 

Sowohl Persona wie Schatten haben geschlechtsspezifische Ausprägungen. Die Persona des erfolgreichen Geschäftsmannes oder des Helden, die Persona der tugendhaften Hausfrau oder des Vamps, das sind ebenso bekannte Stereotype oder Rollen wie die Personifizierungen oder Projektionen des Schattens als Teufel oder als Hexe (Jacobi, 43; Fordham, 60).

 

Der Schatten steht als "Widersacher" des bewussten Ichs eines Mannes oder einer Frau an der Schwelle zum Unbewussten.

 

Ergänzung und Kompensation

 

Betrachten wir nochmals das Schema der Ganzheit des Menschen. Jungs Ansatzpunkt ist die psychische Selbstregulation des Individuums. Das heisst, gegensätzliche Bereiche, Kräfte und Vorgänge regulieren das Erleben und Verhalten sowie die Entwicklung des einzelnen.

Dabei gibt es verschiedene Gegensätze: solche, die einander zu einem Ganzen ergänzen, also Komplementarität. Andere, und das sind die wichtigeren im Seelenhaushalt des Individuums, kompensieren einander, das heisst, die andere Seite bringt den Ausgleich.

Die grösste Gegensätzlichkeit besteht zwischen Bewusstsein und Unbewussten, zwischen dem, was wir bewusst wollen und denken, wahrnehmen und tun, und zwischen dem, was wir vergessen haben, verdrängen, unterschwellig wahrnehmen und fühlen oder wovon wir gar nichts wissen. Das Unbewusste bringt also laufend den Ausgleich zu den im Bewusstsein vorhandenen Absichten und Ansichten, Vorgängen und Inhalten (Jacobi, 7ff).

 

Da nun die Persona eine mehr oder weniger bewusst getragene Maske darstellt, die uns möglichst günstig erscheinen lassen soll, wird sie durch den Schatten kompensiert, der alles als "minderwertig" bewertete umfasst. Aber, wie Jung betont, auch er hat seine guten Seiten, eben z. B. die guten Instinkte.

 

Die zweite wichtige Art von Ergänzung und Kompensation ist diejenige von Männlichem und Weiblichem, und zwar zwischen Menschen wie auch im einzelnen Menschen.

 

Schon Freud' hat (seit 1899) von der Bisexualität des Individuums gesprochen; auch die neuere Genetik und Entwicklungspsychologie hat Hinweise darauf gefunden.

 

Jung sieht diese Bisexualität nun weniger biologisch als vielmehr innerseelisch. In jeder Frau, als ganzer Mensch betrachtet, steckt, ob gewollt oder nicht, auch einiges Männliche, in jedem Mann auch einiges Weibliche. Der Mensch als seelisches Wesen betrachtet ist ja immer der ganze seelische Mensch.

 

Der gegengeschlechtliche Schatten: Anima resp. Animus

 

Nach Jung wird also die Persona durch einen gleichgeschlechtlichen Schatten wie auch durch einen gegengeschlechtlichen Schatten kompensiert. Jung nennt letzteren "Seelenbild", beim Mann "Anima", bei der Frau "Animus".

Dabei handelt es sich um viel mehr als blosse Bilder. Es sind Kräfte, Eigenschaften und Vorgänge, die sich wie der gleichgeschlechtliche Schatten in plötzlichen Einwirkungen auf das Verhalten, in Träumen und Phantasien sowie in Projektionen äussern können. Und viertens finden beide ihren Ausdruck seit Jahrtausenden in Mythen, Märchen und Sagen, in der Literatur und bildenden Kunst.

 

Und wie im Schatten vermischen sich in der Anima resp. im Animus persönliche Erfahrungen und Verdrängungen mit kollektiven, menschheitsgeschichtlichen Erfahrungen, Bildern und Projektionen, ferner biologisch gegebene Wesenszüge und Neigungen wie durch Erziehung, sozio-kulturelle Einflüsse überhaupt, geformte.

 

Anlage und Umwelt, Menschheitsgeschichte und eigene Geschichte vereinen sich also im, wie Jung sagt, "andersgeschlechtlichen Urgrund".

 

Wenn Jung von "Anima" spricht meint er also je nachdem

·        generell als "weiblich" aufgefasste Wesenszüge des Mannes, auch "weibliches Prinzip" oder "weibliches Element" genannt (vgl. EGT, 189ff);

·        das verdrängte Weibliche im Manne, also ein gegengeschlechtlicher Schatten,

·        das Unbewusste des Mannes schlechthin, z. B. solange er noch nicht einmal seinen Schatten kennt (Jacobi, 180f)

·        "ein ererbtes kollektives Bild der Frau im Unbewussten des Mannes, mit dessen Hilfe er das Wesen der Frau erfasst" (Fordham, 63; vgl. BIU, 83), und das unter anderem mit einem Bild der "Grossen Mutter" zusammenhängt, oder

·        ein aus allen vielfältigen Erfahrungen an sich selbst und an weiblichen Gestalten der Umwelt geformtes persönliches Bild der Frau.

 

Es ist sehr schwer, die vielfältigen Aspekte und Zusammenhänge im "andersgeschlechtlichen Urgrund" auseinander zu halten. Dasselbe gilt auch für den Animus.

 

Es wird nun noch komplizierter, wenn wir bei genauerem Hinschauen sehen, dass die Anima wie der Schatten zwei Grundformen hat: eine lichte und eine dunkle Seite. Das ist freilich nicht verwunderlich, wenn wir davon ausgehen, dass es ja in einem Geschlechtsbereich sowohl ein Ich-Ideal wie einen Schatten gibt, dass also die Maske des männlichen Helden durch einen entgegengesetzten Schatten des männlichen Primitivlings ausgeglichen wird: Auch im Pfarrer steckt ein Wüstling, könnte man etwas drastisch sagen.

 

Wenn also das Männliche aus (bewussten) idealen und (unbewussten) schattenhaften Zügen und Impulsen besteht, dann ist das auch für das Weibliche anzunehmen. Da nun aber der Mann das immer auch in ihm vorhandene Weibliche weitgehend verleugnet, verdrängt, ist es fast ganz unbewusst. Daher zeigt das vielfältige Gebilde seiner Anima sich so deutlich in Bildern mit  idealen wie schattenhaften Zügen. Deshalb kann die Anima wie die bekannteste Schülerin von C. G. Jung, Jolande Jacobi, schreibt, z. B. "ebenso gut als süsse Jungfrau wie als Göttin, als Hexe, Engel, Dämon, Bettelweib, Hure, Gefährtin, Amazone usw. erscheinen" (175).

 

Dass Jung und seine Jüngerinnen für den Animus in der Frau vorwiegend nur lichte Züge brauchen, ist eine, ich sage einmal kulturell bedingte, Einseitigkeit (vgl. dazu 177). An dunklen Seiten des Animus erwähnt Jacobi nur den Ritter Blaubart und den Rattenfänger (175) sowie den gefährlichen Don Juan (183). Aus Gründen der Gerechtigkeit müsste man aber auch vom Bettler, Zigeuner, Lumpen, Filou, Sklaven, Säufer, Zuhälter, Geck, Mönch, Bonzen, Inquisitor, Schlächter, Massenmörder und Teufel sprechen. Immerhin hat jemand einmal King Kong als Animus-Bild in die Diskussion gebracht.

 

Man muss schon sehen: Die Tiefenpsychologie führt, wenn man ihre Erkenntnisse ernst nimmt, tatsächlich weit in die Tiefe, und da ist lange nicht alles so schön, brav und ordentlich wie an der Oberfläche. Unter den hehren Idealen kommt manches wie Jung sagt "Inferiore" zum Vorschein.

Das ist allerdings nicht weiter erstaunlich, wenn wir uns in der Realität umsehen: Da ist beileibe nicht alles Gold, was glänzt.

 

Anima = schillernde Einzelfigur; Animus = Versammlung von Autoritäten

 

Die Anima ist meist eine Einzelfigur, der Animus eine Mehrheit. Die Begründung liefert Jacobi (182):

 

Berücksichtigt man die kompensatorische Eigenschaft der Inhalte des Unbewussten zum bewussten Verhalten, so könnte man sagen: da der Mann in seinem äußeren Leben mehr polygam veranlagt ist, wird seine Anima, sein Seelenbild, zumeist als Einzelerscheinung auftreten, die mannigfaltigsten und widersprechendsten Frauentypen in einem Einzelbild vereinen. Daher auch der «schillernde Charakter» [vgl. 175], das «elbische Wesen» der richtigen Animafiguren.

Bei der Frau hingegen, deren Lebensverhalten auf Monogamie eingestellt ist, wird sich im Seelenbild eine polygame Tendenz offenbaren und das Komplementär-Männliche wird in allen seinen für sie möglichen Variationen öfters in einer Reihung vor verschiedenartigen Einzelgestalten personifiziert auftreten. Deshalb wird der Animus zumeist von einer «Mehrheit» repräsentiert; von so «etwas wie eine Versammlung von Vätern und sonstigen Autoritäten, die ex cathedra unanfechtbare, vernünftige' Urteile aufstellen» (BIU, 102). Oft sind es vor allem unkritisch übernommene Meinungen, Vorurteile, Prinzipien, die die Frau zum Argumentieren und Räsonnieren verführen.

 

Noch interessanter ist, was Frieda Fordham (66) schreibt:

"Die Anima trägt geistige Werte und deshalb wird ihr Bild nicht nur auf heidnische Göttinnen, sondern sogar auf die heilige Jungfrau projiziert. Sie aber ist auch naturnah und mit Emotionen bedacht. Sie ist 'chaotischer Lebensdrang', sie ist eine Verführerin, sie ist 'die Herrin der Seele' und sie ist auch die zunickende Hübsche, die die Männer zur Liebe und Verzweiflung, zu schöpferischem Schaffen und zur Verdammnis lockt. Sie ist tatsächlich ebenso völlig widersprüchlich wie die Frau, in deren Gestalt sie projiziert wird."

 

Da haben wir es: Weil die reale Frau als Mensch widersprüchlich ist, ist auch die Anima widersprüchlich. Dem könnte man zustimmen, wenn auch Gegenrecht gehalten würde, wenn also für den Animus der Frau dieselbe Vielfalt angenommen würde, da ja auch der reale Mann widersprüchlich ist. Dem ist bei Jung und seinen Schülerinnen aber nicht so. Jung selbst formuliert:

"Während dem Mann eine scharf umrissene bedeutsame Circe- oder Kalypsogestalt vorschwebt, ist der Animus eher in Fliegenden Holländern und sonstigen unbekannten Gästen vom Weltmeer ausgedrückt, nie ganz bestimmt fassbar, proteushaft und motorisch bewegt. Diese Ausdrücke erscheinen namentlich in Träumen, in der konkreten Wirklichkeit können es Heldentenöre, Boxerchampions, grosse Männer in fernen, unbekannten Städten sein" (BIU, 104f).

 

Die Selbstregulation

 

Wie spielt sich nun die Selbstregulation im einzelnen ab? Je starrer die Persona, desto dramatischer und undifferenzierter der Schatten und die Anima (Jacobi, 179-181). Ist die Persona eine allzu künstliche Stilisierung, wird sie zu sehr als Schutz- oder Aushängeschild vor sich her getragen, dann steigt die Gefahr, den inneren Grössen zum Opfer zu fallen (Jacobi, 43f). Dann verlieren wir nicht nur zunehmend die Kontrolliertheit unseres Verhaltens, sondern werden auch von Begehren und Phantasien geplagt und - wir projizieren. Bildlich gesprochen, wenn die Persona nicht "durchlässig" ist, das heisst elastisch und modifizierbar, kann der Dampf nicht abgelassen werden, und Schatten wie Anima werden am andern gesehen.

 

Eine sture, d.h. undifferenzierte Persona - die Verleugnung des eigen- wie gegengeschlechtlichen Schattens mit ihren nicht nur dunklen, sondern auch lichten Seiten - hat nun auch undifferenzierte Schatten zur Folge.

Alles nimmt in der seelischen Dynamik extreme Formen an: Die "gute" Persona wird durch einen "bösen" Schatten aufgewogen, die Anima zerfällt in einen hochstilisierten und einen erniedrigten Teil. Und dann wird projiziert. Was dabei herauskommt, zeigt die Geschichte.

 

Die Geschichte: Archetypen setzen gewaltige Kräfte frei

 

Fast die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht ein unheimlicher Drang, den Menschen entweder hoch zu stilisieren oder zu erniedrigen.

 

Pico della Mirandola stellte den Menschen, genauer den Mann, und zwar seine ideale Persona, in die Mitte der Welt, und gleichzeitig veranlasste der Papst zwei Theologen zu ihrem "Hexenhammer".

 

Die Inquisition hatte freilich schon in der Karolingerzeit mit der Schaffung "bischöflicher Sendgerichte" begonnen. Einerseits hatten sie Ketzern (den projizierten bösen Schatten) nachzuspüren, anderseits Hexen (die projizierte verachtete Anima), die mit dem Teufel in Verbindung standen ("Canon episcopi" 906).

Als um 1100 das Ritter-Ideal ("miles christianus" 1090) aufgestellt wurde, begannen die Kreuzzüge gegen die "Heiden" und die ersten Juden-Pogrome.

 

Bald nach 1200 wurden vom Papst die ersten richtigen Inquisitionsgerichte eingesetzt (1227). Von 1200 bis ca. 1350 wurden eine Million Albigenser umgebracht. Seit 1150 war die Verbrennung üblich, seit 1252 die Folter vom Papst als legitimes Mittel anerkannt.

 

Der erste Hexenprozess fand 1275 statt. Der Orden der Inquisition waren die Dominikaner, denen auch Thomas von Aquin angehörte. Ihre Konkurrenten waren die Franziskaner. Sie erhoben als Gegengewicht zu den Hexenvorstellungen die ebenfalls seit der Karolingerzeit vorhandene Vorstellung der "unbefleckten Empfängnis" Marias zum Dogma.

 

Also der gottesfürchtige Ritter als Gegenbild zum Ketzer, Heiden, Juden - Maria immacolata als Gegenbild zur Hexe, Zauberin, Wahrsagerin.

 

Das sind Archetypen. Und sie sind wirksam. Die Hexenverfolgungen dauerten 500 Jahre (bis 1792), und weit über eine Million Frauen fielen ihnen zum Opfer (nach Karlheinz Deschner, S. 487: 9 Mio.); die Inquisition wurde erst 1859 endgültig aufgehoben; Judenpogrome kennen wir noch aus jüngerer Zeit.

 

Kollektive Bilder lösen also gewaltige kollektive Aktionen aus. Und die Ambivalenz von Idealisierung einerseits, Verachtung anderseits ist beeindruckend. Manche Künstler spürten das. Ein schönes Beispiel dafür geben viele Marienfiguren: Die Jungfrau und Gottesmutter steht auf der Erdkugel um die sich die Schlange, Hinweis auf Eva, die Verführerin, ringelt. Oder an einigen Portalen gotischer Kirchen sind links und rechts zwei Frauenfiguren aufgestellt: Die eine symbolisiert die Ecclesia, also die richtige Kirche, die andere die Synagoge, die falsche Kirche, daher trägt sie einen zerbrochenen Stab und eine Augenbinde.

 

Wiederum: Es beginnt im Kindes- und Jugendalter

 

...

Es sind gerade diese uralten Widersprüchlichkeiten des Frauen-Bildes, welche auch heute, wenn sie extrem werden,  manche Ehe oder Partnerschaft belasten.

Wie kommt es dazu? Hat denn schon das Kleinkind und Kind eine Persona? Gewiss. Aber sie ist vorwiegend vom Umwelt-Ideal bestimmt. Ist dieses zu streng und einengend, lassen die Eltern dem Kind zuwenig seine Natürlichkeit, dann wird der Schatten schon früh ausgeprägt - denken Sie an das Trotzen - und die Anima resp. der Animus undifferenziert: Was die Mutter macht ist nicht viel anders als was die Dirne tut. Also Flucht in Tagträume, Phantasien.

 

Mit der, wie wir wissen, geschlechtsspezifischen Aufprägung des von der "Umwelt" gewünschten, erwarteten Ich, also der Persona, ist auch die Weltvermittlung verbunden. Gelingt sie nicht, dann kommt es zu den Extremen. Beispielsweise zum

 

1. verklemmten Muttersöhnchen mit der Persona absoluter Korrektheit (und der Handhaltung wie eine betende Maria)

 

2. zum verstossenen Muttersöhnchen mit der Persona des Märtyrers,

 

3. zum seelisch Geschädigten oder körperlich Misshandelten mit der Persona des Gleichgültigen oder Unerschütterlichen.

 

Wenn dagegen die Persona weder allzu starr, noch allzu überheblich, noch allzu bemitleidenswürdig ist, dann ist auch der Schatten nicht so dramatisch.

Und die Anima ist nicht so extrem. Statt dass sich dann Maria und die Hexe, eine Göttin und eine Dirne gegenüberstehen, bleibt das Frauenbild in einem engeren Rahmen. Nicht mehr masslose Idealisierung und Verachtung machen die Anima aus, sondern sie wird zu einer Frau mit Vorzügen und Nachteilen, die weder verehrt noch gehasst werden, sondern als "weiblich" akzeptiert.

 

Freilich: Damit es dazu kommt, muss die Weltvermittlung auf den verschiedenen Stufen in den ersten 20 Lebensjahren gelingen, und hernach ist auf eigenen Füssen der ebenso schwierige Weg der Selbstwerdung zu beschreiten.

 

Literatur

C. G. Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Zürich: Rascher 1963 (= BIU; zuerst 1928).

C. G. Jung: Psychologie und Religion. Zürich: Rascher 1962 (= PR; zuerst 1940).

Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Zürich: Rascher, 4. Aufl. 1959 (zuerst 1939).

Frieda Fordham: An Introduction to Jung's Psychology. London: Penguin Books 1953;
dt.:
Eine Einführung in die Psychologie C. G. Jungs. Zürich: Rascher 1959.

C. G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. Zürich: Rascher 1962 (= ETG).

Liliane Frey-Rohn: Von Freud zu Jung. Eine vergleichende Studie zur Psychologie des Unbewussten. Zürich: Rascher 1969.

Jürg Willi: Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt 1975.

 

 

 

 

Teil 5: Wie ich den andern Menschen sehe

 

Es begegnen einander zwei reagierende Menschen

...

Man kann das Wahrnehmen als eine schöpferische Synthese bezeichnen. Sie beruht auf einer Wechselwirkung: Das Objekt wirkt auf vielfältige Art, und das Subjekt konstruiert es in sich nach. Sie ist auch ein ganzheitlicher Vorgang, da daran körperliche, seelische und geistige Prozesse beteiligt sind.

 

Wir können also sagen: In einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Zusammenhang ist das, was wir sehen, Realität für uns.

 

Dieselben Vorgänge spielen sich nun ab, wenn wir einem Menschen begegnen. Nur ist die Sache da noch viel komplizierter, denn der andere Mensch ist nicht bloss ein Gegenstand, sondern ein Mensch, der sich in der bestimmten Situation verhält, etwas tut. Er hat wie wir ein Innenleben, das sich auf vielfältige Weise ausdrückt. Er hat wie wir Erfahrungen mit andern Menschen, Absichten und Erwartungen. Er reagiert auf unser Verhalten, z. B. indem er sich uns nähert oder sich von uns abwendet, indem er spricht oder uns in die Augen schaut.

 

Folgendes müssen wir uns immer vor Augen halten: So kurz eine Begegnung sein mag:

 

1. Es begegnen einander immer zwei ganze Menschen.

 

2. Auch der andere sieht und beurteilt uns; und er reagiert auf unser Verhalten, wie wir auf seines (Reziprozität).

 

3. Wir nehmen einerseits weniger wahr als wir wollen, anderseits aber auch mehr. Die Persona des andern deckt sich nicht mit unserem Eindruck von ihm. Oder: Der Eindruck, den jemand erwecken möchte, entspricht nicht genau dem, den er tatsächlich macht.

 

4. Schon der erste Eindruck ist eine schöpferische Synthese aus einer Wechselwirkung.

 

5. Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst Wahrnehmung und Beurteilung: z. B. unsere Erziehung, Erfahrungen und Fähigkeiten, die Situation selber und die Begleitumstände, wie wir uns selber fühlen, geben und verhalten.

 

Der erste Eindruck beruht auch auf der Ausstrahlung

 

Ich kann hier keinesfalls auf alles eingehen. Ich möchte aber daran erinnern, was wir in der letzten Stunde bereits über den ersten Eindruck herausgefunden haben:

 

Wir sehen nicht nur die Persona des andern Menschen, sondern spüren auch noch etwas anderes, z. B. eine Ausstrahlung, die uns argwöhnisch macht oder uns anzieht. Dieses Gefühl kann am Anfang unterschwellig sein. (Erst lange Zeit später kann es zum Bewusstsein kommen.)

Die Maske sitzt also nicht ganz dicht. Gerade wenn sie starr und künstlich ist, dringen an den unteren Rändern die durch sie verborgenen Tendenzen durch: Teile des vom Personaträger nicht akzeptierten Schattens, Teile seiner undifferenzierten Anima. Man spürt etwas "Unheimliches", vielleicht sogar Böses, man spürt Gelüste oder Verachtung. Manches schliesst man auf Grund von Handbewegungen, Nebensätzen oder einer hingeworfenen Bemerkung, eines Gesichtsausdrucks usw.

 

Nun haben aber die Psychologen etwas Erstaunliches herausgefunden: Gemeinsame Charakterzüge werden richtiger beurteilt als andere. Z. B. sei die Leichtigkeit auffallend, mit der Perverse oft ihre möglichen Partner herausfinden (P. R. Hofstätter, 1957, 98).

In der Jungschen Sprache könnte man also sagen: Mein Schatten hat ein besonderes Sensorium für den Schatten des andern.

 

Dieses erste ganz undeutliche Gefühl der Abneigung oder Sympathie beeinflusst aber oft unsere weiteren Begegnungen mit dem andern Menschen:

 

1. Es entscheidet in vielen Fällen, ob wir uns dem andern überhaupt weiter zuwenden oder ihn "links liegen lassen", weil er uns nicht anspricht, nicht interessiert oder abstösst.

 

2. Wenn wir weiter mit dem andern zu tun haben, erwarten wir insgeheim, dass sich unser erster, unbewusster Eindruck bestätigt, oder dass er widerlegt wird, wenn wir nämlich starke und bestimmte Absichten mit der Begegnung verbinden.

 

3. Wir können aber auch unsere Erwartungen stur durchhalten und auf alle Arten versuchen, den andern nach ihnen zu modeln: Der Vorgesetzte erwartet vom Mitarbeiter einfach das und das, der Mann von seiner Freundin, dass sie so sei, dies tue und jenes lasse.

 

Was läuft bei ersten Eindruck alles ab?

 

Beim ersten Eindruck von Menschen findet auch ein Schliessen von der Aussenseite auf das Innere statt.

Wie können wir vom Äusseren auf das Innere, von der Persona auf das Wesen schliessen? Da gibt es einige Erkenntnisse:

 

1. Es gibt Menschen, die man gut beurteilen kann ("offen daliegende") und andere ("rätselhafte"). Zu den schwer beurteilbaren gehören interessanterweise gerade gute Menschenkenner selber.

 

2. Vorkenntnisse über eine Person oder hervorstechende Merkmale verschieben den ganzen Eindruck in eine positive oder negative Richtung. Das heisst: "Halo-Effekt". Die auffällige Eigenschaft gruppiert die andern Eigenschaften wie einen Hof um sich.

 

3. Ähnliches gilt für die Rolle, in der jemand uns begegnet: Je nachdem ob er Vorgesetzter, Kollege, Berater oder Rivale ist, je nachdem welchen Beruf er hat, beeinflusst das unseren Eindruck von ihm (Rollen-Eindruck). Hier wirken "Stereotype".

 

4. Gefühle werden in der Regel recht gut erschlossen. Aber man muss aufpassen. Schon ein Lächeln kann Ausdruck von Freude, Belustigung, Verlegenheit, Uninteressiertheit usw. sein. Viele Ausdrücke sind also mehrdeutig.

 

5. Manche Ausdrucksbewegungen und Verhaltensweisen sind gegenläufig ("double-bind"). Bekannt ist das Beispiel der Mutter, die ihr Kind streichelt, es aber wütend anschaut. Das soll zur Schizophrenie führen (Paul Watzlawick; Gregory Bateson et al. 1969; vgl. Roland Asanger 52, 228f).

 

6. Vor allem im Gespräch sind zwei Ebenen zu unterscheiden:

Die Inhaltsebene und die Beziehungsebene. Der Inhalt enthält das, was gesagt wird, die Beziehungsebene das, was damit gemeint ist und den Gefühlston. Mancher kann nicht gut formulieren, aber wir glauben zu spüren, was er sagen will.

Grundsätzlich bleiben aber sowohl beim Redner wie beim Zuhörer drei Fragen nie ganz zu klären:

a)     Sagt er, was er (tatsächlich) meint?

b)     Weiss er (überhaupt), was er sagt?

c)      Meint er das (wirklich) so, wie er es sagt?

 

7. Intelligenz und sympathisches Wesen oder Tatkraft hängen im einzelnen Wesen nicht zusammen. Dennoch schliessen wir, wenn wir einen Menschen als freundlich oder tatkräftig erleben auf Intelligenz (Egon Brunswik 1947). Oder wir meinen, wer "warmherzig" sei, sei auch "grosszügig".

Dabei scheinen diese Schlüsse von einer Eigenschaft auf eine andere (Implikation) geschlechtsspezifisch zu sein. Bei Männern wird "gutes Aussehen" mit Intelligenz und vor allem Energie zusammen gesehen. Bei Frauen dürfte dies kaum der Fall sein.

 

In jüngerer Zeit hat man zur Erklärung dafür folgende Theorie entwickelt. Der einzelne Mensch, also auch der Beobachter, verfügt in seinem Kopf über eine naive "implizite Persönlichkeitstheorie" (G. A. Kelly 1955). Diese enthält Vermutungen darüber, wie einzelne Merkmale oder Eigenschaften beim Menschen zusammenhängen. Und demzufolge schliesst er von einer Eigenschaft auf das Vorhandensein anderer. Das kann soweit gehen, dass wir behaupten: "Rothaarige sind hinterhältig" (P. R. Hofstätter, 1963, 369).

 

8. Eine weitere Tendenz besteht in der Annäherung der Eindrücke an einen uncharakteristischen Mittelwert (central tendency judgment). Die Scheu vor Extrem-Urteilen oder davor, sich zu irren, ergibt "Grau-in-Grau"-Zeichnungen eines bestimmten Gegenübers, also ein Eindrucksbild, das auf viele andere Personen auch zutreffen könnte.

Etwas Vergleichbares sind z. B. die meist sehr allgemein gehaltenen astrologischen Horoskope.

 

9. Die Anzahl der Merkmale, mit der wir unseren ersten Eindruck beschreiben, ist meist recht klein. Sie hängt nach neueren Theorien mit unserer "kognitiven Strukturiertheit", genauer der "kognitiven Komplexität" zusammen: Je differenzierter unser geistiges Innenleben ist, desto differenzierter beurteilen wir auch andere Menschen.

 

Das ist auch bei den Typisierungen zu beachten. Psychologie, Medizin und Philosophie haben Dutzende von Menschentypen "entdeckt" und beschrieben, der Volksmund weitere Dutzende.

Welchen Typ man in einem einzelnen Menschen vermutet hängt also auch vom Wissen ab, vom Wissen auch, dass es kaum reine Typen gibt und dass der Mensch beileibe kein einfaches Wesen ist.

 

10. Eine weitere Theorie ist die "Attribuierungstheorie" (Fritz Heider 1944ff). Sie besagt, dass ich bei der Beobachtung eines anderen Menschen Ursachen für sein Verhalten herausfinden möchte. Ich vermute Persönlichkeitszüge, Einstellungen, Erfahrungen, Absichten, Motive, Begabungen hinter seinem Verhalten.

 

Der andere ist ein Griesgram oder Miesepeter, er sieht alles negativ oder hat Schweres durchgemacht, er hat Finsteres im Sinn oder ist von einem grimmigen Ehrgeiz besessen.

Hier kann der "Schatten" einen grossen Einfluss haben.

 

11. Mit der Zunahme der sozialen Distanz nimmt die Unterschiedsempfindlichkeit ab - und umgekehrt. Ersteres zeigt sich etwa in der Behauptung: "Alle Japaner sehen gleich aus und sind gleich." Das Umgekehrte zeigt sich beim engeren Zusammenleben. Da entdecken wir immer mehr am andern und modifizieren unser Urteil - wenigstens zu einem gewissen Grad.

 

12. Wichtig sind schliesslich auch die persönlichen Bezugspunkte für unsere Eindrucksurteile. Sie rühren vor allem von unserer Erfahrung einerseits, der Gruppe, der wir zugehören anderseits und drittens von unserer Position her.

Wer sich täglich, beruflich mit Behinderten abgibt, für den macht schon ein unauffälliger anderer Mensch einen gesunden, starken, schönen Eindruck (vgl. Roland Asanger, 537; P. R. Hofstätter 1963, 378ff).

Oder: Personen unserer Gruppe beurteilen wir nachsichtiger, Angehörige einer als "Feinde" betrachteten Gruppe dagegen unisono als "dumm", "schlecht", "herzlos".

Oder: Für eine Führerfigur sind die andern einfach "die Masse", "das Volk"; ein Direktor äussert sich über seine vielen Arbeiter: "Hauptsache, sie machen ihre Arbeit recht!"

 

Was können wir als Fazit aus diesen Forschungsergebnissen, Thesen und Theorien für den Alltag festhalten?

"Methoden, mit denen man den Charakter eines Menschen rasch und sicher feststellen kann, gibt es nicht" (Hubert Rohracher 1956).

 

Die Fülle von Erwartungen

 

Erwartungen sind etwas vom Wichtigsten in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Leben überhaupt. Das fängt schon vor der Geburt eines Kindes an.

Vater und Mutter, aber auch die künftigen Grosseltern erwarten allerlei: Es soll ein Bub oder ein Mädchen sein, es soll gesund sein, Freude machen, Vater und Mutter näher zusammenbringen oder einen Beweis erbringen, dass beide schon etwas Rechtes zustandebringen können usw.

 

Und bald nach der Geburt geht es mit den Erwartungen weiter: Reinlichkeit, ordentliches Benehmen, nicht zu laut und nicht zu leise, Vorsicht, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit - fast beliebig lässt sich dieser Erwartungskatalog fortsetzen: gute Leistungen in der Schule und später im Beruf, den richtigen Partner nach Hause bringen, eine gute Ehe führen, die Kinder zu tüchtigen Menschen erziehen.

Und wenn die Kinder des einstigen Kindes selber flügge und seine Grosseltern mittlerweile alt geworden sind, erwarten diese oft Unterstützung und Pflege.

 

Ähnliche Erwartungen hegt der einzelne Mensch freilich auch selber: gegenüber den Eltern und Grosseltern, aber auch gegenüber Spielkameraden und Lehrern, später Lehrmeistern und Vorgesetzten, Kollegen und Partnern, Beamten und Funktionären, Politikern und Wirtschaftsführern.

 

Die Fülle von Erwartungen an alle Art Menschen ist unabsehbar. Und doch ist sie kein zentrales Thema der Psychologie. Ich habe kein einziges Buch darüber gefunden. Gewiss spricht die Soziologie viel von den "Rollenerwartungen". Aber das ist gewissermassen der Blick von aussen. Wie die Erwartungen zustande kommen, wie die damit verbundenen Rollen und die Persona, darüber schweigt sie sich aus.

 

Erwartungen äussern sich in Sanktionen

 

Immerhin gibt uns die Soziologie einen Hinweis durch den Begriff "Sanktion". Das heisst, wenn ein Rollenträger die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllt, wird er belohnt, andernfalls bestraft.

 

Belohnung und Strafe haben in der psychologischen Theorie vom Lernen eine grosse Bedeutung. Es hat sich dabei ergeben, dass Belohnung wirksamer ist als Strafe. Erwartungsgemässes Verhalten wird also durch Belohnung gelernt.

 

Warum aber wird unerwünschtes Verhalten durch Strafe nicht vermindert?

·        Erstens, weil es in so und so vielen Fällen gar nicht gesehen und damit auch nicht bestraft wird. Die ausbleibende Strafe kann als Belohnung empfunden werden: Das unerwünschte Verhalten hatte Erfolg.

·        Zweitens wird nicht alles, was als Strafe gemeint ist, als solche empfunden. Wir kennen das von Kindern: Wir sagen dann: "Es wollte nur Aufmerksamkeit erregen." Das trifft zu: Es empfindet das Schimpfen als Belohnung. Da müssen wir uns aber fragen: Erhält das Kind denn sonst von uns nicht genügend Zuwendung, oder nicht die richtige?

 

Sanktionsmechanismen spielen auch in der Partnerschaft. Manches von dem, was wir tun und sagen, ist als Bestrafung dafür gedacht, dass der andere eine Erwartung nicht erfüllt. Das Spiel lautet: "Wenn du das nicht willst, dann will ich dafür dies nicht." Oder: Wenn man einander nichts mehr zu sagen hat, genügt der kleinste Anlass, dass man einander beschimpft. Im Schimpfen aber wenden sich beide einander wenigstens zu.

 

In vielen Erwartungen können auch Bilder wirksam werden, z. B. Anima resp. Animus. Wenn die Frau sich nicht als "verführerische Geliebte" oder "attraktives Schmuckstück" des Mannes herausstellen will, reagiert er mit Abwendung, Resignation, Griesgrämigkeit. Analoges kann sich bei der Frau einstellen, wenn der Mann nicht der entschlossene, energische Held ist, sich von Vorgesetzten und Nachbarn drangsalieren lässt.

Aber auch, wenn die Frau nicht die tüchtige Hausfrau und gute Mutter, der Mann nicht der liebevolle Vater und zuvorkommende Kavalier ist, geschieht dasselbe.

 

Indem man sich von ihm abwendet, lernt aber der Partner gar nichts! Auch nicht durch Strafe, und schon gar nicht durch Zwang.

 

Gemeinsame "Bildentwicklung"

 

Was gilt es denn zu tun? Der Wunsch, das Bild muss zwischen beiden auf den Tisch gestellt und mit viel Geduld diskutiert werden.

Das kann Jahre in Anspruch nehmen. Als Leitlinie kann das bekannte Motto dienen: "Hilfe zur Selbsthilfe". Das bedeutet: Gemeinsam sollen beide Partner durch das offene Gespräch etwa durch die Erörterung der Bilder sowie der Hemmnisse und Ängste, dem andern die Möglichkeit geben, selber und auf seine Weise die vom andern gehegte Erwartung zu erfüllen.

 

Das Wort "selbst" gibt einen Hinweis auf den von Jung beschriebenen Weg der Selbstwerdung, der 'Individuation". Und da wir von Jung wissen, wie viel ungehobene Schätze, Kräfte und Möglichkeiten in uns schlummern, können manche Erwartungen des Partners dereinst aus eigener Überzeugung erfüllt werden.

 

Benütze ich den andern Menschen als Mittel zum Zweck?

 

Das ist aber nur die Hälfte der Sache. Man muss sich bewusst sein, dass in der Kindheit und Jugend nicht nur erwartetes Verhalten gelernt wird, sondern auch Erwartungen selber. Und zwar auf zwei Weisen:

 

1. Durch Beobachtung (Albert Bandura 1969), z. B. des Umgangs der Eltern, der Erwachsenen überhaupt. Das Kind sieht, wie erwartetes Verhalten belohnt wird, und konstruiert daraus Erwartungen, die offenbar Erwachsene aneinander stellen (vgl. Petra Wollschläger 1981, 65f).

 

2. Edward Chace Tolman hat schon 1932 behauptet, wir lernten nicht eine Serie von Verhaltensweisen, sondern Erwartungen, und zwar als Zusammenhänge zwischen aktuellen Situationen oder Gegebenheiten und einem gewünschten Ziel. Diese Erwartungen bildet das Lebewesen in seinem Kopf als "kognitive Landkarte" (cognitive map) ab.

 

Die Situationen dienen auf dieser Landkarte als "Zeichen" für das Ziel. Es gibt viele drastische Beispiele für das Funktionieren solcher kognitiven Landkarten: So werden z. B. häufig von Männern bestimmte Auffälligkeiten einer Frau, etwa die Art der Bekleidung, der Besuch einer Bar, ein interessierter Blick oder der nächtliche Heimweg als "Zeichen" dafür genommen, dass sie bereit sei, zur Befriedigung eines männlichen Bedürfnisses herzuhalten.

 

Dieses etwas plumpe Beispiel enthüllt, dass Rollenerwartungen und Erwartungen in Hinblick auf ein Ziel gar nicht so weit auseinander liegen.

 

Stecken etwa hinter meinen Erwartungen an andere Menschen meine eigenen Ziele, und hinter diesen wiederum meine Absichten und Bedürfnisse?

Wenn ja, hiesse das, dass ich häufig andere Menschen als Mittel zum Zweck, zu meiner Bedürfnisbefriedigung benütze.

Das sind unangenehme Fragen: Aber über sich selber nachzudenken, kann nicht schaden.

 

Woher kommen die Rollenerwartungen?

 

Wir können freilich zuerst ausweichen und entgegnen: "Aber Rollenerwartungen sind doch allgemein! Es ist doch ganz natürlich, dass wir vom Kind Reinlichkeit und Dankbarkeit erwarten, vom Buben Mut und vom Mädchen Anpassungsfähigkeit, vom Geschäftsmann Umsicht und Entschlusskraft, von der Mutter Hausarbeit und Kinderpflege, Verzicht und Hingabe, vom Mitarbeiter Fleiss und Pflichterfüllung."

 

Solche Erwartungen sind in der Tat weit verbreitet. Wir haben sie als "Stereotype", einige auch als Erscheinungen von Anima resp. Animus kennengelernt. Sind sie deshalb aber natürlich, zwingend? Natürlich sind sie auf den ersten Blick schon, das zeigt sich nicht nur an ihrer Verbreitung, sondern auch darin, dass sie unseren Bedürfnissen entgegenkommen.

Halt. Wessen Bedürfnissen kommen sie entgegen? Etwa den Bedürfnissen des jeweils Stärkeren in einer menschlichen Beziehung: den Eltern, dem Mann, dem Vorgesetzten? Also wären Rollenerwartungen ein Abbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse?

 

Wir können also der Frage ausweichen: "Benütze ich andere Menschen als Mittel zum Zweck?" Aber wir geraten dann ebenfalls wieder in Fragen, eben z. B.: "Sind Rollenerwartungen natürlich oder durch die Gesellschaft geformt?"

 

Das ist es aber gerade, was unausweichlich ist, wenn man sich mit Erwartungen - mit "Menschenbildern" - mit menschlichen Beziehungen auseinandersetzt: Man muss sich über kurz oder lang mit sich selber wie mit der Gesellschaft, in der man lebt, befassen. "Vorstellungen des Menschen über den Menschen" kann man sich nicht einfach wie ein anderes Thema vortragen lassen. Es betrifft einem selber, jeden von uns.

 

Menschenkenntnis heisst ja nicht nur: andere Menschen erkennen, einschätzen und beurteilen, Menschenkenntnis heisst auch: sich selber kennen. Vielleicht ist die Erkenntnis anderer Menschen erst möglich, wenn man sich selber etwas kennen zu lernen versucht hat.

Diese Selbsterforschung kann aber keiner allein durchführen. Er braucht dazu ein Gegenüber, dem er sich im Gespräch öffnet und mit dem zusammen er zu sich selbst findet.

 

 

Literatur

(siehe auch bei Teil 1)

 

a) Allgemein

 

Ludwig Eckstein: Psychologie des ersten Eindrucks. Leipzig: Barth 1937.

Johann Sebastian Dach: Der erste Eindruck. Seine Bedeutung und Bedingtheit. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1937.

Peter. R. Hofstätter: Psychologie. Fischer-Lexikon. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1957.

Fritz Heider: The Psychology of Interpersonal Relations. New York, 1958.

Renato Tagiuri, Luigi Petrullo (Hrsg.): Person Perception and Interpersonal Behavior. Stanford, Calif. 1958.

Gerhard Kaminski: Das Bild vom Anderen. Berlin: Lüttke 1959.

Peter R. Hofstätter: Einführung in die Sozialpsychologie. Stuttgart: Kröner, 3. Aufl. 1963.

Reinhold Bergler: Psychologie stereotyper Systeme. Ein Beitrag zur Sozial- und Entwicklungspsychologie. Bern: Huber 1966.

Paul Watzlawick: Pragmatics of human communication. New York: W. W. Norton 1967;
dt.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber 1969, zahlreiche Aufl.

Klaus R. Scherer: Nonverbale Kommunikation. Ansätze zur Beobachtung und Analyse der aussersprachlichen Aspekte von Interaktionsverhalten. Hamburg: Buske 1970, 3. Aufl. 1973.

Mark Cook: Interpersonal Perception. Harmondsworth: Penguin Books 1971.

Ted L. Huston (Hrsg.): Foundations of Interpersonal Attraction. New York: Academic Press 1974.

M. Fishbein, I. Ajzen: Belief, Attitude, Intention and Behavior. An Introduction to Theory and Research. Reading, Mass.: Addison-Wesley 1975.

Steve Duck (Hrsg.): Theory and Practice in Interpersonal Attraction. London: Academic Press 1977.

B. Köhler: Die aktuelle Bedeutung der körperlichen Erscheinung. In Lutz H. Eckensberger: Bericht über den 31. Kongress der DGPs in Mannheim 1978. Göttingen: Hogrefe 1979.

Klaus R. Scherer, Harald G. Wallbott (Hrsg.): Nonverbale Kommunikation. Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten. Weinheim: Beltz 1979, 2.Aufl .1984.

Roland Asanger, Gerd Wenninger (Hrsg.): Handwörterbuch der Psychologie. Weinheim: Beltz 1980, 3. Aufl. 1983.

Johannes von Buttlar: Unsichtbare Kräfte. Was Menschen zueinander führt und was sie trennt. München: Droemer Knaur 1984.

 

b) Partnerwahl, Frauenbild

 

Ulrich Moser: Psychologie der Partnerwahl. Bern: Huber 1957.

H. Knussmann: Konstitution und Partnerwahl. Homo 11, 1960.

Josef Rattner: Psychologie der Frau. Die moderne Frau zwischen Mythos und Wirklichkeit. Zürich: Classen 1969.

Robert F. Winch: Mate-Selection. A Study of Complementary Needs. New York: Harper 1958, Nachdruck Dubuque, Iowa: Brown Reprints 1971.

Desmond Morris: Intimate Behavior. New York: Random House 1971;
dt.: Liebe geht durch die Haut. Die Naturgeschichte des Intimverhaltens. München: Droemer Knaur 1972.

Thomas Held, René Levy: Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft. Eine soziologische Analyse am Beispiel der Schweiz. Frauenfeld: Huber 1974, 2. Aufl. Diessenhofen: Rüegger 1983.

Karin Hausen: Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere". In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas . Stuttgart: Klett 1976.

Marielouise Janssen-Jurreit: Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage. München: Hanser 1976, mehrere Aufl.

Frank Wesley, Claire Wesley: Sex role psychology. New York: Human Sciences Press 1977;
dt.: Das Rollendiktat. Zur Psychologie der Geschlechter. Frankfurt am Main: Goverts 1978.

Mark Cook, Robert McHenry: Sexual attraction. An international conference. Oxford: Pergamon Press 1977.

Annemarie Allemann-Tschopp: Geschlechtsrollen. Versuch einer interdisziplinären Synthese. Bern: Huber 1978.

Helge Pross: Die Männer. Eine repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau. Reinbek: Rowohlt 1978, erneut 1984.

Marianne Wex: "Weibliche" und "männliche" Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse. Frankfurt: Selbstverlag 1979, 2. Aufl. 1980.

Mark Cook (Hrsg.): The Basis for Sexual Attraction. London: Academic Press 1981.

Petra Wollschläger: Geschlechterstereotype. Frankfurt: Peter Lang 1981.

Andreas Giger: Mann und Ehefrau. Das Verhältnis des deutschen Mannes zu Ehe, Frau und Sexualität im Spiegel von Befragungsdaten. Bern: Haupt 1981.

J. Kellerhals et al.: Mariages au Quotidien. Inégalités sociales, tensions culturelles et organisation familiale. Lausanne: Pierre-Marcel Favre 1982.

Regina Wecker: Frauen in der Schweiz: Von den Problemen einer Minderheit. Zug: Klett und Balmer 1983.

 

 

 

Teil 6: Stereotype

 

Stereotype leiten, regulieren und stabilisieren

 

Es wäre schön, wenn wir sagen könnten: So sehen wir einen Gegenstand oder einen Menschen richtig, und so falsch, verzerrt.

Nun sind aber Wahrnehmung und Eindruck ganzheitliche Vorgänge, in denen physiologische Vorgänge, persönliche Befindlichkeiten und Erfahrungen, Eigenheiten des Objekts und der Situation eine fast unlösbare Verknüpfung eingehen. Unzählige Einflüsse sind genau im selben Moment wirksam, äussere und innere, solche aus der Vergangenheit wie aktuelle.

 

Ich will dies nicht mehr alles erneut aufrollen, sondern ich möchte heute über Stereotype sprechen. Wir können sie auch als Vorurteile, Meinungen oder Einstellungen, Vorstellungen oder Klischees, Bilder oder Schablonen bezeichnen.

 

Wie wir das nennen, ist nicht so wichtig; wichtig ist vielmehr, was Stereotype alles beeinflussen und worauf sie sich beziehen. Sie

 

1. beeinflussen einander, ja manche sind sogar korrelativ, das heisst, miteinander so verbunden, dass der einen Seite fehlt, was der andern zugeschrieben wird. Also Stereotype für die Gruppe, der ich zugehöre (Wir", Eigengruppe) und solche für die andern ("Fremdgruppen") oder:

Freund - Feind, Eltern - Kind, Lehrer - Schüler, Vorgesetzter - Untergebener, Mann - Frau, Regierung und Regierte.

 

2. strahlen aus: Wenn ich ein negatives Bild von den Italienern habe, finde ich alle, die südlich von uns wohnen, unsympathisch. Oder anders: Stereotype treten in Bündeln auf. Man spricht von einer generellen Vorurteilsbereitschaft.

 

3. beeinflussen unser Selbstbild, unser Rollenverständnis, unsere Wünsche, z. B. Berufs- und Partnerwünsche.

 

4. beeinflussen unsere Wahrnehmung und Auffassung. Vieles wollen wir gar nicht sehen oder hören. Aber auch die Beurteilung des Erlebten in inneren oder äusseren Stellungnahmen, also z. B. in Meinungen und Meinungsäusserungen wird beeinflusst.

 

5. beeinflussen unser Verhalten: Wir meiden jemanden, benachteiligen ihn (Diskrimination), versuchen ihn gar zu vertreiben oder auszulöschen, zu vernichten.

 

6. festigen den Wir-Gruppen-Zusammenhalt und prägen bestimmte Gruppennormen.

 

7. regeln das Zusammenleben der Menschen, insbesondere das gemeinsame und gegenseitige Verhalten. Wir erwarten von andern nicht ein unmotiviertes und überraschendes Verhalten, sondern eines, das vorhersehbar ist, das den Umständen Rechnung trägt und der Rolle angemessen ist.

 

8. beeinflussen zahlreiche kulturelle Tätigkeiten von der psychologischen Forschung (z. B. Roland Asanger, 18-21, 242-7, 324-9, 366-70, 550-61) über die Kunst bis zur Philosophie (Michael Landmann, 7-10).

 

9. stabilisieren die gesamte Gesellschaftsstruktur, z. B. Arbeitsteilung, Staats- und Regierungsform, aber auch Institutionen wie Schule, Familie, Ehe, Kirche.

 

10. bestimmen auch die internationalen Beziehungen, politische Meinungen und Entscheide.

 

Vom Individuum über die Gruppe bis zur Gesellschaft und Weltpolitik sind also Stereotype wirksam, und zwar meist im Sinne einer Stabilisierung und Kontinuität von Erleben, Denken und Verhalten einerseits, Strukturen und Institutionen anderseits.

 

Worauf beziehen sich Stereotype?

 

Stereotype oder Vorurteile sind allgegenwärtig und daher auch in jedem Menschen anzutreffen und wirksam. Wie wenig uns das bewusst ist, zeigt ein Satz im "Handwörterbuch der Psychologie" (Roland Asanger, 539): "Das Vorurteil der eigenen Vorurteilslosigkeit ist das hartnäckigste Vorurteil überhaupt."

 

Worauf beziehen sich Stereotype?

 

1. Eigenschaften, Fähigkeiten, Wesenszüge, Unzulänglichkeiten: Und zwar sind es Annahmen darüber. Wir nehmen an, dass Frauen schwach und nachgiebig, Männer stark und hart sind.

Auf Grund dieser Eigenschaften kann ich mich selber und andere Menschen einer Gruppe zuordnen.

 

2. Verhaltensweisen: Ich behaupte, Frauen sitzen doch den ganzen Tag vor dem Spiegel, Franzosen im Bistro, Jugendliche in der Disco.

 

3. Bedürfnisse, Interessen, Absichten, Ziele: Ich vermute oder behaupte gar: Die Männer oder die Frauen wollen doch alle nur dasselbe. Oder: Die Atomlobby will doch nur das grosse Geschäft.

 

4. Positions- und Lebensraumzuschreibungen: Ich fixiere jemanden auf eine bestimmte Position. Ein Arbeiter kann doch nie Direktor werden, ein Gastarbeiter gehört in die Werkstatt, die Frau ins Haus. Oder grundsätzlich: Die sollen nur unter sich bleiben und uns nicht stören.

 

5. Rollen, Aufgaben, Pflichten: Es gehört sich nicht, dass Mädchen aggressiv sind, Knaben mit Puppen spielen. Mädchen sollen im Haushalt helfen, Knaben dem Vater beim Autowaschen oder Basteln.

 

6. Funktions- oder Nutzenerwartungen: Die Ehefrau ist dazu da, dass sie dem Mann ein gemütliches Zuhause verschafft, seine Hemden wäscht und plättet, sich ihm hingibt, wenn er ein gewisses Bedürfnis verspürt. Der andere Mensch wird nach seinem Nutzen gesehen, als Dienerin, Arbeitskraft, Konsument.

 

7. Verhaltensregeln und eigene Rollenerwartungen für den Umgang mit andern Menschen: Gegenüber weiblichen Schwächen soll man nachsichtig sein. Aber manchmal ist es gerade erlaubt, Schwächen von andern auszunützen. Personen in niedrigen Positionen darf man schon übervorteilen, solche in höheren Positionen besser nicht. Kinder darf man, wenn es nötig ist, schon einmal belügen oder schlagen, Kinder selben dürfen dies nicht.

Solche Verhaltensregeln bestimmen aber auch die ganze Erziehung. Sie besagen, was man von einem Kind verlangen darf und soll.

 

8. Mit den meisten bisher erwähnten Annahmen, Zuschreibungen und Erwartungen sind auch Bewertungen verbunden: Etwas ist tierisch, unmenschlich, minderwertig, fällt aus der Reihe. Oder umgekehrt: Das und das ist erwünscht, dieses ist ein Privileg der Männer, des Führers, des Stärkeren und daher gut oder richtig.

 

9. Stereotype sind häufig mit emotionalen Stellungnahmen verbunden: Ich mag Italiener oder Manager nicht; kleine Kinder sind mir sympathisch oder lästig. Ich kann mich auch durch andere bedroht fühlen, oder aber: Weil ich zu einer bestimmten Personengruppe gehöre, fühle ich mich minderwertig oder erhaben. Ich kann mir aber auch wünschen, so zu sein.

 

10. Für alle neun genannten Punkte kann ich Begründungen angeben: Die Mutterrolle der Frau ist von Gott vorgesehen, dass sie sich dem Mann unterordnet, ist völlig natürlich, dass sie den Haushalt führt selbstverständlich, dass sie die Hemden wäscht notwendig, dass sie in ihren Gedanken sprunghaft ist, gehört zu ihrem Wesen, dass sie nur mit dem Einverständnis ihres Mannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen darf ,ist im Gesetz festgelegt, und dass sie die Familie zusammenzuhalten versucht ist doch vernünftig.

 

Stereotype betreffen also ganz unterschiedliche Sachverhalte, und es ist manchmal schon sinnvoll sich zu fragen, auf was sie sich im besondern Fall, z. B. beim ersten Eindruck richten.

Das Ärgerliche ist nur, alle diese Aspekte hängen auch sehr eng miteinander zusammen.

 

Literatur

Michael Landmann: Philosophische Anthropologie. Berlin: De Gruyter, Sammlung Göschen Nr. 156/156a, 1955, 5. Aufl. 1982.

Roland Asanger, Gerd Wenninger (Hrsg.): Handwörterbuch der Psychologie. Weinheim: Beltz 1980, 3. Aufl. 1983.

 

 

 

Teil 7: Stereotype in der Werbung

 

In der Werbung gibt es drei Arten von Stereotypen

 

Die Werbung ist ein Bereich, in dem besonders viele Stereotype wirksam sind:

 

1. Wir haben ganz bestimmte Vorstellungen von Werbung und von den Werbeleuten.

2. Die Werbeleute haben ganz bestimmte Vorstellungen von den Leuten, an die sie ihre Werbung richten.

3. Die Werbeleute benützen in ihrer Werbung mit Vorliebe Stereotype.

 

Diese Vorstellungen, Bilder, Stereotype sind sehr verschieden voneinander.

 

Vorurteile gegenüber der Werbung

 

Zuerst zu unserer schlechten Meinung über die Werbung. Grundsätzlich vermuten wir, sie hielten uns für dumm oder appellierten an niedrige Instinkte oder Gefühle.

 

Einige Stereotype lauten: Werbung

 

1.

  • ist nicht glaubwürdig

  • gibt kein glaubwürdiges Bild von dem entsprechenden Produkt

  • ist nicht die richtige Informationsquelle für ein Produkt

  • verteuert die Produkte

  • verführt die Leute, etwas zu kaufen, was sie gar nicht brauchen und auch nicht wollen

 

2.

  • muss Informationen über das Produkt liefern

  • soll verständlich, übersichtlich, sachlich sein

  • soll über den Nutzen bzw. die Leistung eines Produkts berichten (Hans Mayer et al. 1982, 83ff).

 

Und was für ein Bild haben wir vom Werbepsychologen? Er ist mächtig, einflussreich, skrupellos - ein "geheimer Verführer" (Lutz von Rosenstiel, 1973, 15). Man könnte da noch viel vorbringen.

 

Drei Argumente dagegen möchte ich Ihnen aber nicht vorenthalten.

 

Das erste lautet, wenn die Werbung nicht glaubwürdig ist, warum fallen denn so viele darauf herein? Warum lassen wir uns denn verführen?

 

Das zweite Argument lautet: Wenn die Werbeleute soviel Macht und soviel Erfolg mit ihrer Werbung haben, weshalb verstehen sie es dann nicht, ein gutes Bild von ihnen selbst zu verbreiten?

 

Das dritte Argument geht vom Wirtschaftlichen aus. Ausgerechnet ein Soziologieprofessor hat für die Werbung eine Bresche geschlagen. Er meint:

 

- Werbung ist notwendig für den Wettbewerb, d. h. für das Marktgeschehen; sie bildet selbst einen Markt für Produkte und Dienstleistungen.

- Werbung kürzt Zeit und Wege ab für den Käufer, der ein bestimmtes Produkt sucht.

- "Allgemein hat die Industriewerbung in diesem Jahrhundert sämtliche auf dem Markt erscheinenden 'Luxusgüter' durch Erzielen eines Massenmarktes, eines grossen Absatzes verbilligt, zugleich aber auch die Nachfrage erzeugt, die Vollbeschäftigung bei steigenden Löhnen ermöglichte."

- Werbung ist weniger drängend als ein Verkäufer oder Einzelhändler alten Stils, "der uns nicht aus dem Laden lässt, ehe wir etwas gekauft oder bestellt haben, das wir eigentlich nicht brauchen. Noch schlimmer war der Hausierer an der Wohnungstür." Es ist also weniger die Reklame, die uns verführt als ein anderer Mensch, beim unmittelbaren Kontakt.

- Wenn das Feilbieten von Ware zum Tausch oder gegen Bezahlung schädlich oder überflüssig wäre, dann wäre die Wirtschaftsgeschichte des Menschen von Anbeginn an, also seit vielen Jahrtausenden die Geschichte seiner "Entfremdung" durch "Manipulierung".

Auch Geltungskonsum gab es schon immer.

- Heute ist der Verbraucher weniger manipulierbar als frühere Menschen, weil die Werbereize einander in Schach halten.

Und: Je mehr wir vom Gesamtangebot kennen, desto wählerischer werden wir und sparen für den künftigen Konsum.

- Wie wenig viele Menschen manipulierbar sind, zeigt sich einerseits darin, dass sie trotz aller Werbung Nichtraucher oder Abstinenzler bleiben, anderseits, dass sie trotz aller Konkurrenzwerbung bei "ihrer" Marke bleiben, sei das nun die Zahnpasta oder ein Auto. Viele Leute verwenden schliesslich trotz aller Werbung nicht einmal regelmässig eine Zahnbürste (Helmut Schoeck: Soziologisches Wörterbuch, 1969, 357-362).

 

Die Vorurteile der Werbeleute werden in Zielgruppen gefasst

 

Werbung richtet sich meistens nicht an "alle", sondern an bestimmte Zielgruppen, die nach Alter, Geschlecht, Beruf, Einkommen, Bildung usw. spezifiziert werden. Man typisiert also, und da vor allem Frauen als "Königinnen" des Konsums betrachtet werden, hat man besonders viel Untersuchungen darauf verwendet, Frauen zu typisieren, z. B.

 

1. Die offenherzig Unbeschwerte (38 %), interessiert sich für eine modisch attraktive Erscheinung, Sport, ein schönes Auto, aber auch an Liebe und Romantik. Sie probiert häufig neue Produkte aus.

2. Die gepflegte Lebenspartnerin (21 %) will jung und gesund bleiben. Ihr Konsuminteresse richtet sich auf Produkte des gehobenen Bedarfs.

3. Die solide Hausfrau (13 %) ist stark an Sicherheit und traditionellen werten orientiert. Sie probiert deshalb kaum neue Produkte aus und ist sparsam.

4. Die lebenslustige Hausfrau (11 %) lebt in guten Verhältnissen und möchte viel erleben. Ihre Interessen sind ähnlich wie bei Typ 1.

5. Die alleinstehende alte Dame (11 %) ist ähnlich orientiert wie die solide Hausfrau.

6. Die junge Emanzipierte (6 %) schliesslich gibt sich unabhängig und aktiv, lehnt Markenartikel und neue Produkte ab und leistet sich nur Konsumgüter des "intellektuell gehobenen Bedarfs" (Joachim Kotelmann, 1981, 18ff).

 

Solche Typisierungen gibt es auch für Männer.

 

Wozu dienen solche Typisierungen? Zur "Beschreibung von Marktsegmenten" und "zur Optimierung von Strategien für Marken und Medien durch zielgruppenadäquate Differenzierung und Absicherung von konzeptionellen, gestalterischen und mediataktischen Leistungen" (17).

 

Die Werbung richtet sich demnach nach den Bedürfnissen, Interessen und Verhaltensweisen der Zielgruppen. Die Werbekunst besteht nun darin, diesen auf die richtige Weise entgegenzukommen. Das geschieht durch die Verwendung von Stereotypen. Was ergibt sich daraus: Der entsprechenden Zielgruppe wird durch die Werbung ihr eigenes Bild zurückgespiegelt. Im Soziologenjargon heisst das: Die Menschen konsumieren "ihren eigenen Lebenszusammenhang, der ihnen als Objekt der Repräsentation entgegentritt" (23f).

 

Zielgruppenspezifische Werbung kommt also dem Bedürfnis von Menschengruppen nach Selbstbestätigung und das heisst auch, nach Bestätigung der eigenen Vorstellungen entgegen. Das ist wie ein Teufelskreis: Den Bedürfnissen und Vorstellungen, meist Stereotypen, des Konsumenten wird durch Stereotype der Werber begegnet, beide bestärken einander und so geht es immer weiter. Das ist fatal. Denn dadurch verfestigen sich das Stereotyp immer mehr, und das heisst, die Reduktion des Menschen auf einige wenige Eigenschaften oder Funktionen geht immer weiter.

 

Zum Glück kann aber der Teufelskreis aufgebrochen werden: nämlich durch

1. Konsumverzicht

2. Moden

3. gesellschaftliche Veränderungen.

 

Doch ganz aufheben lässt sich der Teufelskreis nicht. Wir brauchen zahlreiche Produkte des täglichen Bedarfs; Moden werden stets durch andere Moden abgelöst; und gesellschaftliche Veränderungen, z. B. ein Bewusstsein für Zusammenhänge zwischen Produktion, Konsum, Umweltproblemen und Entwicklungsländern oder die Frauenfeindlichkeit der Werbung haben einige Wirkung, aber keine, welche die Werbung überflüssig machen kann. Denn, ohne Werbung können wir nicht leben. Sogar die Volkshochschule muss für ihre Kurse werben, oder ein Zirkus oder ein Unternehmensberater.

 

Immerhin, die Verwendung mancher Stereotype ärgert manche Menschen ganz gewaltig. Auf der andern Seite muss man sehen, dass nicht die Werbeleute die verschiedenen Bedürfnis- und Käufertypen "geschaffen" haben, sondern dass die Konsumenten tatsächlich verschieden sind. Was aber die Werbung tut: Sie ergreift ihre Chance (Roland Asanger, 548). Und manchmal ist ihr dafür "jedes Mittel recht".

 

Bedürfnisse

 

...

Die allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisse, Vorstellungs- und Verhaltensweisen sind je nach Zeit und Kultur verschieden ausgeprägt. Das ist die Betrachtung auf globaler, kultureller Ebene.

Quer dazu steht die unterschiedliche Ausprägung bei Mann und Frau sowie je nach Lebensalter.

Auf einer andern Ebene sind die Bedürfnisse, Vorstellungs- und Verhaltensweisen individuell ausgeprägt, je nach Temperament, Erziehung, Erfahrung.

Diese Ausprägungen sind aber nicht beliebig. Sie lassen sich zu Typen zusammenfassen, z. B. zu den Konsumententypen, die ich erwähnt habe. Es werden in China, Kenya, Guayana je andere sein, aber Typen lassen sich dort gewiss auch bilden.

 

Wenn wir schliesslich in das Individuum hineinschauen, dann finden wir, dass die erwähnten Eigenarten zeitlich variieren, dass z. B. Sättigung und Hunger abwechseln, Befriedigung aufgeschoben werden kann, Bedürfnisse oder Vorstellungen einander überdecken usw.

 

Bedürfnisse drängen auf Erfüllung. Was nun besonders zeitlich und kulturell verschieden ist, das ist die Stereotypisierung dieser Bedürfniserfüllung. Sie ändert sich in grossen und kleineren Wellen und ist kulturspezifisch.

 

Die Stereotypisierung der Bedürfnisbefriedigung

 

Die Stereotypisierung der Bedürfnisbefriedigung wird durch mehrere Arten von gesellschaftlichen Erscheinungen ausgedrückt:

-         durch Gesellschaftsstrukturen, Institutionen

-         durch Verhaltensnormen, Gebote und Verbote

-         durch reale Verhaltensweisen

-         durch Mythen, Märchen und Sagen

-         durch gesellschaftliche Vorurteile

-         durch Bilder in Kunst und Werbung.

 

Diese gesellschaftlichen Erscheinungen hängen miteinander zusammen. Wenn man ganz grobe Zusammenfassungen bilden will, kann man etwa patriarchalischen Strukturen und Moralen matriarchalische gegenüberstellen oder puritanische und libertinöse oder jüdische, katholische und reformierte, oder religiöse und weltliche, humanistische, bürgerliche, kapitalistische und sozialistische: Auch sie ändern sich im Laufe der Zeit und sind je nach Land, Klima und Wirtschaftslage verschieden.

 

Die Stereotypisierung kann verschiedene Formen der Bedürfniserfüllung betreffen: reale, phantasierte oder abgewehrte (verdrängte, sublimierte, konvertierte usw.).

Die letzteren Begriffe verweisen wieder auf Sigmund Freud. Er hat auch eine andere wichtige Unterscheidung eingeführt: Ziel, Objekt und Quelle.

 

Was heisst das: Jedes Bedürfnis hat ein Ziel, und das ist eine Handlung oder ein Vorgang, z. B. die Nahrungseinnahme resp. Sättigung oder die sexuelle Erregung oder Vereinigung.

Objekt ist dasjenige, von dem die Anziehung ausgeht oder auf das sich das Interesse richtet, also auf Süssigkeiten, Suppe oder Spaghetti, auf Frauen, Männer, Kinder, Tiere usw.

Die Quelle schliesslich liegt in physiologischen Vorgängen oder aber im Unbewussten, im Erbgut des Menschen oder in einem äusseren Objekt, das uns reizt, erregt.

 

Was man erfahren und gelernt hat, spielt dabei eine wichtige Rolle, auch wie man gelernt hat, mit seinen Bedürfnissen und Vorstellungen umzugehen.

 

Die drei wichtigsten Bedürfnisse sind:

1) Sexualität

2) Kompensation von Schwächen, Überwindung von Schuldgefühlen

3) Gesellschaft, Glanz, Prestige.

 

Damit können wir auch die Grundtriebe, welche die drei grossen Tiefenpsychologen Freud, Jung und Adler postuliert haben, in Verbindung bringen:

- Sexual- und Ich-Triebe, später "erotische Lebenstriebe" und "Todestrieb" (Freud),

- Geltungsstreben (Adler),

- geistiges, religiöses Bedürfnis (Jung).

 

Diese Bedürfnisse oder Triebe sind, wie ich annehme, allen Menschen gemeinsam. Sie werden kulturell geprägt und unter anderem durch Kunst und Werbung angesprochen.

 

Konsequenterweise sind die drei wichtigsten Stereotype, welche die Werbeleute verwenden:

- Sex als Blickfang

- Appell an die Furcht vor dem Ungenügen oder an das schlechte Gewissen

- Ansprechen des Bedürfnisses nach Geselligkeit, Glanz, Prestige

 

Andere Bedürfnisse, die von der Werbung angesprochen werden, kennen wir alle:

- Geborgenheit und Wohnlichkeit

- Abenteuer und Freiheit

- Stärke, Macht

- Sportlichkeit

- Sauberkeit, Frische

- Entlastung oder Entführung aus dem Alltagstrott

- Gesundheit

- Exklusivität, Besonderheit

- Romantik, Nostalgie, usw.

 

Die meisten Bedürfnisse hängen irgendwie zusammen und lassen sich etwa auf Polaritäten zurückführen wie

- Selbstachtung und Anerkennung durch andere

- Beschaulichkeit und Aktivität

- Sicherheit und Wagnis, Risiko

- Natürlichkeit und Künstlichkeit

- Einfachheit und Kompliziertheit

- Dabeisein und Eigenständigkeit

- Realität und Geheimnis

- Ernst und Spiel

- Hunger und Sättigung

- Unterordnung und Herrschen

- Aufbauen und Zerstören.

 

Unversehens sind wir mit diesen Aufzählungen wieder zum Nachdenken über den Menschen gelangt.

 

Was tut der Werbemensch?

 

Ein Werbemensch schafft nicht Bedürfnisse, sondern greift nach gesellschaftlich vorhandenen Stereotypen, um die Bedürfnisse bestimmter Konsumentengruppen anzusprechen, eventuell auch zu wecken. Er benützt also die Vorstellungswelt des Menschen, nicht die Realität.

 

Man kann also nicht sagen: Werbung schafft Bedürfnisse oder: Werbung manipuliert, sondern man muss sagen: Sie hakt überall dort ein, wo sie Bedürfnisse spürt. Diese Bedürfnisse sind einesteils elementarer Art, andernteils modisch.

 

Dabei gilt:

1. Ein Bedürfnis kann durch mehrere Stereotype mit möglicherweise mehreren Varianten abgedeckt werden.

2. Es können aber auch mehrere Bedürfnisse durch ein einziges Stereotyp abgedeckt werden.

3. Ein Stereotyp wird durch ein Bild in der Werbung oder der Kunst abgedeckt.

4. Meist wird aber ein Stereotyp durch ganz verschiedene Bilder abgedeckt.

5. Ein und dasselbe Bild kann mehrere Stereotype abdecken.

6. Bilder der Werbung und der Kunst können sich in der Stimmung, im Gehalt oder aber bezüglich Gestalt, Lage etc. des Objekts weitgehend decken. Sie müssen das aber nicht.

7. Die Bilder können aus verschiedenen Zeiten stammen und einander dennoch recht ähnlich sein.

 

Das Frauenbild in der Werbung [Abb. 1]

 

Werbung gab es schon immer. Vor 20 Jahren erschien ein Buch mit dem Titel: "Mit Eva fing die Werbung an" (Margret Brinkmann, 1964). Eben: Eva ist an allem schuld.

 

In diesem Buch werden auch einige Schriftsteller des alten Rom als "Werbetexter" bezeichnet. Ovid soll nichts anderes als die Werbung um das andere Geschlecht beschrieben haben. Offenbar ist das ein ganz wichtiges Motiv. Es kommt auch wieder bei den Troubadouren und Minnesängern vor. Werbung ist in diesem Sinne vor allem werben um, nicht werben für. Wobei das zusammenhängt. Wer um eine Frau wirbt, muss seine eigenen Vorzüge herausstreichen. Und umgekehrt: Wer für ein Produkt wirbt, muss um die Gunst des Zielpublikums werben.

 

Mit dem Buchdruck (um 1450) tauchen die ersten Flugblätter, Kalender und Prospekte auf.

 

Die Geschichte der neueren Werbung kann man etwa auf das Jahr 1700 ansetzen. Damals erfand Dr. Eisenbarth die Werbung durch Skandal, also durch die Erregung von Aufsehen, durch Klamauk, Kabarett, Zurschaustellung. Ferner gab es illustrierte Anzeigen und Plakate für Schausteller, Menagerien und Soldatenwerbung.

 

Abb.: „Unsere kleine Mademoisellen“ führen auf dem Tanz-Seile unterschiedliche Kunststücke vor (1758)

 

Die Aufklärung, die damals als geistige Strömung entstand, wurde auf der modischen, künstlerischen Seite durch das Rokoko (1716-1760/89) aufgewogen. Diese Zeit brachte Schäferidyllen, galante Feste und erstmals in grossem Stil die "Vermarktung der Frau" in einer, wie es einige Kunsthistoriker bezeichnen, voyeuristischen und exhibitionistischen Boudoirkunst.

 

Um 1780, also vor etwa 200 Jahren, zierten Bilder wie das Mädchen mit der Zuckerkringel ("La Gimblette") von Fragonard Keksdosen; in noch weniger dezenter Form kursierten sie in hoher Auflage als Kupferstiche. Man kann das als Anfang der Pornographie bezeichnen. Zur selben Zeit (1788) erschien auch ein Buch über die Frau als "Nymphomanin".

 

Was zeigt dieser Vergleich? Dass die Darstellung der Frau als Lustobjekt nicht von der Werbung "erfunden" wurde, sondern dass die Werbung gesellschaftlich vorhandene Stereotype [Abb. 1] immer wieder verwendet.

 

Durch die Restauration nach dem Untergang des Napoleonischen Reiches, also durch "Biedermeier" (1815-1830) und "Krämermoral", wurde alles Geschlechtliche tabuisiert und in den Untergrund gedrängt, wo es aber umso wirksamer war. Spitzen des Eisbergs zeigten sich etwa in den 1830er Jahren mit Balzacs "Tolldreisten Geschichten" und dem Tanz "Can-can".

30 Jahre später, als England noch im "Viktorianischen Zeitalter" (1837-1901; genauer 1848-86) steckte, stöckelten die Frauen wie im Rokoko wieder in Krinolinen umher, begeisterten Offenbachs Operetten und die ersten Nackttänze auf der Bühne die Pariser.

 

So verwundert es nicht, dass in den 1890er Jahren auch in der Werbung die Frau wieder zur Schau gestellt wurde. Toulouse-Lautrec war bei weitem nicht der einzige grosse Maler, welcher der Plakatkunst vor fast 100 Jahren die entsprechenden erotischen Impulse verlieh. Dass Sigmund Freud zu dieser Zeit seine Theorie der Sexualität entwickelte, ist also nicht ganz zufällig.

Auffällig ist, dass bereits vor der Jahrhundertwende für technische Produkte  - insbesondere für Fahrräder sowie Petrol und Gas für Lampen - mit kurvenreichen oder mehr oder weniger entblössten Frauen geworben wurde. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Bonnard (1895), Mucha (1895), Mataloni (1895).

Sogar die Firma Georg Fischer in Schaffhausen scheute sich nicht, eine halb entblösste Figur als Blickfang zu verwenden (1899).

 

Seither ist die Frau aus der Werbung nicht mehr wegzudenken.

 

Literatur (siehe auch Literaturliste: Frauen-Stereotype und Sex in der Werbung)

Lutz von Rosenstiel: Psychologie der Werbung. Rosenheim: Komar 1969. 2. Aufl. 1973.

Heide Hering: Weibs-Bilder. Zeugnisse zum öffentlichen Ansehen der Frau. Ein hässliches Bilderbuch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1979; aktualisierte Neuauflage 1987.

Christiane Schmerl: Frauenfeindliche Werbung. Sexismus als heimlicher Lehrplan. Berlin: Elefanten-Press 1981.

Joachim Kotelmann, Lothar Mikos: Frühjahrsputz und Südseezauber. Die Darstellung der Frau in der Fernsehwerbung und das Bewusstsein von Zuschauerinnen. Baden-Baden: E. Baur 1981.

Hans Mayer, Ute Däumer, Hermann Rühle: Werbepsychologie. Stuttgart: Poeschel 1982.

 

 

 

Teil 8: Glauben, Wissen und "öffentliche Meinung"

 

Der Mensch schafft Kultur und wird von ihr geprägt

...

Gemessen an der naturwissenschaftlichen Geschichte der Menschheit, die sich über einige Millionen Jahre erstreckt, ist das Patriarchat eine junge Erscheinung. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Steinzeitmenschen und die frühen Hochkulturen eher matriarchalisch orientiert waren, und zwar in Religion und Mythos ebenso sehr wie in der gesellschaftlichen Struktur.

 

Bis vor 50 Jahren gab es "steinzeitliche" Kulturen, die ebenfalls mutterrechtlich organisiert waren. Wie kompliziert aber die Verhältnisse im einzelnen sind, merkt man rasch, wenn man ein ethnologisches oder kulturanthropologisches Buch zur Hand nimmt.

 

Bedeutsam aber ist, was uns die historische wie geographische Ausweitung unseres Horizontes enthüllt: Kulturen, Gesellschaftsformen, Verhaltensweisen und damit auch Vorstellungen über den Menschen sind ausserordentlich verschieden.

 

Es gab weder früher, noch gibt es heute das Menschenbild. Deshalb habe ich so häufig den Begriff "Stereotyp" verwendet. Unsere Vorstellungen von dem, was der Mensch ist oder soll, sind kulturell geprägt. Dies rührt davon her, dass der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist, ein Wesen, das sich seine eigene Kultur schafft und durch diese Kultur selber wieder geformt wird. Das unterscheidet ihn auch vom Tier.

Auch wenn er mit den andern Lebewesen viel oder einiges gemeinsam hat, auch wenn er sich - biologisch gesehen - aus dem Tierreich entwickelt hat und in einigem verwandt mit den Primaten (also den höheren Affen), aber auch etwa mit den Delphinen ist, so bleibt er doch ein einzigartiges Produkt der Natur, der Evolution.

 

Daher kann man auch nicht aus dem Tierreich Vorschriften für den Umgang der Menschen miteinander ableiten. Nicht nur, weil auch im Tierreich eine grosse Vielfalt von Verhaltensformen besteht, sondern auch weil der Mensch etwas anderes ist, ein Wesen, das sich und seinen Weg selber finden muss. Das gilt für die Menschheit als Ganzes wie für jeden einzelnen.

 

Zum Kultur schaffen und Kultur haben gehört aber auch das Fragen und das Nachdenken. Und gerade dafür kommen wir hier zusammen. Nicht um zu behaupten: So muss der Mensch sein, sondern um zu fragen: Muss er so sein? Ist es so klar, dass Kinder die zu Belehrenden und Eltern nur die Lehrenden sind, ist es zwingend, dass die einen oben, die andern unten sind, ist es selbstverständlich, dass die Frau dem Manne untertan sei und sich für die Familie aufopfert? usw.

 

Seit 1000: Es könnte alles auch ganz anders sein ...

 

Die Entdeckung, dass alles auch ganz anders sein könnte, setzte vor 1000 Jahren mit den islamischen Erd- und Völkerkundlern sowie Historikern (Al Massudi, Al Biruni) ein. Arabische Handelsleute und Gelehrte bereisten vom 9.-11. Jahrhundert Europa von Spanien bis hinauf nach Grönland und zum Eismeer, die finnischen und slawischen Länder, Russland bis nach Sibirien, Persien, Indien, Zentralasien und China, das Innere Afrikas von Marokko bis zur Quelle des Nils und nach Timbuktu am Niger; die Ostküste war bis Madagaskar (die "Mondinsel") bekannt.

 

Der grösste arabische Universalgelehrte Al Biruni beschrieb um 1030 die politische, gesellschaftliche und kulturelle Geschichte Indiens. Er beherrschte die Sprache des Landes und studierte Land und Leute ebenso wie die schriftlichen Quellen. Blosse Berichte vom "Hörensagen" verwarf er. Ja er spottete über die "Lügner", die vor ihm Geschichte geschrieben hatten. Ferner gab er bereits eine Einteilung der verschiedenen Arten von Irrtümern, Täuschungen und Vorurteilen, denen die Menschen unterliegen und die aus Gewohnheit, Trägheit, Parteilichkeit und Leidenschaft erwachsen (H. J. Störig, 138-142).

 

Durch die Kreuzzüge (1096) einerseits, die Rückeroberung von Sizilien (durch die Normannen 1072) und Toledo im Herzen von Spanien (1085) anderseits, kam das christliche Abendland um das Jahr 1100 sowohl mit dem islamischen Wissen als auch mit dem, was diese aus der Antike gerettet hatten, in Berührung. Unermessliche Schätze boten sich zur Übersetzung ins Lateinische an.

 

Ab 1250 reisten dann christliche Gelehrte zu den Mongolen, darunter auch Marco Polo. Er berichtete als erster über Japan.

Zur selben Zeit (1267) untersuchte Roger Bacon die "Ursachen des Irrtums". Trägheit und Beharren in den gewohnten Bahnen, Eitelkeit und Rücksicht auf die unwissende Menge sind solche Ursachen. Die wichtigste aber besteht im unkritischen Berufen auf Autoritäten - ausser auf die Heilige Schrift und die Kirche (H. J. Störig, 160f). Erst um 1500 begann man, die Autorität der Kirche in Zweifel zu ziehen.

 

Wissen gegen Glauben

 

Voraussetzung dafür war die Unterscheidung von Glauben und Wissen (Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) oder zwischen Ichversenkung und Naturerkenntnis (Eckart) um 1300. Es gibt also mindestens zwei Wahrheiten oder eine "doppelte Wahrheit". Eine bekannte Formel lautete: "Ich glaube, weil es nicht vernünftig ist" (credo quia absurdum).

 

Grosse Renaissancegeister wie Leonardo da Vinci und Machiavelli, Paracelsus und Kopernikus lehnten um 1500 die Berufung auf Autoritäten ganz ab. Als einzige Lehrmeisterin anerkannten sie nur noch die Natur, als Methode der Erkenntnis: Beobachtung resp. Erfahrung. Thomas Morus und andere (Eberlin) entwarfen neue Gesellschaftsformen, "Utopien".

Freilich blieb die Berufung auf die Bibel auch bei den Reformatoren und Humanisten unverändert bestehen; die völlige Ersetzung des Glaubens durch das vermeintliche Wissen fand erst im Zeitalter der "Aufklärung", im 18. Jahrhundert, statt. An die Stelle Gottes wurde die Vernunft gesetzt.

 

400 Jahre lang, von 1300-1700 dauerte die Auseinandersetzung um Glauben und Wissen. Die einen schrieben nur dem Glauben Wahrheit zu, andere nur dem Wissen. Einer der ersten, der die eben erst entstehende Wissenschaft als unsicher und eitel kritisierte war kurz nach 1500 Agrippa. Um 1580 zweifelte auch Montaigne an allem theoretischen und praktischen Wissen. Sein Wahlspruch war "Que sais je?" Und sein Zeitgenosse Sanchez schloss jedes Kapitel seines Buches über die "Unwissenheit der Wissenschaft" mit den Worten: "Weisst du es nicht. Also ich weiss es nicht. Was?"

 

Ein Freund von Montaigne, Pierre Charron (1601), war dem Wissen wie dem Glauben gegenüber kritisch eingestellt. Er meinte: "Man traue niemandem, dessen Moralität nur auf religiösen Skrupeln beruht." Er sah als schmerzliche Bilanz des Lebens nur den "Irrtum". Was kann man dagegen tun? Wenigstens ehrlich und ehrenhaft sein. Er prägte dafür das Wort "prud'homme", der rechtschaffene Mensch, und sagte: "Ich will, dass man ein guter Mensch sei, auch wenn es kein Paradies und keine Hölle gibt." Das war vor fast 400 Jahren.

 

Kurz darauf (1620) richtete Francis Bacon seine Angriffe gegen alle bisherige Wissenschaft und legte mit seiner Untersuchung der Idole (Trugbilder, Vorurteile) den Grundstein für die sog. "Ideologiekritik". Er unterschied vier Arten von Vorurteilen:

 

- solche, die allen Menschen gemeinsam sind, Wir erfassen die Dinge nur nach menschlichem Massstab.

 

- solche, die auf der Eigenart des einzelnen Menschen beruhen. Anlagen und Gewohnheiten, Erziehung, Umgang und Lektüre bestimmen die persönlichen Vorurteile.

 

- solche, die aus der Gemeinschaft mit andern Menschen entspringen. Also Sprache und Zeitgeist, Hörensagen und öffentliche Meinung bestimmen unsere Vorurteile.

 

- solche, die aus der Tradition stammen. Falsche Theorien und Systeme, Überlieferungen und Erdichtungen sind es, in denen sich das Denken des Menschen gewohnheitsmässig seit alters bewegt.

 

Daran knüpfte noch 160 Jahre später Kant an, als er die "Aufklärung" definierte: Sie ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Und er fuhr fort: "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so grosser Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben" (H. J. Störig, 291).

 

Die "öffentliche Meinung"

 

Das Bewusstsein davon, dass es eine "öffentliche Meinung" gibt, geht ebenfalls auf die Zeit um 1500 zurück. Machiavelli benützte den Begriff "publica voce", und meinte, ein Volk habe "ein richtigeres Urteil" als der Fürst (1509, Helmut Schoeck, 250; Peter R. Hofstätter, G. 17). Allerdings sagte er auch: "Chi fonda in sul popolo fonda in sul fango (Schlamm)" (Hofstätter, E. 44).

Luther führte zu dieser Zeit den Herrn Jedermann ("Herr Omnes") ein, von dem er gar nicht viel hielt (Hofstätter, G. 10; E. 43-44; vgl. auch Sebastian Franck 1531).

 

Ja, Luther hielt den Menschen von Natur und unvermeidlich als verdorben. Auch Montaigne war kritisch, wenn er meinte: "Die grosse Menge irrt sich" (Hofstätter, E. 134). Daher klagte er auch: "Wer immer uns auch auferlegt hat, ... unser Leben nach unseren Mitmenschen zu richten, fügt uns mehr Böses als Gutes zu. Wir entblössen uns unserer eigenen Vorteile, um den Schein nach aussen der allgemeinen Meinung anzupassen" (Hofstätter, E. 44).

 

Seit 1500 streiten sich also die Gelehrten darüber, ob der Mensch gut oder schlecht [Abb. 2] und ob die Menge der Menschen recht habe oder sich irre und drittens, wie sich der einzelne zur öffentlichen Meinung zu stellen habe.

 

Zur Zeit der Aufklärung und vor der Französischen Revolution spielte die öffentliche Meinung eine bedeutsame, auch politische, Rolle. Ihr gesellte sich der "gesunde Menschenverstand" (Oetinger, Reid um 1760) zur Seite. Eine Verbindung beider ist bei Rousseau (1762) die "volonté générale", der sich alle Glieder einer Gemeinschaft durch einen stillschweigenden "Gesellschaftsvertrag" (contrat social) in Freiheit unterordnen.

 

Davon streng zu unterscheiden ist die "volonté de tous", also die Gesamtheit der unterschiedlichen Meinungen der Leute.

Sie wird heute von der Meinungsforschung erfasst. Gewiss enthält sie auch die "herrschende" Meinung, dazu aber auch andere, abweichende Meinungen. Hier spielen nun Probleme der Statistik, z. B. "Mehrheit", der Fragenformulierung und -vielfalt und der Gesamtheit, auf welche sich die Befragung bezieht, eine Rolle. Wiederum davon zu unterscheiden sind Volksabstimmungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene.

 

Jedenfalls, so einfach mit der Norm, die für alle gilt, ist es nicht. Genaugenommen war das schon immer so. Vieles galt früher für die Adeligen, aber nicht für die Bauern, und umgekehrt. Und vieles wurde gefordert oder verboten, aber nur wenige hielten sich daran.

 

Die ganze Geschichte ist voll von Personen und Institutionen, insbesondere Königen und Kirchenfürsten, die von "den andern" etwas verlangten, aber nicht von sich selber.

 

Ähnliches gilt nicht nur für die Meinungen und Vorschriften, sondern auch für die Stereotype. Nur sind diese weniger bewusst und daher hartnäckiger. Sogar Sigmund Freud, der grosse Erforscher des Unbewussten, war noch im viktorianischen Zeitalter verhaftet, hatte kein Verständnis für die Emanzipation der Frau und sah sie im biblischen Sinne als Gebärerin, Mutter und Dienerin des Mannes.

Dabei hatte schon 1724 ein Jesuiten-Missionar bei den Irokesen in Nordamerika eine mutterrechtliche Organisation entdeckt und der Basler Johann Jakob Bachofen 1861 ein ganzes Buch über das "Mutterrecht" geschrieben. Aber auch sie selber dachten weiterhin patriarchalisch.

 

So ist also auch heute noch das Bild der Frau als Dienerin und Lustobjekt des Mannes weit verbreitet, und viele fühlen sich ihm verpflichtet, wer weiss: aus Gewohnheit, Trägheit, Parteilichkeit oder Leidenschaft (Al Biruni), oder aus Eitelkeit und Rücksicht auf die öffentliche Meinung (Roger Bacon) oder weil es in der Bibel steht.

 

Die erste Frauenbewegung, welche mit der Französischen Revolution einsetzte (Condorcet 1790, Olympe de Gouges 1791, Theodor Gottlieb von Hippel 1792, Mary Wollstonecraft 1792, William Godwin 1793) war eigentlich recht erfolglos im Bemühen, die Männer aus ihrer "Faulheit und Feigheit" (Kant) aufzurütteln und zum "sapere aude" zu ermuntern. Erst die durch Betty Friedan 1963 eingeleitete Neue Frauenbewegung scheint mehr Erfolg zu haben, uns alle wenigstens zum Nachdenken darüber zu veranlassen: Was ist am Frauenbild gottgewollt, natürlich oder künstlich?

 

An dieser Stelle möchte ich nur ein Wort aufgreifen, das Papst Johannes Paul II. auf seiner Schweizerreise vor einer Woche [1984] ausgesprochen hat:

"Wir haben uns ernsthaft zu fragen, ob die Frau heute in der Kirche und in der Gesellschaft bereits ihren vom Schöpfer und Erlöser zugedachten Platz einnimmt und ihre Würde und Rechte in gebührender Weise anerkannt werden."

 

Literatur

Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1922; dt.: Die öffentliche Meinung. München 1964 (Einführung des Begriffs "Stereotyp").

Hans-Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 1954; Lizenzausgabe für den Buchklub Ex Libris Zürich 1965.

Peter R. Hofstätter: Gruppendynamik. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1957 (= G.).

Michael Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie. München: Reinhardt 1961.

Peter R. Hofstätter :Einführung in die Sozialpsychologie. Stuttgart: Kröner, 3. Aufl. 1963; 5. Aufl. 1973 (= E.).

Helmut Schoeck: Soziologisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau: Herder Taschenbuch 1969, S. 250-255.

Lilian Berna-Simons: Weibliche Sexualität und Identität. Das 19. Jahrhundert in Freud. Diss. 1978; Frankfurt am Main: Materialis-Verlag 1984.

 

 

Teil 9: Vorbilder

 

Vorbilder, die unbewusst bleiben

 

Die Frage nach dem Vorbild ist die schwierigste Frage im ganzen Thema "Menschenbilder". Wie kompliziert die Sache ist, möchte ich Ihnen nun vorführen.

 

Wir können vier Unterscheidungen treffen:

1. Es gibt Vorbilder für mich ganz persönlich, für die Gruppe, zu der ich mich zähle, und für die Gesellschaft, in der ich lebe.

2. Vorbilder können Menschen, Normen oder Ideale sein.

3. Die Vorbilder können aus der Gegenwart oder aus der Vergangenheit stammen und dabei real oder idealisiert sein.

4. Vorbilder können bewusst sein oder aber unbewusst wirken.

 

Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen. Die Bilder, die ich in der vergangenen Doppelstunde gezeigt habe [Abb. 1], waren ein Hinweis darauf, wie die Vorstellungen der Männer über die Frauen seit Jahrhunderten gleich geblieben sind. Der Ausdruck, den diese Vorstellungen in Kunstwerken gefunden haben, mag je nach Stilrichtung und Könnerschaft des Künstlers unterschiedlich ausfallen, aber die Aussagen sind durchgehend dieselben:

Die Frau ist Lustobjekt und Schmuckstück für den Mann, Hausfrau und Mutter, meist dümmlich und nur auf ihr Aussehen bedacht, ja narzisstisch und exhibitionistisch. Sie soll schön, schlank und jung sein, dem Manne dienen und ihn bewundern.

 

Solche Stereotype wirken meist unbewusst auch auf die Frau. Sie versucht, sich diesen Anforderungen zu unterziehen. Sie hat diese Bilder in sich aufgenommen und lebt ihnen nach, ohne dass sie sich dessen bewusst ist. Sie meint, es sei selbstverständlich oder naturgegeben oder gottgewollt, dass sie eine gute Ehefrau, Hausfrau und Mutter sei.

 

Das sind die gesellschaftlichen Stereotype, welche irgendwo und irgendwie in der Luft herumschweben und von der Werbung, aber auch von Familien- und Modezeitschriften aufgegriffen werden. Sie wirken als Normen, d. h. die Frau sollte sich daran halten. Wehe, wenn sie es nicht tut. Dann gerät sie nicht nur durch die Männer unter Beschuss, sondern auch durch die Frauen.

 

Männliche Vorbilder und ihre Abwandlungen

 

Auch für Männer gibt es solche Stereotype, und zwar zwei ganz verschiedene Arten.

 

Diejenigen, welche den Stereotype der Frau entsprechen, haben meist eine eher negative Färbung. Das sehen Sie deutlich, wenn Sie die Liste, die ich das letzte Mal verteilt habe, anschauen: der Gigolo und der Beau, der Kuli und der schmachtende Liebhaber, der Muskelprotz und der Prinzgemahl, der Dressman und der Verführer - das sind nicht gerade positive Vorbilder.

 

Es gab freilich auch positivere Vorbilder. Das war von etwa 1100-1500 der Ritter. Sowohl die Troubadours und Minnesänger als auch Priester und Traktätchenschreiber haben dieses Vorbild propagiert. Der Grund liegt darin, dass der Ritter ein dreifacher Diener sein soll: Diener Gottes, Diener der Kirche und der Christenheit und Diener der Frau. In der Praxis sah das aber meist anders aus.

 

Um 1500 wurde das Ritterideal durch dasjenige vom "Höfling", vom "Cortegiano" (Castiglione, 1516) abgelöst; daraus entwickelte sich der "gentilhome", der Kavalier, der "gentleman". Auch hier klafften Ideal und Realität oft weit auseinander.

 

Zu beachten ist, dass es einige weitere wichtige männliche Stereotype gab, wobei wie im Falle des Gentleman das industrielle Zeitalter, in dem wir seit 200 Jahren leben, drastische Änderungen vorgenommen hat.

 

1. Der Reisläufer und Landsknecht wurde zum Soldaten und schmucken Offizier und endete bei den Westernhelden und "Green Berets".

2. Der Handwerker und Zünfter wurde zum Bürger und Puritaner.

3. Der Don Juan wurde zum Casanova, Dandy und dann Playboy.

4. Der Scholar wurde zum "uomo universale" und Humanisten. Ihn lösten einerseits der "home d'ésprit" und Gelehrte ab, anderseits der Erfinder, Forscher und Ingenieur.

5. Der Kaufmann schliesslich wurde zum Pfeffersack und Bourgeois einerseits, zum Fabrikanten und Unternehmer anderseits.

 

Was ist eigentlich heute von diesen männlichen idealen geblieben?

Der Gentleman scheint völlig in der Versenkung verschwunden zu sein. Und nichts ist an seine Stelle getreten.

Der erfolgreiche Manager, der politische "Macher" sind wohl kein Ersatz dafür. Bonzen und Technokraten, Snobs und Nabobs schimpfen wir manche davon.

Daneben haben wir den Playboy und den Forscher, die Militärköpfe und Psychoheinis, die Vereinsmeier und Spekulanten oder die Ehemuffel und die Softies.

 

Sie sehen, man gleitet, wenn man Vorbilder heute betrachtet,  rasch ins Negative ab. Nicht einmal die Politiker und Wirtschaftskapitäne, die Professoren und Forscher können uns mehr begeistern. Und das scheint mir ein ausserordentlich bedeutsamer Zug unserer Zeit zu sein: Gab es früher zumindest eine Art Gleichgewicht zwischen Hochstilisierung der Frau wie des Mannes und Verachtung, so ist heute hauptsächlich nur noch das Negative geblieben - nicht der Nihilismus, sondern die Betrachtung des Menschen als vielseitig einsetzbares Objekt, als Befehlsempfänger, als Erfüller von Funktionen und Rollen.

 

Manchmal finden sich noch Anklänge an vergangene Zeiten. Aber aufs Ganze gesehen, sind es einseitige Reminiszenzen, wie sie etwa die Werbung betreibt. Der ideale Mensch und, was noch schlimmer ist, der ganze Mensch, ist verschwunden.

 

Karl Jaspers: "Die massgebenden Menschen"

 

Wie steht es denn mit einzelnen, realen Menschen als Vorbild?

Von Karl Jaspers gibt es ein Büchlein unter dem Titel "Die massgebenden Menschen" (Piper Paperback 1964; Auszug aus "Die grossen Philosophen" 1957).

Darin sind vier Personen geschildert: Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus. Sie lebten vor 2500 resp. 2000 Jahren. Von allen vier ist wenig Biographisches bekannt. Alle vier wirkten vor allem durch das Wort. Eigene schriftliche Werke sind von ihnen nicht erhalten. Konfuzius hat zwar die sogenannten 5 kanonischen Bücher herausgegeben, aber sie enthalten wenig von seinen eigenen Gedanken. Sokrates und Jesus endeten durch gewaltsamen Tod. Bald nach Buddhas Tod spalteten sich seine Anhänger in zahlreiche Richtungen und Sekten auf. Knapp 200 Jahre nach dem Tod von Konfuzius liess der Kaiser von China 400 konfuzianische Gelehrte hinrichten und alle konfuzianischen Bücher verbrennen.

 

Schon diese wenigen Angaben zeigen, dass es zum Teil um konkreten Menschen als "Lehrer" geht, aber auch um die Lehre selber, die sie vertreten. Sokrates wurde verurteilt, weil er neue Gottheiten eingeführt und die Jugend verführt hatte. Jesus wurde wohl ohne Urteil gekreuzigt, weil er prophezeite, der Tempel werde zerstört und ein anderer hernach von Gottes Hand errichtet werden. Auch er war ein Aufwiegler. Buddha war ebenfalls gegen das Kastenwesen der Brahmanen und gegen jeglichen Kult. Nur Konfuzius arrangierte sich mit den herrschenden Verhältnissen und wurde sogar Justizminister. Aber nur kurz und ohne Erfolg. Er starb voller Enttäuschung, dass keiner der Regierenden auf seine Lehre hatte hören wollen.

 

Entgegen der Absicht von Buddha, Konfuzius und Jesus haben ihre Anhänger sie später zu verehren begonnen - Buddha und Konfuzius wurden gar zu Göttern. Und man hat "Kirchen" gebildet, was ihrer Absicht ebenfalls widersprach.

Sie hätten lieber gesehen, wenn ihre Lehre, das was sie sagten, ernst genommen worden wäre. Zum Beispiel die Überwindung des Hasses durch Liebe (bei Buddha und Jesus), die Förderung der Wohlfahrt des Menschen durch einen weisen und massvollen persönlichen Einsatz in der Familie, in Gesellschaft und Staat (bei Konfuzius) oder die Verknüpfung von Tugend und Wissen durch Fragen im Dialog sowie durch Selbstprüfung und Selbsteinsicht (bei Sokrates).

 

Das sind gültige Lehren auch heute noch. Was bleibt, ist also die Lehre, die durch grosse Menschen ihre Gestalt gefunden hat. Die Frage ist dann nur: Wie realisieren wir, als einzelne, diese Lehre? Darüber hat man sich immer gestritten. Und es ist viel Blut geflossen.

 

Doppelte Moral

 

Bleiben wir beim Christentum. Den frühen Christengemeinden des ersten und zweiten Jahrhunderts wurde von den Römern allerlei Übles vorgeworfen, insbesondere Unzucht, rituelle Morde und verschwörerische Umtriebe.

Später haben die Christen solche Vorwürfe dann selber gegenüber abweichenden Gruppen (Häretiker) und Juden erhoben und oft mit handfesten Aktionen begleitet.

 

Wie in allen Kirchen gab es auch unter den christlichen Führern edle und andere Gestalten und häufig wurde eine doppelte Moral hochgehalten.

Greifen wir als immer noch aktuelles Beispiel den Zölibat heraus. Es wurde um 500 eingeführt, aber erst 1074 unter Papst Gregor VII. offiziell dekretiert. Dennoch hatten manche Bischöfe und sogar Päpste Umgang mit Frauen. Johannes XXIII. musste man deswegen aus der Papstliste streichen. Kurz vor 1500 brachten zwei Päpste sogar ihre Kinder mit in den Vatikan.

Der erste davon veranlasste auch den "Hexenhammer" und erliess die "Hexenbulle". Der zweite liess eine seiner Geliebten als Mutter Gottes und sich selber als Papst zu ihren Füssen malen. Zwei seiner Kinder wurden bekannt: Cesare Borgia, der mit 16 oder 17 Jahren schon Erzbischof war, und Lucrezia, die unter anderen von ihrem Bruder und ihrem Vater Kinder gebar.

 

Gewiss, das sind Einzelfälle, aber sie verweisen uns auf die Frage; Wie sehr kann ein Mensch Vorbild sein?

 

Welche Menschen können Vorbild sein?

 

Nun machen freilich nicht nur Kirchenfürsten und Politiker Geschichte, sondern auch Künstler, Gelehrte, Forscher und Erfinder. Wen wollen wir da auswählen: Leonardo da Vinci oder Edison, Kant oder Marx, Rembrandt oder Picasso, George Sand oder Madame Curie, Edith Stein oder Nelly Sachs?

 

Ebenso wichtig wären aber auch Menschen, die sich für andere Menschen eingesetzt haben: Florence Nightingale und Henri Dunant, Maria Montessori und Rudolf Steiner, Mutter Theresa und Albert Schweitzer. Hier liegt wohl eher der Hase im Pfeffer: bei Menschen, die etwas für die andern Menschen tun, wobei es auch hier nicht so sehr um die Personen selbst als um die Idee geht, die sie verkörpern. Ähnliches gilt wohl auch für Märtyrer, Mystiker und Heilige.

 

Andere Personen haben viel eher die Welt verändert, etwa Ludwig XIV. oder Adolf Hitler, James Watt mit seiner Dampfmaschine und Stephenson mit seiner Lokomotive, Pasteur, Semmelweis und Sauerbruch, Charles Darwin und Sigmund Freud, aber was als Vorbild zählen könnte, ist eher das Menschliche.

 

Vielleicht können wir wieder unterscheiden: Es gibt viele Menschen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, die das Weltgeschehen prägten, Entdeckungen machten, kulturelle Leistungen schufen, aber sie müssen nicht unbedingt Vorbilder sein. Ich kann sie auch nur schätzen, für ihre Leistungen anerkennen - oder auch verurteilen.

Aber auch hier gilt, Anerkennung oder Verurteilung trifft eher die Lehre, die Taten als die Person. Und, wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns bei allen diesen Personen fragen: Was wissen wir wirklich über sie?

 

Ich habe diese Frage schon bei der Behandlung der Idole der heutigen Jugend gestellt. Was wissen diese Jugendlichen von Gandhi oder Kennedy, von Elvis oder Marilyn Monroe?

Erliegen reifere Erwachsene etwa demselben Trugschluss, dass sie Einstein oder Golda Meir, Coco Chanel oder Louis Armstrong bewundern ohne zu wissen, wer sie waren?

 

Der Vater als Vorbild?

 

Aber das alles sind doch keine Vorbilder, können Sie entgegnen. Mein Vorbild ist mein Vater, meine Mutter. Das führt uns schon etwas näher zur Sache. Hier liegt eine genaue Kenntnis der Person im täglichen Umgang vor. Aber sogleich erheben sich wieder einige Fragen:

Ist der Vater für den Sohn, die Mutter für die Tochter Vorbild, oder der Vater auch für die Tochter? War, um beim Vater zu bleiben, er auch schon Vorbild als das Kind jung war oder wurde er es erst, als er nicht mehr lebte? Warum ist nur der Vater Vorbild, aber die Mutter nicht? Und für was ist er Vorbild: für das häusliche Leben, für das Verhältnis zum andern Geschlecht, für den Beruf, für den Umgang mit andern Menschen, oder gar für politische oder vereinsmässige Aktivitäten?

Es könnte sein, dass der Vater nur für eine Seite des eigenen Lebens Vorbild ist. Und vielleicht sind auch nur seine Ansichten, nicht aber sein Verhalten Vorbild, nicht seine Kenntnisse, aber seine Haltung.

 

Der Möglichkeiten sind auch hier viele. Zumindest lässt sich also fragen, ob ein Elternteil als ganzer Mensch für uns als ganzer Mensch in vielfältigen Lebenszusammenhängen und Rollen Vorbild sein kann. Und sehen wir ihn auch ganz real und unverfälscht, oder machen wir uns nicht doch ein Bild, ein Idealbild von ihm.

 

Nehmen wir an, der Vater sei in allem ein Vorbild. Was muss ich dann tun? Vor jedem Gedanken fragen: "Was hätte er gedacht?" Vor jeder Handlung fragen: "Was täte er in dieser Situation?" Wenn ich aber mein Denken und Verhalten so sehr auf einen andern Menschen abstütze, wo bleibt dann meine Selbständigkeit, meine Eigenart? Kann ich als Kopie oder Abbild meines Vaters durchs ganze Leben gehen?

 

Nun können Sie entgegnen: Es ist ja gar nicht der Vater als Person, der mein Vorbild ist, sondern es sind die Ideen und Ideale, die er vertritt. Auch ich möchte mich wie er für Wahrheit und Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit in der Welt einsetzen. Dass das in konkreten Situationen oft schwierig ist, wissen wir alle. Daher können Sie zugeben, dass das Ihrem Vater auch nicht immer gelingt, aber er versucht es immer wieder. Und so wollen auch Sie es halten.

 

Nicht für alle Menschen sind historische, politische oder andere Grössen Vorbild, auch nicht die Eltern, sondern sonstige Verwandte oder Bekannte: der Grossvater, der Lehrmeister oder der Chef, ein Nachbar oder ein Freund.

 

Der Möglichkeiten sind auch viele.

 

Wir selber als unser eigenes Vorbild?

 

Das führt uns zur nächsten Grundfrage: Können wir mehrere Vorbilder haben, oder aber überhaupt keines? Beides ist möglich, und zwar auf zwei Weisen:

- Entweder orientieren wir uns an Idealen oder hohen Werten, ohne dass wir sie in einem Menschen verkörpert sehen müssen,

- oder wir sind unser eigenes Vorbild.

 

Auf diesen letzten Punkt möchte ich noch etwas eingehen.

Sich selber als Vorbild nehmen muss nicht Egoismus bedeuten. Es kann beispielsweise Vertrauen in vielerlei Sinn bedeuten:

- Vertrauen auf eine innere Stimme, das Gewissen, das einem den Weg weist,

- Vertrauen auf eine göttliche Macht, die wir in und um uns spüren,

- Vertrauen auf unsere eigenen Fähigkeiten und Kräfte.

 

Das sind schon drei sehr wichtige Faktoren, jenseits aller Psychologie. Ob "Über-Ich" oder nicht, wir wissen meistens schon ganz genau, was richtig ist oder was wir tun sollten. Und wir spüren auch, dass es Sachverhalte gibt, die ausserhalb unseres Fassungsvermögens und ausserhalb unseres Wirkungsbereiches stehen. Drittens aber wissen wir auch, dass in uns mehr an Möglichkeiten steckt, als wir tatsächlich realisieren.

 

All dies kann und soll ein Ansporn sein, ganz im Sinne der am Anfang erwähnten massgeblichen Menschen, uns selber zu durchschauen und zu erkennen, zu suchen und zu finden, uns Sorge zu tragen und zu entfalten.

Personen als Vorbilder, Ideale als Leitbilder können uns dabei helfen. Aber wir dürfen es uns damit nicht zu leicht machen. Wir sollen nicht sagen: "Die sollen es uns zeigen!" Das wäre eine Flucht vor unserer Verantwortung. Sondern wir sollen sie als Anregung und Ansporn nehmen, unser eigenes Leben selber zu leben, in allen Höhen und Tiefen, die das Schicksal mit sich bringt.

 

Was ergibt sich daraus? Andere Menschen sind nicht wichtig als Vorbilder, sondern bestenfalls als Hinweis auf eine Lehre, eine Idee, einen Wert. Das erlaubt uns, sie von einem künstlichen Podest herunterzuholen und zu achten.

 

Und das ist das wichtigste: die Achtung der andern Menschen, seien es diejenigen der nächsten Umgebung, seien es Menschen aus vergangenen Zeiten. Auf diesem Hintergrund verstehen wir vielleicht eine "grosse Hauptregel" etwas besser, welche das Christentum mit dem Judentum verbindet: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!"

 

Das ist Psychologie, Philosophie - und Religion in einem.

 

Literatur:

Margarete Mitscherlich: Das Ende der Vorbilder. Vom Nutzen und Nachteil der Idealisierung. München: Piper 1978, 2. Aufl. 1980.

Margarete Mitscherlich: Die Jugend braucht Vorbilder. Hamburg: Hoffmann und Campe 1981.

 



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