Home C. G. Jungs Sicht der Psychologie

 

Auszüge aus einer 82seitigen "Sammlung",

Psychologisches Institut der Universität Zürich, Oktober 1966,

15-24, 27-30, 35-39, 41-43, 50-51, 55-59, 63-66.

 

Siehe auch:    Menschenbilder - Teil 4: Die Selbstwerdung des Erwachsenen

                                                       Teil 5: Wie ich den andern Menschen sehe

                        Umwege zum eigenen Ich (besonders am Schluss)

                        Literatur: Individuation

                        Literatur: Traumdeutung – Schlaf- und Traumforschung – Traumpsychologie

                        Rund um die Auseinandersetzung C. G. Jungs mit Freud

 

 

Zum Vergleich:          Wovon handelt die heutige Psychologie?

 

 

Das 1948 gegründete C. G. Jung-Institut in Küsnacht bei Zürich:

http://www.junginstitut.ch

Die 2004 gegründete International School of Analytical Psychology Zurich:

http://www.isapzurich.com

Verlag für Jungiansche Titel:

http://www.daimon.ch

Verlag Stiftung für Jung’sche Psychologie:

http://www.jungiana.ch

Zu Marie-Louise von Franz:

http://marie-louisevonfranz.com/de/

Einge Angaben zu den ersten Schülerinnen von C. G. Jung:

http://www.polity.co.uk ... Rowland.pdf

 

1977 schenkte die Erbengemeinschaft von C. G. Jung der ETH-Bibliothek in Zürich umfangreiche Korrespondenzen und Manuskripte zur "Errichtung eines C. G. Jung -Arbeitsarchivs". Ab 1980 wurde begonnen, die Dokumente zu archivieren und zu erfassen. Siehe:

http://e-collection.ethbib.ethz.ch/

Suchen mit: C. G. Jung Manuskripte-Katalog

 

Übersicht über die „Gesammelten Werke“:

http://www.cgjung.de/Info/CGJung/cgjung.html

 

 

Literatur zum Vergleich:

 

Jolande Jacobi: Psychologische Betrachtungen. Eine Auslese aus den Schriften von C. G. Jung. Zürich: Rascher 1945; 2. Aufl. 1949;
Neuausgabe u. d. T.: Mensch und Seele. Aus dem Gesamtwerk 1905-1961 ausgewählt. Olten: Walter 1971;
Zürich: Buchclub Ex Libris 1976.

Andrew Samuels: A Critical Dictionary of Jungian Analysis. London: Routledge & Kegan Paul 1986; erneut 1993;
dt.: Wörterbuch Jungscher Psychologie. Stuttgart: Kösel 1989; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1991.

Helmut Hark (Hrsg.): Lexikon Jungscher Grundbegriffe. Mit Originaltexten von C. G. Jung. Olten: Walter 1988; 5. Aufl. 2003.

Lutz Müller, Annette Müller (Hrsg.): Wörterbuch der Analytischen Psychologie. Düsseldorf: Walter 2003; paperback Düsseldorf: Patmos 2008.

Renos K. Papadopoulos: The Handbook of Jungian Psychology. Theory, Practice and Applications. London: Routledge 2006.

 

 

Inhalt

I. Psychologie verlangt Kenntnis und Selbsterkenntnis

II. Sinn der Psychologie

III. Handbücher: Was ist Psychologie?

IV. Was ist Psychologie?

V. Das Forschungsfeld der Psychologie

1. Die Psyche

2. Der Mensch

VI. Psyche und Physis

            C. G. Jung über sich selbst

VII. Wissenschaft - Praxis

 

Die Quellenangaben betreffen die gedruckte Form der Aufsätze und Texte.

 

I. Psychologie verlangt Kenntnis und Selbsterkenntnis

 

"Ich bin mir bewusst, dass die meisten Menschen glauben, alles zu wissen, was man über Psychologie wissen kann, denn sie meinen, Psychologie sei nichts anderes, als was sie von sich selbst wissen.

Psychologie ist aber beträchtlich mehr. Während sie wenig mit Philosophie zu tun hat, ist sie sehr viel mehr mit empirischen Tatsachen beschäftigt, von welchen ein gut Teil für die Durchschnittserfahrung schwer zugänglich ist.

 

… Das ganz allgemeine Vorurteil gegen Träume ist nur eines der Symptome einer sehr viel ernsteren Unterbewertung der menschlichen Seele überhaupt. Die grossartige Entwicklung von Wissenschaft und Technik wird auf der andern Seite aufgewogen durch einen erschreckenden Mangel an Weisheit und Introspektion. Zwar spricht unsere religiöse Lehre von einer unsterblichen Seele; aber sie hat sehr wenige freundliche Worte für die wirkliche menschliche Psyche, welche geradewegs in die ewige Verdammnis gelangen würde, hätte nicht ein besonderer Akt göttlicher Gnade gewaltet.

 

Diese beiden wichtigen Faktoren sind weitgehend verantwortlich für die allgemeine Unterbewertung der Psyche, aber nicht ausschliesslich. Viel älter als diese relativ jungen Entwicklungen sind die primitive Furcht und Abneigung gegen alles, das ans Unbewusste grenzt."

So spricht der bekannt Zürcher Psychiater C. G. Jung in seinem Buch "Psychologie und Religion" (ursp. 1937; 1962, 10 u. 22).

 

Was er nun in bezug auf das Wesen der menschlichen Seele vorzubringen hat, sind in erster Linie unmittelbare Erfahrungen, d. h. Beobachtungen am Menschen.

"Man hat diesen Beobachtungen vorgeworfen, dass es sich dabei um unbekannte bzw. schwer zugängliche Erfahrungen handle.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, auf die man immer wieder stösst, dass absolut jeder, auch der unmassgeblichste Laie, über Psychologie völlig Bescheid zu wissen glaubt, wie wenn die Psyche ausgerechnet jenes Gebiet wäre, welches sich der allgemeinsten Bekanntschaft erfreute. Jeder wirkliche Kenner der Menschenseele wird mir aber beipflichten, wenn ich sage, dass sie zum Dunkelsten und Geheimnisvollsten gehört, das unserer Erfahrung begegnet. Man hat auf diesem Gebiete nie ausgelernt" ("Bewusstes und Unbewusstes", urspr. 1944; 1957, 54).

 

 

II. Sinn der Psychologie

 

"ich bin überzeugt, dass die Erforschung der Seele die Wissenschaft der Zukunft ist. Psychologie ist sozusagen die jüngste der Naturwissenschaften, und steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. Sie ist aber jene Wissenschaft, die uns am nötigsten ist, denn es stellt sich allmählich immer deutlicher heraus, dass weder Hungersnot noch Erdbeben, noch Mikroben, noch Karzinom, sondern der Mensch dem Menschen die grösste Gefahr ist und zwar darum, weil es keinen genügenden Schutz gibt gegen psychische Epidemien, die unendlich viel verheerender wirken als die grössten Naturkatastrophen. Es wäre darum im höchsten Grade wünschenswert, wenn sich die Kenntnis der Psychologie dermassen verbreitete, dass die Menschen verstehen könnten, woher ihnen die grössten Gefahren drohen" ("L'homme à la découverte de son âme", 1943, 402).

 

Jolande Jacobi führt in ihrem Buch "Die Psychologie von C. G. Jung" (ursp. 1940; 2. Aufl. 1945; 4. Aufl. 1959, XIV) diesen Gedanken fort:

"Würde also dem Menschen aus den grauenhaften Leiden und Zerstörungen des Krieges zumindest diese Einsicht erwachsen und das Erkennen der in seiner Psyche waltenden dunklen Kräfte aufdämmern, dann wäre manches vielleicht nicht vergeblich gewesen. Zöge er dann aber auch die notwendigen Folgerungen daraus, nämlich diese dunklen Kräfte zuerst in sich selbst zu erhellen, um sie durch ihren organischen Einbau in seine Psyche zu bändigen, dann würden sie ihn nicht mehr zu ihrem Spielball machen können, oder ihn im Schmelztiegel der Massen zum reissenden Tier werden lassen: dann wäre auf dem Weg wirklichen und dauernden Kulturschaffens ein Schritt der Entwicklung getan."

 

Neben dieser Anerkennung der "inneren" Kräfte geht es aber in gleichem Masse auch um den "bewussten Vollzug der inneren Einigung an der menschlichen Beziehung als unerlässliche Bedingung, denn ohne bewusst anerkannte und akzeptierte Bezogenheit auf den Nebenmenschen gibt es überhaupt keine Synthese der Persönlichkeit" (Jules Angst, 1966).

 

"Wer also eine Antwort haben will auf das heute gestellte Problem des Bösen, der bedarf in erster Linie einer gründlichen Selbsterkenntnis, d. h. einer bestmöglichen Erkenntnis seiner Ganzheit. Er muss ohne Schonung wissen, wieviel des Guten er vermag und welcher Schandtaten er fähig ist, und er muss sich hüten, das eine für wirklich und das andere für Illusion zu halten. Es ist beides wahr als Möglichkeit, und er wird weder dem einen noch dem anderen ganz entgehen, wenn er - wie er es eigentlich von Hause aus müsste - ohne Selbstbelügung oder Selbsttäuschung leben will. ...

 

Wir bedürfen heute der Psychologie aus vitalen Gründen. Man steht perplex, verdummt und ratlos vor dem Phänomen des Nationalsozialismus und Bolschewismus, weil man nichts vom Menschen weiss, oder doch nur ein halbseitiges und entstelltes Bild von ihm hat. Hätten wir Selbsterkenntnis, so wäre das nicht der Fall. Vor uns steht die furchtbare Frage nach dem Bösen, und man weiss es nicht einmal, geschweige denn eine Antwort. Und wenn man es noch wüsste, so begreift man nicht, 'wie das alles so kommen konnte'.

 

... Man hat zwar infolge der politischen Lage sowohl wie der furchtbaren, ja dämonischen Erfolge der Wissenschaft heimliche Schauer und dumpfe Ahnungen, aber man weiss keinen Rat, und nur die wenigsten ziehen den Schluss, dass es diesmal um die längst vergessene Seele des Menschen geht "(Aniela Jaffé, "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, 1962, 333-335).

 

"Warum hat man das Unbewusste nicht schon längst entdeckt und seinen Schatz an ewigen Bildern gehoben? Ganz einfach darum nicht, weil wir eine religiöse [1935: christliche] Formel für alle Dinge der Seele hatten, die weit schöner und umfassender ist, als unmittelbare Erfahrung.

 

... Seitdem die Sterne vom Himmel gefallen und unsere höchsten Symbole verblasst sind, herrscht geheimes Leben im Unbewussten. Deshalb haben wir heutzutage eine Psychologie und deshalb reden wir vom Unbewussten.

All dies wäre und ist auch in der Tat ganz überflüssig in einer Zeit und in einer [1935 nur: oder] Kulturform, welche Symbole hat. Denn diese sind Geist von oben, und dann ist auch der Geist oben. Darum wäre es für solche Menschen ein törichtes und sinnloses Unterfangen, ein Unbewusstes erleben oder erforschen zu wollen, das nichts enthält als das stille, ungestörte Walten der Natur.

Unser Unbewusstes aber birgt belebtes Wasser, d. h. naturhaft gewordenen Geist, um dessentwillen es aufgestört ist. Der Himmel ist uns physikalischer Weltraum geworden, und das göttliche Empyreum eine schöne Erinnerung, wie es einstmals war.

[1935: Unser Unbewusstes aber birgt naturhaft, d. h. wassergewordenen Geist, um dessentwillen es gestört ist. Der Himmel ist uns leerer Weltraum geworden, eine schöne Erinnerung, wie es einstmals war.]

 

... Die Beschäftigung mit dem Unbewussten Ist uns eine Lebensfrage. Es handelt sich um geistiges Sein oder Nichtsein. Alle jene Menschen, denen die im erwähnten Traum angedeutete Erfahrung zugestossen ist, wissen, dass der Schatz in der Wassertiefe ruht, und sie werden ihn zu heben versuchen. Da sie nie vergessen dürfen, wer sie sind, so dürfen sie ihr Bewusstsein unter keinen Umständen verlieren [1935: nie in Gefahr bringen]. Sie werden also ihren Standpunkt auf der Erde festhalten; sie werden damit - um im Gleichnis zu bleiben - zu Fischern, welche das, was im Wasser schwimmt, mit Angel und Netz fangen" (C. G. Jung, "Bewusstes und Unbewusstes", ursp. 1935; 1957, 15 und 33-34).

 

 

III. Handbücher: Was ist Psychologie?

 

C. G. Jungs Ausführungen zu dieser Frage (unter III.) seien einige prägnante Erläuterungsversuche aus einschlägigen. Handbüchern vorangestellt:

 

"Psychologie: ... Ausdruck zur Bezeichnung der Wissenschaft von den sich im Menschen abspielenden seelischen Vorgängen und ihren gesetzmässigen Zusammenhängen, die durch Selbstbeobachtung, Beobachtung an andern und Experimente erfasst und erschlossen werden" (Johannes Hofmeister, 1955, 495).

 

"Die Psychologie ist die Wissenschaft von den subjektiven Lebensvorgängen, die gesetzmässig mit den objektiven [körperlichen] verknüpft sind" (Richard Pauli, 1927; nach Friedrich Dorsch, 1963, 268).

Mehr philosophisch gefasst: "Psychologie ist die Wissenschaft, welche die bewussten Vorgänge und Zustände sowie deren Ursachen und Wirkungen untersucht" (Hubert Rohracher, 1958; nach Friedrich Dorsch, 1963, 268)

 

Die Aufgaben der Psychologie als Erfahrungswissenschaft "bestehen in der Erforschung der seelischen Erscheinungen mit dem Ziel der Beschreibung oder Erklärung" (Friedrich Dorsch, 1963, 268) - Klassifikation und Systematik also einerseits von "den Entstehungszusammenhängen der psychischen Phänomene [Motivation] und auf der andern Seite … der Entwicklung der seelischen Vorgänge und Zustände" (Johannes Hofmeister, 1955, 496) - " und in der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf Anforderungen des kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens" (Friedrich Dorsch, 1963, 268).

 

Als Wichtigstes gelten dabei die Prinzipien

  • des Geschehens,
  • des Lebens oder des Organischen,
  • der Subjektivität [Erlebnis, Erfahrung] und
  • der gesetzmässigen Verknüpfung

(Richard Pauli, 1927; nach Dorsch, 1963, 268).

 

 

IV. Was ist Psychologie?

 

C. G. Jung formuliert nun:

"In der Psychologie gehört zu den wichtigsten Phänomenen die Aussage, und insbesondere deren formale und inhaltliche Erscheinungsweise, wobei letzterem Aspekt in Ansehung des Wesens der Psyche wohl die grössere Bedeutung zukommt.

Die Aufgabe, die sich jeweils zuerst stellt, ist die Beschreibung und Ordnung der Vorkommnisse, sodann folgt die genauere Untersuchung auf die Gesetzmässigkeit ihres lebendigen Verhaltens.

Die Frage nach der Substanz des Beobachteten ist in der Naturwissenschaft nur dort möglich, wo sich ein archimedischer Punkt ausserhalb findet. Für die Psyche fehlt ein solcher Standpunkt ausserhalb, weil ja nur die Psyche die Psyche beobachten kann. Infolgedessen ist die Erkenntnis der psychischen Substanz unmöglich, wenigstens für unsere jetzigen Mittel.... Vorderhand wird aber auch unsere feinste Erklügelung nicht mehr feststellen können, als was sich im Satz ausdrucken lässt: so verhält sich die Psyche" (C. G. Jung, "Bewusstes und Unbewusstes" ursp. 1945; 1957, 92).

 

Nochmals: "Es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus man urteilen könnte, da die Psyche ununterscheidbar ist von ihrer Manifestation. Die Psyche ist das Objekt der Psychologie und unglücklicherweise zugleich auch ihr Subjekt. Über diese Tatsache kommen wir nicht hinweg" (C. G. Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 61).

 

Also: "Die Psychologie beschäftigt sich nicht mit dem 'An-Sich' der Dinge sondern nur mit deren Vorstellung" (C. G .Jung, "Über psychische Energetik und das Wesen der Träume", ursp. 1928; 1965, 195, Anm. 5).

 

"Psychologie ist ... weder Biologie noch Physiologie noch irgendeine andern Wissenschaft als eben das Wissen um die Seele" (C. G. Jung, "Bewusstes und Unbewusstes", fehlt 1935; 1957, 41).

 

 

V. Das Forschungsfeld der Psychologie

 

1. Die Psyche

 

Wenn man irgendetwas über Psychologie als Lehre, Wissenschaft oder ganz einfach als Wissen - Seelenkunde - von der Seele, vom Seelenleben, von seelischen Sein und Geschehen ausführen will, ist es nicht zu umgehen, einiges über dieses Seelische auszusagen und festzuhalten:

 

Forschungsfeld und Anwendungsbereich der Psychologie ist die Psyche - bei Jung mehr beinhaltend als der Ausdruck "Seele" (= abgegrenzter Funktionskomplex) - als Tatsachenbereich und Wirklichkeit - "Wirklich aber ist, was wirkt" (C. G. Jung, "Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten", ursp. 1928; 1963, 113) - die Psyche in ihrer Struktur und Dynamik, also mit ihren Vermögen (Eigenschaften) und Funktionen.

 

Erfasst werden menschliches Erleben und Verhalten, Charakter, Fähigkeiten, Persönlichkeit, Ausdruck eines Einzelnen im natürlichen gesellschaftlichen und kulturellen (im weitesten Sinne) Gefüge. Losgelöst vom Menschen kann die Psyche gar nicht betrachtet werden.

Es geht in der Psychologie also darum, den Menschen in folgenden Beziehungen zu erfassen:

a) zu sich selber, zu seinen natürlichen, elementaren Bedürfnissen und Strebungen, zu seinem Tun und Lassen usw.

b) zu seinen Mitmenschen, zu Völkern, Rassen, zur Menschheit

c) zu Natur und Leben

d) zu Kultur, Geschichte und ihren Produkten, als da sind:

 

unbelebte Gebilde:               belebte:

Institutionen                            Ideen, Ideologien

Industrie                                  Kultur, Erziehung, Politik

Maschine                               Kunst, Sprache

Technik                                   Recht, Sitte

Bauten                                    Wissenschaft

usw.                                        usw.

 

mit all ihren Auswirkungen wie Verkehr, Kommunikation, Planung, Regelung, Werbung, Dienstleistung usw., aber auch: Angst, Unsicherheit, Macht, Terror, Freizeit usw.

 

und

e) zu Religion - Geist - Gott.

 

 

"Seele ist das Lebendige im Menschen"

 

"Beseeltes Wesen ist [1935 zusätzlich: ein] lebendiges Wesen. Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebenverursachende; darum blies Gott dem Adam einen lebendigen Odem ein, damit er lebe. Die Seele verführt die nicht lebenwollende Trägheit des Stoffes mit List und spielerischer Täuschung zum Leben. Sie überzeugt von unglaubwürdigen Dingen, damit das Leben gelebt werde [1935: lebe]. Sie ist voll von Fallstricken und Fussangeln, damit der Mensch zu Fall komme, die Erde erreiche, sich dort verwickle und daran hängen bleibe, damit das Leben gelebt werde [1935: lebe – die Fortsetzung des Satzes fehlt 1935]; wie schon Eva im Paradies es nicht lassen konnte, Adam von der Güte des verbotenen Apfels zu überzeugen. Wäre die Bewegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner grössten Leidenschaft, der Trägheit, zum Stillstand kommen [1935: ersticken und verfaulen; die nachfolgende Quellenangabe fehlt 1935] (F. de La Rochefoucauld: Pensées LIV).

 

... Die Anima ist keine dogmatische Seele, keine anima rationalis [1935: keine dogmatische Seele, als welche eine apotropäische représentation collective ist], welche ein philosophischer Begriff ist, sondern ein natürlicher Archetypus, der in befriedigender Weise alle Aussagen des Unbewussten, des primitiven Geistes, der Sprach- und Religionsgeschichte subsumiert. Sie [1935: Die Anima] ist ein 'factor' in des Wortes eigentlichem Sinne.

 

Man kann sie nicht machen, sondern sie ist immer das A priori von Stimmungen, Reaktionen, Impulsen und was es sonst von psychischen Spontaneitäten gibt. Sie ist ein Lebendes aus sich, das uns leben macht; ein Leben hinter dem Bewusstsein, das nicht restlos diesem integriert werden kann, sondern aus dem letzteres [1935: dieses] im Gegenteil eher hervorgeht. Denn schliesslich ist das psychische Leben zum grösseren Teil ein unbewusstes und umfasst das Bewusstsein von allen Seiten [1935: auf allen Seiten].

 

... Trotzdem es scheint, als ob der Anima die Gesamtheit des unbewussten Seelenlebens zukäme, so ist sie doch nur ein Archetypus unter vielen. Darum ist sie nicht schlechthin charakteristisch für das Unbewusste [1935: für das Leben des Unbewussten]. Sie ist nur ein Aspekt desselben. Das zeigt sich schon in der Tatsache ihrer Weiblichkeit. Das, was nicht Ich, nämlich männlich ist, ist höchst wahrscheinlich weiblich, und weil das Nicht-Ich als dem Ich nicht zugehörig und darum als ausserhalb empfunden wird, so ist das Animabild in der Regel auch immer auf Frauen projiziert.

[1935: Diese Tatsache wäre an sich erstaunlich, wenn nicht der allernächste Gegensatz zum Männlichen das Weibliche wäre. Das, was nicht Ich = männlich ist, ist darum höchst wahrscheinlich weiblich, weshalb das Animabild auch immer auf Frauen projiziert wird.]

Jedem Geschlecht wohnt das Gegengeschlecht bis zu einem gewissen Betrage inne, weil biologisch einzig die grössere Anzahl von männlichen Genen den Ausschlag in der Wahl der Männlichkeit [1935: des Männlichen] gibt. Die kleinere Anzahl an weiblichen Genen scheint einen weiblichen Charakter zu bilden, welcher aber [1935: bildet einen weiblichen Charakter, der aber] infolge seiner Unterlegenheit gewöhnlich unbewusst bleibt [1935 zusätzlich: jederzeit aber offen in Funktion tritt, wenn die spezifische Männlichkeit beschädigt wird, z. B. durch Kastration oder durch Alterserschöpfung]" (C. G. Jung, "Bewusstes und Unbewusstes, ursp. 1935; 1957, 36-37).

 

Realität, Totalität und Ganzheit des Psychischen

 

"Alles, was ich erfahre, ist psychisch. Selbst der physische Schmerz ist ein psychisches Abbild, das ich erfahre; alle meine Sinnesempfindungen, die mir eine Welt von raumfüllenden, undurchdringlichen Dingen aufzwingen, sind psychische Bilder, die einzig meine unmittelbare Erfahrung darstellen, denn sie allein sind es, die mein Bewusstsein zum unmittelbaren Objekt hat.

Ja, meine Psyche verändert und verfälscht die Wirklichkeit in solchem Masse, dass ich künstlicher Hilfsmittel bedarf, um feststellen zu können, was die Dinge ausser mir sind, dass z. B. ein Ton eine Luftschwingung von bestimmter Frequenz, und eine Farbe eine bestimmte Wellenlänge des Lichtes ist. Im Grunde genommen sind wir dermassen in psychische Bilder eingehüllt, dass wir zum Wesen der Dinge ausser uns überhaupt nicht vordringen können. Alles, was wir je wissen können, besteht aus psychischem Stoff. Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist. Auf diese Realität kam sich der Psychologe berufen, nämlich auf die Realität des Psychischen" (C. G. Jung, "Wirklichkeit der Seele", ursp. 1931; 1964, 23-24).

 

"Da wir nicht alles wissen, enthält praktisch jede Erfahrung, jede Tatsache oder jedes Objekt etwas Unbekanntes. Wenn wir also von der Totalität einer Erfahrung sprechen, kann sich das Wort 'Totalität' nur auf den bewussten Teil der Erfahrung beziehen. Da wir nicht annehmen können, dass unsere Erfahrung die Totalität des Objekts umfasse, ist es klar, dass dessen absolute Totalität notwendigerweise den Teil enthalten muss, der nicht erfahren wurde. Dasselbe gilt … von jeder Erfahrung und auch von der Psyche, deren absolute Totalität auf alle Fälle einen wesentlich grösseren Umfang hat als das Bewusstsein.

Mit andern Worten, die Psyche macht keine Ausnahmen von der allgemeinen Regel, dass das Wesen des Universums nur insoweit festgestellt werden kam, als unser psychischer Organismus es erlaubt.

Meine psychologische Erfahrung hat mir immer wieder gezeigt, dass gewisse Inhalte von einer Psyche herstammen, die vollständiger ist als das Bewusstsein. Sie enthalten oft eine überlegene Analyse oder Einsicht oder ein Wissen, welche das jeweilige Bewusstsein nicht hervorzubringen vermöchte. Wir haben ein passendes Wort für solche Vorkommnisse - Intuition (C .G .Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 51-52).

 

"Bewusstsein und Unbewusstes bilden zusammen eine Ganzheit. Wenn eines der beiden vom anderen unterdrückt oder beschädigt wird, wenn sie in Widerstreit stehen, soll es ein unparteiischer Kampf sein, der beiden Seiten dieselben Rechte einräumt, denn beides sind lebenswichtige Aspekte.

Das Bewusstsein soll eine Vernunft und seinen Selbstschutz rechtfertigen dürfen, und das chaotische Leben des Unbewussten soll auf seine Weise, in einem uns erträglichen Masse, seine Chancen haben. Dies bedeutet gleichzeitig offener Konflikt und offene Zusammenarbeit. Doch paradoxerweise Ist dies vermutlich der Sinn des menschlichen Lebens. Es ist das alte Spiel von Hammer und Amboss: Das geduldig zwischen ihnen liegende Eisen wird am Ende zu einer unzerbrechlichen Ganzheit, zum Individuum, geformt. Dieser psychische Ablauf wird 'Individuationsprozess' genannt" (C .G. Jung, "The Integration of Personality", 1939, 13).

 

 

Grenzen der Psyche

 

"Alle Aussagen, die überhaupt denkbar sind, werden von der Psyche gemacht. Sie erscheint u. a. als ein dynamischer Prozess, der auf der Grundlage der Gegensätzlichkeit der Psyche und ihrer Inhalte beruht und ein Gefälle zwischen ihren Polen darstellt.

 

… Wenn nun die energetische Auffassung der Psyche zu Recht besteht, sind Aussagen, welche die durch die Polarität gesetzte Grenze zu überschreiten suchen - also z. B. Aussagen über eine metaphysische Wirklichkeit - nur noch als Paradoxa möglich, wenn sie auf irgendwelche Gültigkeit Anspruch erheben sollten.

 

Die Psyche kam nicht über sich selber hinausspringen, d. h. sie kann keine absoluten Wahrheiten statuieren; denn die ihr eigene Polarität bedingt die Relativität ihrer Aussage.

 

... Mit meiner Bemühung, die Begrenztheit der Psyche darzutun, meine ich nun eben gerade nicht, dass es nur Psyche gebe. Wir können bloss nicht über die Psyche hinaussehen, wo und insofern es sich um Wahrnehmung und Erkenntnis handelt. Davon, dass es ein nicht psychisches, transzendentes Objekt gibt, ist die Naturwissenschaft stillschweigend überzeugt. Sie weiss aber auch, wie schwierig es ist, die wirkliche Natur des Objektes zu erkennen, namentlich dort, wo das Organ der Wahrnehmungen versagt oder gar fehlt, und wo passende Denkformen nicht vorhanden sind, beziehungsweise erst noch erschaffen werden müssen.

... Ich war nie der Meinung, dass unsere Wahrnehmung alle Seinsformen zu erfassen vermöchte.

 

Ich habe daher sogar das Postulat aufgestellt, dass das Phänomen archetypischer Gestaltungen, also exquisit psychischer Ereignisse, auf dem Vorhandensein einer psychoiden Basis, also einer nur bedingt psychischen, beziehungsweise anderen Seinsform beruhe. Aus Ermangelung empirischer Daten habe ich weder Wissen noch Erkenntnis von solchen Seinsformen, die man gemeiniglich als 'geistig' bezeichnet.

 

In Ansehung der Wissenschaft ist es irrelevant, was ich darüber glaube. Ich muss mich mit meiner Unwissenheit begnügen. Insofern sich aber Archetypen als wirksam erweisen, sind sie mir wirklich, wenn ich schon nicht weiss, was ihre reale Natur ist.

 

Dies gilt natürlich nicht nur von den Archetypen, sondern von der Natur der Psyche überhaupt. Was sie auch immer von sich selber aussagen mag, nie wird sie sich selber übersteigen. Alles Begreifen und alles Begriffene ist an sich psychisch, und insofern sind wir in einer ausschliesslich psychischen Welt hoffnungslos eingeschlossen. Trotzdem haben wir Grund genug, hinter diesem Schleier das uns bewirkende und beeinflussende, aber unbegriffene absolute Objekt als seiend vorauszusetzen, auch in jenen Fällen - insbesondere in dem der psychischen Erscheinungen - wo keine realen Feststellungen gemacht werden können.

 

... Die archetypischen Aussagen beruhen auf instinktiven Voraussetzungen und haben nichts mit der Vernunft zu tun; sie sind weder vernünftig begründet, noch können sie durch vernünftige Argumente beseitigt werden. Sie waren und sind seit jeher Teile des Weltbildes, 'représentations collectives', wie sie Lévy-Bruhl richtig bezeichnet hat" (Aniela Jaffé, "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung", 1962, 352-355).

 

Archetypen

 

"Was immer vom Individuum ausgeht, ist in gewisser Weise einmalig, darum vorübergehend und unvollkommen; besonders dann, wenn es sich um spontane seelische Produkte wie Träume und dergleichen handelt. Kein anderer wird dieselben Träume haben, obwohl manch einer dasselbe Problem hat.

 Aber ebenso, wie es kein Individuum gibt, das zu einem Zustand von absoluter Einzigartigkeit differenziert ist, gibt es auch keine individuellen Schöpfungen von absolut einzigartiger Qualität. Sogar Träume sind zu einem sehr hohen Grade aus kollektivem Material gemacht, ebenso wie in der Mythologie und im Folklore verschiedener Völker gewisse Motive sich in fast identischer Form wiederholen.

Ich habe diese Motive Archetypen genannt und verstehe darunter Formen oder Bilder kollektiver Natur, welche ungefähr auf der ganzen Erde als Konstituenten der Mythen und gleichzeitig als autochthone, individuelle Produkte unbewussten Ursprungs vorkommen.

Die archetypischen Motive stammen wahrscheinlich aus jenen Prägungen des menschlichen Geistes, die nicht nur durch Tradition und Migration, sondern auch durch Vererbung überliefert werden. Die letztere Hypothese ist unerlässlich, da sogar komplizierte archetypische Bilder ohne jede Möglichkeit direkter Tradition spontan reproduziert werden können.

 

… Ich vermute …, dass die vererbte Eigenschaft so etwas sei wie die formale Möglichkeit, dieselben oder wenigstens ähnliche Ideen wieder hervorzubringen. Ich habe diese Möglichkeit 'Archetypus' genannt.

 Ich verstehe unter Archetypus demnach eine strukturelle Eigenschaft oder Bedingung, welche der mit dem Gehirn irgendwie verbundenen Psyche eigentümlich ist.

 

… Im Grunde genommen ist alles seelische Geschehen dermassen auf den Archetypus gegründet und mit diesem verwoben, dass es in jedem Falle bedeutender kritischer Anstrengung bedarf, um das Einmalige mit Sicherheit vom Typus zu sondern. Schliesslich ist eben jedes individuelle Leben zugleich auch das Leben des Aeons der Species. Das Individuelle ist stets 'historisch', weil strengstens an die Zeit gebunden; die Beziehung des Typus zur Zeit hingegen ist indifferent" (C. G. Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 62, 123, 105).

 

 

2. Der Mensch

 

"Wir können annehmen, dass die menschliche Persönlichkeit aus zweierlei besteht: erstens aus dem Bewusstsein und allem, was dieses umfasst, und zweitens aus einem unbestimmbar grossen Hinterland unbewusster Psyche. … Es gibt unvermeidlicherweise ein unbegrenzbares und undefinierbares, zusätzliches Etwas zu jeder Persönlichkeit, insofern als letztere aus einem bewussten, beobachtbaren Teil besteht, welcher gewisse Faktoren nicht enthält, deren Existenz wir jedoch gezwungen sind anzunehmen, um gewisse Tatsachen zu erklären. Die unbekannten Fakten bilden das, was wir als den unbewussten Anteil der Persönlichkeit bezeichnen.

 Wir können nicht wissen, woraus diese Faktoren bestehen, denn wir können nur ihre Wirkungen beobachten. Wir nehmen an, dass sie eine psychische Natur haben, vergleichbar jener der bewussten Inhalte; aber eine Sicherheit in dieser Hinsicht gibt es nicht. …

 

Unglücklicherweise gibt es keinen Zweifel an der Tatsache, dass der Mensch im Ganzen genommen weniger gut ist, als er sich einbildet oder zu sein wünscht. Jedermann ist gefolgt von einem Schatten, und je weniger dieser im bewussten Leben des Individuums verkörpert ist, um so schwärzer und dichter ist er.

Wenn eine Minderwertigkeit bewusst ist, hat man immer die Chance, sie zu korrigieren. Auch steht sie ständig in Berührung mit andern Interessen, so dass sie stetig Modifikationen unterworfen ist. Aber wenn sie verdrängt und aus dem Bewusstsein isoliert ist, wird sie niemals korrigiert. Es besteht dann überdies die Gefahr, dass in einem Augenblick der Unachtsamkeit des Verdrängte plötzlich ausbricht. Auf alle Fälle bildet es ein unbewusstes Hindernis, das die bestgemeinten Versuche zum Scheitern bringt.

 

Wir tragen unsere Vergangenheit mit uns, nämlich den primitiven und inferioren Menschen mit seinen Begehrlichkeiten und Emotionen, und wir können uns von dieser Last nur durch eine beträchtliche Anstrengung befreien. Wenn es zu einer Neurose kommt, haben wir es immer mit einem erheblich verstärkten Schatten zu tun. Und wenn ein solcher Fall geheilt werden soll, so muss ein Weg gefunden werden, auf welchem die bewusste Persönlichkeit und der Schatten zusammenleben können. …

 

Eine blosse Unterdrückung des Schattens ist ebenso wenig ein Heilmittel, wie Enthauptung gegen Kopfschmerzen. Die Moral eines Menschen zu zerstören, hilft ebenfalls nicht, weil es sein besseres Selbst töten wurde, ohne welches auch der Schatten keinen Sinn hat. Die Versöhnung der Gegensätze ist eines der wichtigsten Probleme, das selbst in der Antike einige Geister beschäftigte" (C. G .Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 50-51 u. 91).

 

Ganzheit und Gegensatz

 

"Wir müssen uns aber wohl an den Gedanken gewöhnen, dass das Bewusstsein kein Hier und das Unbewusste keine Dort ist. Die Psyche stellt vielmehr eine bewusst-unbewusste Ganzheit dar" (C. G. Jung, "Von den Wurzeln des Bewusstseins", ursp. 1946; 1954, 557), und anderswo sagt Jung: "Ganzheit haben heisst voll Widerspruch sein".

 

"Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut; die Eindeutigkeit aber ist ein Zeichen der Schwäche. Darum verarmt eine Religion innerlich, wenn sie ihre Paradoxien verliert oder vermindert; deren Vermehrung aber bereichert, denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum ungeeignet, das Unerfassliche auszudrücken" (C. G. Jung, "Bewusstes und Unbewusstes", ursp. 1944; 1957, 67).

 

Nochmals sei Jolande Jacobi zu Hilfe genommen:

"Das Gegensatzproblem ist für Jung 'ein der menschlichen Natur inhärentes Gesetz'. 'Die Psyche ist ein System mit Selbstregulierung.' Und 'es gibt kein Gleichgewicht und kein System mit Selbstregulierung ohne Gegensatz'" [aus C. G. Jung, "Über die Psychologie des Unbewussten", 1943, 111 - siehe auch "Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, 1928; 1963, 56].

 

Heraklit hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt, nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte dies die Enantiodromia, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe.

… 'Alles Menschliche ist relativ, weil alles auf innerer Gegensätzlichkeit beruht, denn alles ist energetisches Phänomen. Energie beruht notwendigerweise auf prae-existentem Gegensatz, ohne welchen es gar keine Energie geben kann ... Immer muss hoch und tief, heiss und kalt usw. vorausgehen, damit der Ausgleichungsprozess, der Energie ist, stattfinden kann. ... Alles Lebendige ist Energie und beruht daher auf Gegensätzlichkeit ... Nicht eine Konversion ins Gegenteil, sondern eine Erhaltung der früheren Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils' [aus C. G. Jung, "Über die Psychologie des Unbewussten", 1943, 137] ist das erstrebenswerte Ziel" (Jolande Jacobi, "Die Psychologie C. G. Jungs", ursp. 1940; 1959, 78).

 

Ich und Selbst

 

"Wie alle Energie aus dem Gegensatz hervorgeht, so besitzt auch die Seele ihre innere Polarität als unabdingbare Voraussetzung ihrer Lebendigkeit, wie schon Heraklit erkannt hat. Theoretisch sowohl wie praktisch ist sie allem Lebendigen inhärent. Dieser mächtigen Bedingung steht die leicht zerbrechliche Einheit des Ich gegenüber, die nur mit Hilfe unzähliger Schutzmassnahmen allmählich im Laufe der Jahrtausende zustandegekommen ist. Dass ein Ich überhaupt möglich war, scheint davon herzurühren, dass alle Gegensätze sich auszugleichen streben" (Aniela Jaffé, "Erinnerungen, Träume Gedanken von C. G. Jung", 1962, 348-349).

 

"Das individuelle Bewusstsein [ist] gegründet ... auf und eingebettet in eine unbestimmbar weit ausgedehnte, unbewusste Psyche ... Tatsächlich ist es unmöglich, die Ausdehnung und den definitiven Charakter psychischer Existenz zu bestimmen. Wenn wir nun vom Menschen sprechen, so meinen wir dessen unbegrenzbares Ganzes, eine unformulierbare Totalität, die nur symbolisch ausgedrückt werden kann.

Ich habe den Ausdruck 'Selbst' gewählt, um die Totalität des Menschen, die Summe seiner bewussten und unbewussten Gegebenheiten, zu bezeichnen" (C. G. Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 97-98).

 

Jung fasst also das Ich auf "als untergeordnet oder enthalten in einem übergeordneten Selbst als dem Zentrum der ganzen, unbegrenzten und undefinierbaren psychischen Persönlichkeit" (C. G. Jung, "Psychologie und Religion", ursp. 1937; 1962, 51).

 

 

Das Selbst

 

"Intellektuell ist das Selbst nichts als ein psychologischer Begriff, eine Konstruktion, welche eine uns unerkennbare Wesenheit ausdrücken soll, die wir als solche nicht erfassen können, denn sie übersteigt unser Fassungsvermögen, wie schon aus ihrer Definition hervorgeht.

Sie könnte ebensowohl als 'der Gott in uns' bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkte zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen. Dieses Paradoxon ist unausweichlich, wie immer, wenn wir etwas zu kennzeichnen versuchen, was jenseits des Vermögens unseres Verstandes liegt.

 

Ich hoffe, es sei dem aufmerksamen Leser hinlänglich klar geworden, dass das Selbst mit dem Ich genau soviel zu tun hat wie die Sonne mit der Erde. Die beiden können nicht verwechselt werden. Ebensowenig handelt es sich um eine Vergottung des Menschen oder um eine Herabsetzung Gottes. Was jenseits unseres menschlichen Verstandes liegt, ist für diesen sowieso unerreichbar. Wenn wir daher den Begriff eines Gottes gebrauchen, so formulieren wir damit einfach eine bestimmte, psychologische Tatsache, nämlich die Unabhängigkeit und Übermacht gewisser psychischer Inhalte, die in ihrer Fähigkeit, den Willen zu durchkreuzen, das Bewusstsein zu obsedieren und die Stimmungen und Handlungen zu beeinflussen, sich ausdrückt.

 

 

"Das Selbst könnte charakterisiert werden als eine Art von Kompensation für den Konflikt zwischen Innen und Aussen. Diese Formulierung dürfte nicht übel passen, insofern das Selbst den Charakter von etwas hat, das ein Resultat, ein erreichtes Ziel ist, etwas, das nur allmählich zustande gekommen und durch viele Mühe erfahrbar geworden ist. So ist das Selbst auch das Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man Individuum nennt, und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in der einer den andern zum völligen Bilde ergänzt.

 

Mit der Empfindung des Selbst als etwas Irrationalem, undefinierbar Seiendem, dem das Ich nicht entgegensteht und nicht unterworfen ist, sondern anhängt, und um welches es gewissermassen rotiert, wie die Erde um die Sonne, ist das Ziel der Individuation erreicht.

Ich gebrauche das Wort 'Empfindung', um damit den Wahrnehmungscharakter der Beziehung von Ich und Selbst zu. kennzeichnen. In dieser Beziehung ist nichts Erkennbares, denn wir vermögen über Inhalte des Selbst nichts auszusagen. Das Ich Ist der einzige Inhalt des Selbst, den wir kennen. Das individuierte Ich empfindet sich als Objekt eines unbekannten und übergeordneten Subjektes.

 

Mir scheint, als ob die psychologische Konstatierung hier zu ihrem äussersten Ende käme, denn die Idee eines Selbst ist an und für sich bereits ein transzendentes Postulat, das sich zwar psychologisch rechtfertigen, aber wissenschaftlich nicht beweisen lässt. Der Schritt über die Wissenschaft hinaus ist ein unbedingtes Erfordernis, der hier geschilderten psychologischen Entwicklung, denn ohne dieses Postulat wüsste ich die empirisch stattfindenden psychischen Prozesse nicht genügend zu formulieren.

Das Selbst beansprucht daher zum mindesten den Wert einer Hypothese, entsprechend der der Atomstruktur. Und - sollten wir auch hier noch in einem Bilde eingeschlossen sein - so Ist es etwas übermächtig Lebendiges, dessen Deutung jedenfalls meinen Möglichkeiten nicht gelingt. Ich zweifle auch gar nicht, dass es ein Bild ist, aber eines, in dem wir noch enthalten sind" (C. G. Jung, "Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten", ursp. 1928; 1963, 134-135, 137).

 

 

VI. Psyche und Physis

 

"Ähnlich wie unser Weltbild durch Copernicus von dem Vorurteil der Geozentrizität befreit werden musste, so bedurfte es auch grösster- Anstrengungen von beinahe revolutionärer Natur, um die Psychologie zuerst aus dem Banne mythologischer Auffassungen und sodann von dem Vorurteil zu lösen, dass sie einerseits ein blosses Epiphänomen eines biochemischen Vorganges im Gehirn und andererseits eine nichts als persönliche Angelegenheit sei.

Der Zusammenhang mit dem Gehirn beweist einerseits zwar keineswegs, dass die Psyche ein sogenanntes Epiphänomen, eine sekundäre Erscheinung sei, kausal abhängig von biochemischen Vorgängen im Substrat; andererseits wissen wir aber zur Genüge, wie sehr die psychische Funktion von nachweisbaren Vorgängen im Gehirn gestört werden kann. Diese Tatsache ist dermassen eindrücklich, dass der Schluss auf die psychischen Epiphänomenalität beinahe unausweichlich erscheint.

 

Die parapsychologischen Phänomene mahnen aber zur Vorsicht, denn sie weisen auf eine Relativierung von Raum und Zeit durch psychische Faktoren hin, welche unsere etwas vorschnelle und naive Erklärung des psychophysischen Parallelismus in Frage stellen. Zugunsten dieser leugnet man die Erfahrungen der Parapsychologie glattwegs, sei es nun aus weltanschaulichen oder aus Gründen der geistigen Trägheit. Auf alle Fälle kann dieses Verfahren nicht als wissenschaftlich verantwortlich bezeichnet werden, wennschon es einen beliebten Ausweg aus einer ganz ungewöhnlichen Denkschwierigkeit bedeutet.

Zur Beurteilung des psychischen Phänomens müssen wir eben alle in Frage kommenden Phänomene berücksichtigen und können deshalb keine allgemeine Psychologie mehr betreiben, welche die Existenz des Unbewussten oder die Parapsychologie ausschliesst.

 

Die Struktur und Physiologie des Gehirns ermöglichen keine Erklärung des Bewusstseinsvorganges. Die Psyche besitzt eine Eigenart, die sich auf nichts anderes oder Ähnliches reduzieren lässt. Sie stellt wie die Physiologie ein in sich relativ abgeschlossenes Erfahrungsgebiet dar, dem insofern eine ganz eigenartige Bedeutung zukommt, als es die eine der beiden unerlässlichen Bedingungen des Seins überhaupt in sich schliesst, nämlich das Phänomen des Bewusstseins. Ohne letzteres gibt es nämlich praktisch keine Welt, da diese nur existiert, insofern sie von einer Psyche bewusst reflektiert und ausgesprochen wird. Das Bewusstsein ist eine Bedingung des Seins.

 

Damit kommt der Psyche die Würde eines kosmischen Prinzips zu, welches ihr - philosophisch und de facto - neben den Prinzip des physischen Seins eine ebenbürtige Stellung anweist. Träger dieses Bewusstseins Ist das Individuum, welches die Psyche nicht willkürlich erzeugt, sondern umgekehrt von letzterer vorgebildet und dem in der Kindheit allmählich erwachenden Bewusstsein zugeführt wird. Hat so die Psyche eine alles überragende empirische Bedeutung, so hat sie auch das Individuum, welches die alleinige unmittelbare Erscheinung der Psyche ist" (C .G. Jung, "Gegenwart und Zukunft", 1957, 30-31).

 

 

Das Vorurteil: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten

 

"Ich weiss, dass die allgemeine Psychologie den grössten Gewinn aus einer ernsthaften Beschäftigung mit dem Traumproblem ziehen könnte, wenn sie sich nur einmal von dem ganz ungerechtfertigten und laienhaften Vorurteil, die Träume entsprängen ausschliesslich somatischen Reizen, befreien könnte.

 

Die Überschätzung des Somatischen ist auch in der Psychiatrie einer der wesentlichsten Gründe, warum die Psychopathologie keine Fortschritte macht, insofern sie nicht direkt von der Analyse befruchtet ist. Das Dogma: 'Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten' ist ein Überbleibsel des Materialismus der siebziger Jahre des vorigen [19.] Jahrhunderts. Es Ist zu einem durch nichts zu rechtfertigenden Vorurteil geworden, das jeden Fortschritt hemmt. Selbst wenn es wahr wäre, dass alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, so wäre das noch lange kein Gegengrund gegen die Erforschung der psychischen Seite der Krankheit. Das Vorurteil wird aber benützt, um alle Versuche in dieser Hinsicht von vornherein zu diskreditieren und totzuschlagen. Der Beweis, dass alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, ist aber nie erbracht worden, kann auch gar nie erbracht werden, sonst müsste auch bewiesen werden können, dass der Mensch so oder so denkt oder handelt, weil die oder jene Eiweisskörper in den oder jenen Zellen zerfallen sind oder sich gebildet haben.

 

… Ebensowenig aber, wie wir berechtigt sind, das Leben überhaupt einseitig, willkürlich und beweislos materialistisch aufzufassen, sind wir berechtigt, die Psyche als Gehirnvorgang zu verstehen, ganz abgesehen davon, dass der Versuch, sich etwas derartiges vorzustellen, allein schon aberwitzig ist und auch immer Aberwitz zutage gefördert hat, so oft er ernsthaft gemacht wurde. Vielmehr ist der psychische Vorgang als psychisch zu betrachten, und nicht als ein organischer Zellvorgang" (C. G. Jung, "Über psychische Energetik und das Wesen der Träume", ursp. 1928; 1965, 147-148).

 

 

Gehirnphysiologie

 

"Die psychophysische Relation ist meines Erachtens ein Problem für sich, das vielleicht einmal gelöst werden wird. Derweilen aber hat sich die Psychologie bei dieser Schwierigkeit nicht aufzuhalten, sondern kann die Psyche als ein relativ geschlossenes System betrachten, Dabei muss allerdings mit dem mir unhaltbar erscheinenden 'psychophysischen' Standpunkt gebrochen werden, denn seine epiphänomenologische Betrachtungsweise ist noch ein Erbstück des alten, wissenschaftlichen Materialismus.

 

… Die Kausalbeziehungen psychischer Tatsachen unter sich, die wir jederzeit beobachten können, widersprechen der epiphänomenologischen Ansicht, die eine fatale Ähnlichkeit hat mit der materialistischen Meinung, dass die Psyche das Sekret des Gehirns sei, wie die Galle das der Leber.

Eine Psychologie, die das Psychische als Epiphänomen betrachtet, tut besser, sich eine Gehirnphysiologie zu nennen und mit der überaus spärlichen Ausbeute sich zu begnügen, welche eine solche Psychophysiologie liefert. Das Psychische verdient als ein Phänomen an sich genommen zu werden; denn es liegen gar keine Gründe vor, wonach es als blosses Epiphänomen zu betrachten wäre, obschon es an die Gehirnfunktion gebunden ist, so wenig als man das Leben als ein Epiphänomen der Kohlenstoffchemie auffassen kann.

 

Die unmittelbare Erfahrung von psychischen Quantitätsbeziehungen einerseits und die tiefe Dunkelheit einer noch ganz unfassbaren psychophysischen Verknüpfung andererseits berechtigen zu einer wenigstens provisorischen Betrachtung der Psyche als eines relativ geschlossenen energetischen Systems" (C. G. Jung, "Über psychische Energetik und das Wesen der Träume", ursp. 1928; 1965, 15-16).

 

 

C .G. Jung über sich selbst

 

"Man hat mich abwechslungsweise als Gnostiker und Agnostiker, als Theisten und Atheisten, als Mystiker und als Materialisten, als heimlichen Katholiken und als den verheissenen Antichrist perhorresziert.

 

In dem Konzert der Meinungen, was ich sein soll, hat man eigentlich beharrlich nur das übersehen, was zu sein ich mich mein ganzes Leben lang bemühte: Arzt und Spezialist für Nerven- und Geisteskrankheiten, ein Psychiater, der nicht von einem Glaubensbekenntnis ausgeht, sondern dem daran gelegen ist, sein Erfahrungsmaterial darzustellen und zu deuten, um dem nächsten Patienten noch besser helfen zu können.

 

Meine Begriffe bezeichnen Erfahrungsgruppen oder Einzeltatsachen. Es sind naturwissenschaftliche, keine philosophischen Begriffe. An und für sich sind sie inhaltlos - im Gegensatz zu den philosophischen Begriffen, die identisch sind mit dem, was sie sagen. Weshalb auch heute, mit Verlaub. viele Philosophien nur noch Wortklaubereien sind. Wörter wie 'Elefant' oder 'Archetypus' sind aber weder ein logischer Schluss noch eine Behauptung noch ein subjektives Urteil. Sie suggerieren gar nichts; wenn ich das ihnen zugrunde liegende Phänomen nicht kenne, sind sie sinnlose Lautkombinationen.

 

Das sollte doch nicht so schwierig zu verstehen sein. Und trotzdem rühren fast alle Missverständnisse, mit denen ich mich herumzuschlagen habe, daher, dass man mich für einen Philosophen, meine Begriffe für philosophische hält. Man tut so, als ob ich eines Tages den Lehrsatz, das Bewusstsein habe vier Funktionen, erfunden und mich dann in der Praxis nach ein paar kümmerlichen Belegen umgeschaut hätte.

 

Da habe ich auch wieder so ein Buch: Es ist ganz auf meinen Begriffen aufgebaut, gut gemeint, aber grundfalsch.

Und so ist es mit fast allen Aufsätzen, die in allen Sprachen über mein Werk erscheinen. Es ist manchmal zum Verzweifeln. Besonders auch deshalb, weil den Ärzten, die Sinn für die naturwissenschaftlichen Tatsachen hätten, dafür wieder die geisteswissenschaftlichen Parallelen schnuppe sind. Aber ich bin ja schliesslich nicht schuld daran, dass die Seele sich nicht bloss im ärztlichen Konsultationsraum manifestiert."

 

C. G. Jung im Gespräch mit Georg Gerster,

in: Georg Gerster: Aus der Werkstatt des Wissens. 1. Folge. Frankfurt am Main: Ullstein Buch Nr. 73, 1962, 9-10 (1. Aufl. u. d. T.: "Eine Stunde mit …", 1956).

 

 

 

VII. Wissenschaft - Praxis

 

Die Wissenschaft übergeht die wirklichen Phänomene

 

"Die Glaubensartikel der Wissenschaft sind: Raum, Zeit und Kausalität; aber das Vierte fehlt, das Verachtete, das Pleroma.

Die Wissenschaft kann Erfahrungen sammeln und aus einer Menge von Erfahrungen die Mitte ziehen, aber die wirklichen Phänomene werden von ihr übergangen. Die Wissenschaft kommt nur zu den gröbsten Gründlösungen. Die naturwissenschaftliche Philosophie ist nicht realistisch sondern eine Abstraktion. Grosse Lebensgebiete werden von der Wissenschaft als nicht existent erklärt, damit sie sich weiter an die Gesetze von Raum und Zeit halten kann.

In der Welt ist aber nicht das Gleichmässige, sondern die Ausnahme, die Individualität das Wichtigste. Auch in der Biologie gibt es keinen Normalmenschen. Das Resultat der Wissenschaft ist abstrakte Reduktion auf das Durchschnittliche, aber mit aller Raffinität lässt sich keine Identität erzeugen.

 

... Der Wissenschaftler hat ein rationales Präjudiz, das ihm die Wirklichkeit der Welt verdeckt. Die Wirklichkeit liegt nicht im statistischen Mittel, sondern in den Ausnahmen. Es gibt Weltsubstanz, für die keine statistischen Gesetze gelten, nur die Wahrscheinlichkeit" (Margret Ostrowski-Sachs, "Aus Gesprächen mit C. G. Jung, 1965, 35).

 

Man soll "nie vergessen, dass. die Wissenschaft nur eine Angelegenheit des Intellektes ist. Der Intellekt ist nur eine unter mehreren fundamentalen psychischen Funktionen und genügt darum nicht zur Schaffung einen allgemeinen Weltbildes. Dazu gehört zum mindesten auch das Gefühl.

Das Gefühl hat vielfach andere Überzeugungen als der Intellekt, und es ist nicht immer zu beweisen, dass die Überzeugungen des Gefühls gegenüber denen des Intellektes minderwertig seien.

Wir haben ferner die subliminalen Wahrnehmungen des Unbewussten, welche dem bewussten Intellekt nicht zur Verfügung stehen und deshalb bei einem intellektuellen Weltbild nicht In Betracht kommen.

Wir haben daher allen Grund, unserem Intellekt nur eine beschränkte Gültigkeit einzuräumen. Wo wir aber mit dem Intellekt arbeiten, müssen wir wissenschaftlich vorgehen und solange einem Erfahrungssatze treu bleiben, bis untrügliche Beweise seiner Ungültigkeit vorliegen" (C. G. Jung, "Über psychische Energetik und das Wesen der Träume", ursp. 1928; 1965, 206).

 

 

Professionelle Traumdeutung

 

"Zur praktischen Arbeit der professionellen Traumdeutung braucht es einerseits eine spezifische Geschicklichkeit und Einfühlung und andererseits ein beträchtliches symbolgeschichtliches Wissen.

Wie bei jeder praktischen psychologischen Tätigkeit genügt auch hier der blosse Intellekt nicht, sondern es bedarf auch des Gefühls, weil sonst die so überaus wichtigen Gefühlswerte des Traumes übersehen werden. Ohne diese aber ist Traumdeutung unmöglich.

Da der Traum aus dem Ganzen des Menschen geträumt ist, so muss ihm der, welcher ihn zu deuten versucht, auch mit dem ganzen Menschen begegnen. Ars totum requirit hominem, sagt ein alter Alchemist.

Der Verstand und das Wissen sollen dabei sein, aber sich nicht vordrängen vor dem Herzen, das seinerseits den Sentimenten nicht erliegen soll.

 

Alles in allem ist die Traumdeutung eine Kunst wie die Diagnostik, die Chirurgie und die Therapie überhaupt, schwierig, aber erlernbar von den dazu Fähigen und Vorbestimmten" (C. G. Jung, "Psychologie und Erziehung", ursp. 1946; 1963, 55).

 

"Jeder, der Träume bei andern analysiert, sollte sich stets bewusst halten, dass es keine einfache und allgemein bekannte Theorie der psychischen Phänomene gibt, weder über ihr Wesen, noch über ihre Ursachen, noch über ihren Zweck. Wir besitzen daher keinen allgemeinen Massstab des Urteils.

Wir wissen, dass es, vielerlei psychische Phänomene gibt. Was aber deren Wesen ist, darüber wissen wir nichts Gewisses. Wir wissen nur, dass die Betrachtung der Psyche von irgend einem abgesonderten Standpunkt aus zwar ganz wertvolle Einzelheiten ergeben kann, aber nie eine zureichende Theorie, nach der man auch deduzieren könnte, Die Sexual- und Wunschtheorie, ebenso die Machttheorie sind schätzenswerte Gesichtspunkte, ohne jedoch der Tiefe und dem Reichtum der menschlichen Seele irgendwie gerecht werden zu können. Hätten wir eine solche Theorie, dann könnte man sich mit der handwerksmässigen Erlernung der Methode begnügen.

 

… Zum Leidwesen der vielbeschäftigten Praktiker unserer Zeit verhält sich die Seele durchaus refraktär gegen jede Methode, welche von vornherein darauf ausgeht, sie von einem Standpunkt aus, abgesehen von allen andern, zu erfassen. Von den Inhalten des Unbewussten wissen wir neben ihrer Unterschwelligkeit zunächst nur, dass sie in einem Kompensationsverhältnis zum Bewusstsein stehen und daher wesentlich relativer Natur sind. Für das Verständnis des Traumes Ist daher die Kenntnis der Bewusstseinslage unerlässlich" (C. G. Jung, "Über psychische Energetik und das Wesen der Träume", ursp. 1928; 1965, 125-126).

 

 

Die Krankheit experimentiert mit dem Arzt

 

"Eine wissenschaftlich orientierte Psychologie muss natürlich abstrahierend vorgehen, d. h. sich von ihrem konkreten Gegenstand so weilt entfernen, dass sie ihn gerade nicht ganz, aus den Augen verliert. Daher kommt es, dass die Erkenntnisse der Laboratoriumspsychologie in praktischer und allgemeiner Hinsieht so oft merkwürdig unerleuchtend und uninteressant sind.

Je mehr aber das individuelle Objekt das Gesichtsfeld beherrscht, desto lebendiger, praktischer und umfassender wird die hieraus gezogene Erkenntnis. Allerdings komplizieren sich damit auch die Gegenstände der Nachforschung, und die Unsicherheit der Einzelfaktoren nimmt proportional mit ihrer Anzahl zu, d. h. die Irrtumsmöglichkeit vermehrt sich.

 

Begreiflicherweise scheut sich die akademische Psychologie vor diesem Risiko und zieht es vor, komplexe Tatbestände zugunsten einfacherer Fragestellungen zu umgehen, was sie auch ungestraft tun kann. Sie hat völlige Freiheit in der Wahl der Fragen, die sie der Natur stellen will.

 

In dieser mehr oder weniger beneidenswerten Lage befindet sich nun die medizinische Psychologie keineswegs. Hier stellt das Objekt die Frage und der Experimentator, der Arzt, wird mit Tatbeständen konfrontiert, die er nicht ausgewählt hat und wohl auch nicht auswählen würde, wenn er die dazu nötige Freiheit hätte. Die Krankheit bzw. der Kranke stellt die entscheidenden Fragen, d. h. die Natur experimentiert mit dem Arzt, indem sie Antwort von ihm erwartet. Die Einzigartigkeit des Individuums und dessen einmalige Situation stehen vor ihm und erheischen Antwort von ihm" (C. G. Jung, "Gegenwart und Zukunft", 1957, 32-33).

 

 

Der Arzt als Therapeut

 

"Ich werde oft nach meiner psychotherapeutischen oder analytischen Methode gefragt. Darauf kann ich keine eindeutige Antwort geben. Die Therapie ist bei jedem Fall verschieden. Wenn ein Arzt mir sagt, dass er strikte die eine oder andere 'Methode befolge', so bezweifle ich den therapeutischen, Effekt.

Man spricht in der Literatur so viel vom Widerstand des Patienten, dass es beinahe aussieht, als wolle man ihm etwas aufnötigen, während das Heilende doch aus ihm natürlich wachsen sollte.

 

Die Psychotherapie und die Analysen sind so verschieden wie die menschlichen Individuen. Ich behandle jeden Patienten so individuell wie möglich, denn die Lösung des Problems ist stets eine individuelle. Allgemeingültige Regeln lassen sich nur cum grano salis aufstellen. Eine psychologische Wahrheit ist nur dann gültig, wenn man sie auch umkehren kann. Eine Lösung, die für mich nicht in Frage käme, kann für jemand anderen gerade die richtige sein.

 

Natürlich muss ein Arzt die sogenannten 'Methoden' kennen. Aber er muss sich davor hüten, sich auf einen bestimmten routinemässigen Weg festzulegen. Theoretische Voraussetzungen sind nur mit Vorsicht anzuwenden. Heute sind sie vielleicht gültig, morgen können es andere sein. In meinen Analysen spielen sie keine Rolle. Sehr mit Absicht bin ich nicht systematisch. Für mich gibt es dem Individuum gegenüber nur das individuelle Verstehen. Für jeden Patienten braucht man eine andere Sprache. So kann man mich in einer Analyse auch adlerianisch reden hören oder in einer anderen freudianisch.

 

Der entscheidende Punkt ist, dass ich als Mensch einem anderen Menschen gegenüberstehe. Die Analyse ist ein Dialog, zu dem zwei Partner gehören. Analytiker und Patient sitzen einander gegenüber - Aug in Auge. Der Arzt hat etwas zu sagen, aber der Patient auch.

 

… Bei gebildeten und intelligenten Patienten braucht der Psychiater mehr als ein blosses Fachwissen. Er muss, frei von allen theoretischen Voraussetzungen, verstehen, was den Patienten in Wirklichkeit bewegt, sonst erregt er überflüssige Widerstände. Es handelt sich ja nicht darum, dass eine Theorie bestätigt wird, sondern dass der Patient sich selber individuell begreift. Dies ist allerdings nicht möglich, ohne Vergleich mit kollektiven Anschauungen, über die der Arzt unterrichtet sein sollte.

Hierfür genügt eine blosse medizinische Ausbildung nicht, denn der Horizont der menschlichen Seele umfasst unendlich viel mehr als den Gesichtskreis des ärztlichen Konsultationszimmers" (Aniela Jaffé, "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung", 1962, 136-138).

 

 

Literatur

 

Von C. G .Jung:

 

Neu Bahnen der Psychologie. Zürich: Rascher 1912;
erweitert u. d. T.: Die Psychologie unbewusster Prozesse. Schriften zu angewandten Seelenkunde. Zürich: Rascher 1917;
erweitert u. d. T.: Das Unbewusste im normalen und kranken Seelenleben. Zürich: Rascher 1926;
erweitert u. d. T.: Über die Psychologie des Unbewussten. Zürich: Rascher 1943.

Über die Energetik der Seele. Zürich: Rascher 1928;
2. Aufl. u. d. T.: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. 1948, erneut 1965;
darin: Über die Energetik der Seele (gemäss Vorwort engl. 1916 oder 1917)
Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes (das erste Viertel zuerst engl. 1916);
Die psychologischen Grundlagen des Geisterglaubens (gemäss Vorwort engl. 1916 oder 1917; eher engl. Vortrag 1919).

Analytische Psychologie und Erziehung. Heidelberg: Kampmann 1926; Zürich: Rascher 1936;
erweitert u. d. T.: Psychologie und Erziehung. Zürich: Rascher 1946; erneut 1963;
darin: Analytische Psychologie und Erziehung (ursp. Vorlesung engl. 1924, revidiert 1946).

Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten (erste viel kürzere Fassungen u. d. T.: La Structure de l’Inconscient, 1916/ The Concept of the Unconscious, 1917). Darmstadt: Reichl 1928; Zürich: Rascher 1935; erneut 1963.

Wirklichkeit der Seele. Zürich: Rascher 1934; erneut 1964;
darin: Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie (zuerst als Vortrag: Die Entschleierung der Seele, 1931)

Psychologie und Religion. Die Terry-Lectures 1937, gehalten an der Yale University. Zürich: Rascher 1940; erneut 1962.

The Integration of Personality. New York: Farrer & Rinehart 1939; London: Kegan Paul, Trench, Trubner 1940; 2. Aufl. 1941.

Bewusstes und Unbewusstes. Beiträge zur Psychologie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1957;
darin: Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten (1935; überarbeitet 1954);
Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie (1944);
Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen (zuerst: Zur Psychologie des Geistes, 1945).

L'homme à la découverte de son âme. Structure et fonctionnement de l'inconscient. Genève, Annemasse: Ed. du Mont-Blanc 1943.

Von den Wurzeln des Bewusstseins. Zürich: Rascher 1954;
darin: Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, 497-595 (zuerst: Der Geist der Psychologie, 1946).

Gegenwart und Zukunft. Zürich: Rascher 1957; 4. Aufl. 1964.

 

Über C. G. Jung:

 

Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Zürich: Rascher 1940, 4. Aufl. 1959.

Aniela Jaffé: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Zürich: Rascher 1962.

Margret Ostrowski-Sachs: "Aus Gesprächen mit C. G. Jung. Montagnola 1965 (ca. 1940-1961).

Jules Angst: Schriften zur Psychotherapie. Neue Zürcher Zeitung, 11.9.1966.

 

Wörterbücher:

 

Johannes Hofmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 1955.

Friedrich Dorsch: Psychologisches Wörterbuch. 7. Aufl. Hamburg: Meiner/ Bern. Huber 1963.

 




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