Home Der Kampf gegen Unwissenheit und Vorurteile

 

Anfang einer Skizze, ca. 1978

 

siehe auch:

Die Psychologie der Menschenbilder

Steuern Meinungen unser Verhalten?

Ordnung, Vernunft und soziale Gerechtigkeit

 

 

Schon die alten Griechen - wie könnte es anders sein – zogen gegen Vorurteile ins Feld.

 

Die Griechen wollten allein durch Denken und Argumentieren zur Wahrheit gelangen

 

Insbesondere Sokrates liebte es, seine Mitbürger in Erörterungen hineinzuziehen, wo sie sich in Widersprüche verwickelten und schliesslich zugeben mussten, gerade über solche Dinge keine Auskunft mehr geben zu können, die ihnen zunächst ganz selbstverständlich erschienen waren. Dabei ging es nicht etwa um Weltanschauung oder hoch philosophische Fragen, sondern die Gesprächspartner wurden mit Hilfe vernünftiger Argumentationen herausgefordert, über sich selbst und die Grundsätze ihrer Lebensführung Rechenschaft abzulegen. So führte sie Sokrates zur Selbsterfahrung, dass sie unfähig waren, über die wesentlichen Fragen ihrer eigenen Existenz Auskunft zu geben. Daher mussten sie bekennen: "Ich weiss, dass ich nichts weiss."

 

Mit dieser und anderen menschlichen Unvollkommenheiten haben sich freilich schon vor Sokrates manche Denker befasst:

 

·        Die Pythagoräer sahen die "Reinigung der Seele" (katharsis) als Lebensaufgabe.

·        Xenophanes kritisierte die Meinungen, welche die Menschen über die Götter haben und empfahl, durch stetiges Suchen das Bessere zu finden.

·        Heraklit verkündete stolz: "Ich erforschte mich selbst", relativierte aber sogleich: "Auch was der Bewährteste erkennt und bewahrt, ist nur eine Meinung." Diese Meinungen nannte er "Kinderspiele".

·        Die "Wahnvorstellungen der Sterblichen" führte Parmenides darauf zurück, dass sie Seiendes und Nichtseiendes in ihrem Denken vermischen.

·        Parmenides' Schüler Zenon zeigte, dass man mittels Dialektik aus derselben Voraussetzung zwei einander widersprechende Konsequenzen entwickeln kann.

·        "In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe", meinte Demokrit.

·        Der Spruch von Protagoras schliesslich: "Der Mensch ist das Mass aller Dinge" bedeutet, dass jede Vorstellung nur für den, der sie hat, "wahr" ist.

 

Die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit hat der grösste Schüler von Sokrates, Platon, eindrücklich in das "Höhlengleichnis" gekleidet. Platons Schüler Aristoteles hat in seiner Logik von falschen Schlüssen und in seiner Seelenlehre von falschen Vorstellungen und Meinungen gehandelt.

 

Kritischer als die Stoiker waren die Epikuräer bezüglich der Erkenntnisfähigkeit. Sie bekämpften insbesondere die den Menschen beunruhigenden abergläubischen Vorstellungen, die Furcht vor den Göttern und vor dem Tode. Der römische Ritter Lukrez sah vor allem die Religion als Quelle von Aberglauben und Täuschung an.

Die Skeptiker schliesslich empfahlen die Enthaltung von jedem Urteil und von jeder Behauptung. Dadurch befreit sich der Geist von verwirrenden und beunruhigenden Irrtümern; "Seelenruhe" kann einkehren. Karneades soll daher als erster eine Theorie der Wahrscheinlichkeit aufgestellt haben.

 

Wie ganz anders das Weltbild der Griechen von dem unsrigen ist, zeigt sich darin, dass sie nie auf den Gedanken kamen, Forschung und Erfahrung sprechen zu lassen, d. h. die Dinger selber anzusehen und zu untersuchen. Sie wollten allein durch Denken zur Wahrheit gelangen.

 

Das blieb viel länger als tausend Jahre so. Wenn ich mich recht erinnere - und hoffentlich täusche ich mich nicht allzusehr - berichtete noch um 1600 Francis Bacon, dass ein Gremium von Philosophen, Theologen und andern Gelehrten am grünen Tisch darüber diskutierte, ob Esel Zähne hätten. Als ein junger Student eintrat und vorschlug, man möchte doch in einem Stall selber einen Augenschein nehmen, um die Frage zu klären, schickte man ihn empört davon.

Auch Descartes baute noch auf das Denken (1637): "Ego cogito, ergo sum". Der in seiner Nachfolge weiter auf dem Denken oder der Vernunft aufbauende Rationalismus hielt sich bis etwa 1800.

 

 

Ab 1000: Die Araber bringen Europa Empirie und Wissenschaft

 

Dabei hatten bereits um die Jahrtausendwende kluge Köpfe begonnen, sich etwas mehr der Erfahrung und weniger der Spekulation zu widmen. Der erste war Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Sylvester II. Er lernte vor 970 in Spanien die Errungenschaften der arabischen Wissenschaft kennen und brachte von dort insbesondere eine grosse Zahl astronomischer Instrumente und den Abakus in die "abendländische' Wissenschaft. Bedeutsam ist, dass er nicht nur die Geometrie als Geistesschulung und Vermittlerin der Ehrfurcht vor Natur und Schöpferkraft Gottes herausstreicht, sondern die Geometrie, wie auch Arithmetik und Astronomie, als erster eingehend praktizierte und lehrte. So war er u. a., zusammen mit einem anderen Praktiker, Bernward von Hildesheim, Lehrer Ottos III.

 

Die arabische Gelehrsamkeit und Praxis des 8. bis 10. Jahrhunderts darf keinesfalls gering eingeschätzt werden. Unter der Fülle ihrer Leistungen seien hier nur drei herausgegriffen.

Ums Jahr 1030 legte der persische Philosoph und Arzt Avicenna (Ibn Sina) die Grundlage für eine empirische Psychologie, und sein Landsmann, der Historiker und Geograph Al Biruni spottete über die "Lügner", die vor ihm Geschichte geschrieben hatten. Er verlangte kritische Sichtung der Quellen und Kenntnisse aus erster Hand. Ferner gab er eine Einteilung der verschiedenen Arten von Irrtümern, Täuschungen und Vorurteilen, denen die Menschen unterliegen. Sie erwachsen aus Gewohnheit, Trägheit, Parteilichkeit und Leidenschaft. Ebenfalls zur gleichen Zeit schrieb Alhazen (Ibn Al-Haitham) eine physikalische, physiologische und psychologische Optik. Er war einer der ersten, der ausgiebig physikalische Experimente durchführte.

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Die Schriften und Ansichten dieser drei Araber beeinflussten die europäische Wissenschaft und Praxis bis ins 17. Jahrhundert, also über 600 Jahre lang.

 

 

1220-1620: Von der Theorie der Empirie zur echten Naturforschung

 

Seit Gerbert und den Arabern lässt sich die kritische und empirische Bewegung kontinuierlich verfolgen. Dabei blieb freilich über Jahrhunderte manches nur Theorie, etwa im 13. Jahrhundert bei Grosseteste und seinem Schüler Roger Bacon. Beide wirkten in Oxford, wo bald darauf auch Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham anzutreffen sind. Letzterer brachte den "Nominalismus" nach Paris, wo er von Nicolaus von Autrecourt, Johann Buridan und Nicolaus d'Oresme im 14. Jahrhundert weitergeführt wurde.

 

Es war ein beschwerlicher Weg von der Theorie der "Scientia experimentalis“ (Roger Bacon 1267) bis zu den richtigen Anfängen der neuzeitlichen Naturwissenschaft um 1600. Interessanterweise stand ihr Wegbreiter Francis Bacon den Forschungen seiner Zeit (Gilbert, Stevin, Kepler, Galilei und Harvey) weitgehend verständnislos gegenüber.

Wie sein Namensvetter 350 Jahre zuvor vertrat er die These "Wissen ist Macht" und zog daher gegen Vorurteile ins Feld. Insbesondere die heutige Soziologie verweist noch gerne auf seine Idolenlehre (1620).

Es sind nach Francis Bacon vier Arten von Idolen, welche den menschlichen Geist in Verirrung führen:

 

1. Die Idole des Stammes (idola tribus), also die menschliche Natur ganz grundsätzlich.

2. Die Idole der Höhle (idola specus), die individuellen Verirrungen.

. Die Idole des Marktes (idola fori), insbesondere die Sprache.

4. Die Idole des Theaters (idola theatri), also die philosophischen Systeme und Sekten, Tradition und blinder Glaube.

 

Es geht also um die "Entsündigung und Reinigung des Geistes" von falschen Vorstellungen, und zwar durch den Ansatz bei der Erfahrung von der in genau geregelten Schritten - durch die Methode der Induktion - zur Wahrheit gelangt werden kann.

 

 

Skepsis als Korrektur zum Fortschrittsglauben

 

Während Bacon so den Fortschrittsglauben einleitete, gab es damals aber auch ein Wiederaufleben der Skepsis.

In seinen "Essays" hat Montaigne (1580) mit viel Humor und Selbstkritik manche Vorurteile blossgestellt.

Eine ähnliche Art von Skepsis hat dann 150 Jahre später David Hume - der ebenfalls "Essays" verfasste - entwickelt. Man muss allen gewonnenen Ergebnissen misstrauen und für andere Meinungen, auch für die Korrektur durch die Erfahrung, offen bleiben.

 


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