HomeStichworte zum Zweiheitsproblem

 

Siehe auch/ see also: Literatur: Polarität/ Komplementarität/ Gegensatz

                                      Die philosophische Haltung

                                      Einige Polaritäten im Altertum

                                      Polarität und Gegensatz

 

 

1. Die Vielfalt der Zweiheiten

 

Nach der üblichen 'Zweiheitslehre' bestimmen zwei absolut voneinander verschiedene und unabhängig nebeneinander bestehende Prinzipien (Mächte, Substanzen) das Weltgeschehen.

Die bekanntesten sind: Geist und Stoff (Immaterielles und Materielles), Ideales und Reales, Belebtes und Unbelebtes (Werden und Sein), Bewusstsein (Ich) - Aussenwelt (Nicht-Ich), resp. Unbewusstes, Leib-Seele, Gut und Böse, Pflicht und Neigung, Altar und Thron, Wahrheit und Meinung, Rationales und Irrationales, Notwendigkeit und Freiheit.

 

Sofort taucht bei Betrachtung dieser Dualismen die Frage auf: Sind die beiden Prinzipien oder Seiten wirklich voneinander unabhängig, können sie überhaupt beziehungslos nebeneinander bestehen?

Um dieses Problem kreist denn auch das ganze philosophisch ethische, religiöse aber auch wissenschaftliche Ringen seit der Mensch 'ins Licht der dokumentierten Geschichte' trat. Im Folgenden soll dies ganz kurz angetippt werden.

 

Konflikte

 

Unter dem Wort 'Konflikt' könnte man wohl eines der Hauptprobleme der gesamten Menschheits- und Geistesgeschichte zusammenfassen, das heute zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses und Bewusstseins rückt. Bewaffnete und soziale Konflikte, Gefühls- und Meinungskonflikte, Spaltungstendenzen und Widersprüche bewegen uns, fordern uns zur Auseinandersetzung mit ihnen und zum fortwährenden Versuch ihrer Bewältigung heraus. Wer hat diese Konflikte geschaffen? Der Mensch, die Natur oder 'Situation', Gott?

 

Konflikt bedeutet Aufeinanderprallen von zwei oder mehr Ansichten oder Sachverhalten. Für einen Widerstreit braucht es also mindestens zwei Parteien.

Dass Zweiheit eines der aktuellsten und zentralsten Themen überhaupt ist, zeigt sich schon bei der 'Entstehung des Alls'.

Erstens behaupten wir heute etwas über Zeiten, wo es noch gar keine Menschen, ja nicht einmal die Erde, sondern (fast) nichts gab.

Zweitens bestehen über ein halbes Dutzend einander widersprechende naturwissenschaftliche Theorien über die Weltentstehung. Neben monistischen Auffassungen verschiedenster Art (Urknall, Urplasma), der Theorie des Expandierens, Pulsierens und des Steady-state (Continuous creation) gibt es - drittens - solche, wovon die eine 'am Anfang' zwei Elementarteilchen (ladungslose Neutronen), die zweite zwei aus einem elektromagnetischen Wellenzug erwachsene und entgegengesetzt geladene Urteilchen, die dritte ein Auseinandertreten von Materie und Antimaterie postuliert.

 

Schon früh - in der Erdgeschichte sowie (vielleicht) im menschlichen Erfassen - wurde zwischen Unbelebtem (Gebirge und Ozean) und Belebtem (Wüsten und Urwälder; mit dem 'struggle for existence'; Malthus und Darwin) unterschieden.

Die ersten Geräte des Menschen konnten gleicherweise als Werkzeuge und Waffen (für die ersten Konfliktaustragungen) dienen. Der Jäger und Sammler wurde später zum sesshaften Bauern (Pflanzer und Züchter). Das Wechselspiel von Aufbau und Niederreissen begann.

 

Frühe Zweiheiten in der Menschheitsgeschichte

 

Magna Mater- und Sonnen(gott)kulte wurden bestimmend, zum Beispiel Re-Aton gegen den Vegetations- und Totengott Osiris; Inanna/ Ischtar heiratet Dumuzi/ Tammuz (daneben: der Sonnengott Schamasch).

 

Das ägyptische "Memphis-Drama" (aus dem 8. Jh. v. Chr.), welches sich auf den Zustand um 3000 v. Chr. bezieht, unterschied bereits:

 

Herz (Denken, Verstehen)               - Zunge (Verkündigung, Verwirklichung)

Gut (was geliebt wird)                       - Böse (was gehasst wird)

Leben                                                 - Tod

Friedfertige                                        - Übeltäter

Recht (lobenswert)                            - Unrecht (tadelnswert)

Glück                                                  -  Unglück.

 

Die parsische Lehre des Zoroaster (in der Avesta; später vom Manichäismus ausformuliert) sah Ahriman (als Gott des Bösen, der Lüge und Finsternis) im Kampf mit Ormuzd/Ahura Mazda (dem Gott des Guten, der Wahrheit und des Lichtes).

Das alte Indien kannte in den Veden und Upanischaden das Begriffspaar Atman-Brahman (die in Einklang stehen, eins sind), die Doppelgottheit Shiva-Vishnu und in der Sankhya-Philosophie als letzte Wesenheiten Prakrti (Natur) und Purusa (Geist); das alte China Yang und Yin (verbunden im Taigitu, ruhend im Tao), oder später Li (Vernunft) und Ki (Materie).

Die Altamerikaner verehrten Quetzalcoatl/ Kukulkan/ Viracocha, der mit dem Jaguar kämpfte und vom Regengott Tlaloc begleitet war; sein Antagonist war Tezcatlipoca.

Die frühe griechische Mythologie stellte Gaia und Uranos an den Anfang. Der griechische Kult kannte Menschen und Dämonen (Götter).

Die jüdisch-christliche Religion kennt unter anderem die Zweiheiten Gott-Satan, Himmel und Erde (auch bei Hesiod) oder Hölle, Gott und Welt (Schöpfung, Volk, Mensch).

 

Zweiheiten in der Philosophiegeschichte

 

Mit den Vorsokratikern wird das Problem in kurzem Zeitraum noch vielfältiger.

Bei Anaximander entsteht, entfaltet oder verbesondert sich alles aus dem unterschiedslosen, unendlichen Ureinen (Apeiron: unbestimmbar Grenzenloses), um wieder in es zurückzufallen. Deshalb nannte Aristoteles diejenigen Philosophen, die den Ursprung suchen, woraus alles Seiende entsteht und wohinein es wieder vergeht.

Das klingt an die 'Urprinzipien' Tao, Advaita (oder Brahman), Maat (altägyptisch) und Heraklits 'Logos' an, welcher die ewige Atembewegung der Welt (hen kai pan: Ein und Alles), das Kräftespiel zwischen Einheit und Vielheit, Ausfaltung und Einfaltung in Gang hält (Panta rhei, 'der Weg hinauf-hinab einer'). Zugleich Gesetz und Wirklichkeit der immergeschehenden Wandlung (Werden) ist das 'Gegeneinander des Widerstrebenden'. Die Einheit daraus bezeichnet Heraklit als 'gegenwendige Zusammengefügtheit', vergleichbar dem Bogen und der Leier. Beim chinesischen Taigitu ist ebenfalls je eine Seite keimhaft in der andern angelegt.

Der Zeitgenosse Parmenides nannte den Ursprung 'Sein' (Licht) und negierte das 'Nicht-Sein' (Nacht), die Vielheit, stellte damit als erster den Satz vom Widerspruch auf und formulierte: 'Dasselbe ist Denken und der Gedanke dass Ist ist'.

Zenon versuchte Heraklit und Parmenides zu verbinden, ebenso Empedokles, der die von den Vorgängern postulierten Ursprünge Erde, Meer (Wasser), Luft und Leuchten (Feuer) als Urstoffe oder Elemente fasst, die die Wurzeln aller Vielheit bilden. Das Zusammenfügende ist die Liebe, das Auseinandertreibende der Hass. Die gegenwärtige Welt ist in der schwebenden Spannung zwischen Einheits- und Sonderungsstreben, zwischen Freundschaft und streit, Einheit und Vielheit.

Die 'Atomisten' Leukipp und Demokrit rangen ebenfalls um Sein und Werden, Verbindung und Trennung und unterschieden zwischen den Atomen und der Leere, und Protagoras erkannte: 'Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen oder Meinungen'.

Platon stellte dann die Zweiheit von Wirklichkeit und Ideenwelt (intelligible Welt) auf (Chorismus: Trennung der Seinesphäre bezüglich unseres Erkennens). Die Idee (Eidos; Gestalt, Form) ist verschieden vom Abbild (Eidolon), das nur die (sinnliche) Erscheinung der Gegenstände im Bewusstsein ist. Das verbindende Mittlere ist die Teilhabe (Methexis). Aristoteles brachte Form und Materie (schon im griechischen Mythos: Peras/ das Bestimmende und Apeiron/ das Bestimmbare), Möglichkeit (Potentialität) und Wirklichkeit (Aktualität) wieder in die Diskussion.

Die zweite Hälfte des Mittelalters prägte der Universalienstreit (Nominalismus gegen Realismus).

Descartes sah Geist und Natur oder Seele und Leib (res cogitans und res extensa) absolut verschieden (aber noch zusammengehalten vom übergeordneten Gott oder dem deus ex machina).

Seither liess diese Thematik Philosophie und Wissenschaft (Subjekt-Objekt-Spaltung) nicht mehr los. Kants Trennung von Sinnlichkeit und Verstand (als die beiden 'Stämme der Erkenntnis'), Ding an sich und Erscheinung wirkt weiter, Fichtes "ewiger Abgrund" zwischen Ich und Nicht-Ich und die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaft macht uns heute noch zu schaffen.

Die Grenzen zwischen ihnen fallen zwar weg, es gibt Übergänge, jedoch beide Seiten bleiben wesensverschieden. Die 'Einheitswissenschaft' ist nur eine Forderung des Neopositivismus. Auch Heidegger kommt nicht über die Unterscheidung von Denken (Vernehmen) und Sein (Sache des Denkens; Anwesenheit) d. h. die ontologische Differenz von Seiendem und Sein hinaus. Bei Sartre heisst es "Sein und Nichts".

 

Dies ein paar historische Stichworte, die das menschliche Ringen um die Erfassung des Einen und Vielen in einem schillernden Wechselspiel andeuten. Monismus, Dualismus und Pluralismus (Atomismus, Monadologie), oft durchsetzt von Identitäten, Dreischritten und Vierheiten machen den dialektischen Gang der Geistesgeschichte aus.

 

"Letzte" Zweiheiten?

 

Wie sieht man heute die Zweiheit. Grundsätzlich kann man Zweiheiten unterscheiden: von Entitäten oder letzten Prinzipien sowie Dingen, von Sätzen sowie Begriffen. Erstere zwei Gruppen fallen in den metaphysischen Bereich, letztere zwei in den logischen (womit bereits wieder eine Zweiheit aufgestellt wäre).

Wollte man die Zweiheiten in weitere Gruppen einteilen, so liessen sich - theoretisch - zwei Obergruppen finden: Zweiheit ohne und mit Beziehung (wobei das wiederum eine Zweiheit wäre). Strenggenommen kann aber erstere als 'beziehungslose Diversität' oder Disparatheit gar nicht vorkommen, wenn man entweder annimmt, 'keine Beziehung' sei auch eine Beziehung, oder diese Beziehungslosigkeit sei nur ein gedankliches oder Vorstellungsprodukt, mithin wenigstens in Bezug auf einen Denkenden. Auch etwa der "Widersacher" steht in - zwar feindlicher - Beziehung zu dem, wovon er Widersacher ist.

 

Betrachten wir also nur die Zweiheitsgruppe 'mit Beziehung', in der Annahme, dass es nichts gebe, das nicht irgendwie mit irgendetwas zusammenhänge, von ihm abhängig sei. Damit sind wir schon mitten in den Zirkel des Zweiheitsproblems hineingeraten, aus dem zu entrinnen nie gelingt.

 

2. Eine Ordnung der Arten von Zweiheit

 

Nur angedeutet sei, dass wir bei einer Zusammenstellung der Fülle von Zweiheitsarten erstens einmal nach mehr statischen und mehr dynamischen Betrachtungsweisen unterscheiden können. Zweitens zeigt eine Untersuchung der Wort- und Sinnbedeutungen, dass wir gliedern

können nach:

mehr dynamisch

Auseinander, Sonderung, Spaltung

Gegeneinander, innere Gegenläufigkeit

Wechselwirkung, Kampf, Regulation, Kompensation

Zusammenkommen

Vermittlung

 

            mehr statisch

Aussereinander, Unterschiedenheit, Zweiheit, Ausschliessung

Spannung, Gleichgewicht

Zusammensetzung

Ergänzung, Entsprechung

 

Jedenfalls ist Zweiheit ein Beziehungsproblem. Die Beziehung oder Relation gehört seit Aristoteles zu den zehn Kategorien (neben den drei anderen wichtigen: Substanz, Qualität, Quantität), das heisst zu den Grundformen aller Begriffsbildung resp. Arten des Aussagens (ebenso bei Kant).

 

Die 7 Grundarten von Zweiheit

 

Üblicherweise werden diese Beziehungen folgendermassen aufgeteilt:

 

1. Gegensatz (oppositio): In der Logik die Bezeichnung für die Relation von Dingen, Urteilen oder Begriffen, die einander ausschliessen oder aufheben. Dieses negative Verhältnis stellt das Trennende heraus innerhalb eines wieweit auch immer umfassenden Rahmens (zum Beispiel in der Empirie, Logik, Metaphysik).

 

a) kontradiktorischer Gegensatz: Ein Urteil oder Begriff wird einem andern gegenübergestellt, so dass sie einander gegenseitig absolut ausschliessen. Der Widerspruch (contradictio) ist die Bejahung (kataphasis, affirmatio) und Verneinung (apophasis, negatio, privatio) ein und derselben Sache (oder Begriff).

 

Man fordert dann, dass entweder das Ja oder das Nein gelte ('Satz des Widerspruchs'; Aristoteles: Metaphysik, 4. Buch) und somit das eine notwendig wahr, das andere falsch sei. Begrifflich lautet der kontradiktorische Gegensatz: A - Nicht-A, z. B. schwarz - nicht-schwarz.

 

'Antithese' bezeichnet eine der These entgegengesetzte Behauptung (eine Behauptung des Gegenteils oder einen entgegengesetzten Begriff).

Disjunktive Begriffe oder Urteile in der Logik haben zwei oder mehr einander gegenseitig ausschliessende Glieder (z. B. S ist P oder Q oder ...).

Kant bezeichnet mit Antithetik die Lehre von den Antinomien als einander widersprechende Aussagen. Die Antinomien (antistrophe, Entgegensetzung) sind ein Widerstreit von Sätzen oder auch Gesetzen, die einzeln gültig sein können, einander aber gegenseitig ausschliessen.

In diese unauflösbaren Widersprüche gerät die reine Vernunft notwendig bei der Betrachtung des Welt-Ganzen (Kant).

In der Metaphysik ist der Widerspruch die treibende Kraft des Geistes (J. Böhme, Hegel).

 

b) konträrer Gegensatz: eine engere Variante von a), bei der sich zwei Inhalte diametral entgegenstehen, einander innerhalb eines ganz bestimmten Sachbereiches (Gattung, Begriffsreihe) ausschliessen, aber kompatibel (verträglich) sind, wie z. B. weiss-schwarz, alt-jung, grob-fein, heiss-kalt, Licht-Dunkel, Nord-Süd, Tod-Leben, Freude-Schmerz.

 

Solche konträre Begriffe bezeichnen Endpunkte, zwischen denen ein kontinuierlicher Übergang möglich ist.

 

c) dialektischer Gegensatz: Der Gegensatz von These und Antithese (als Negation und Ergänzung der These) wird in einer höheren Synthese (Einheit) überwunden (Hegel).

 

2. Paradoxie: eine scheinbar widersinnige Aussage, z. B. 'Nur der Tote ist glücklich'. Auch der Sonderfall der Antinomie als Widerspruch eines Satzes oder Gesetzes mit sich selbst, so dass entgegengesetzte Parteien es je zu ihren Gunsten auslegen können. Ebenfalls die contradictio in adjecto (z. B. 'runder Kreis', 'lebender Leichnam') und das 'Sowohl-Als-auch'.

 

"Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut; die Eindeutigkeit aber ist ein Zeichen der Schwäche. Darum verarmt eine Religion innerlich, wenn sie ihre Paradoxien verliert oder vermindert; deren Vermehrung aber bereichert, denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum ungeeignet, das Unerfassliche auszudrücken" (C. G. Jung: "Bewusstes und Unbewusstes" 1957 [ursp. 1944], 67).Tertullians 'credo, quia absurdum' ist hier gemeint.

 

3. Amphibolie oder Zweideutigkeit (Ambiguität): Die meisten Begriffe können verschieden gemeint oder gebraucht werden (z. B. 'Vorstellung' oder 'Erscheinung'), womit für jedes Wort mindestens zwei Ebenen unterschieden werden müssen (was wiederum mindestens eine Zweiheit ist).

Hierher gehören auch Ambivalenz und der 'Gegensinn der Urworte'. (Symbol ist der Januskopf)

 

4. Gleichheit, Ähnlichkeit sind weitere Arten von Zweiheit; ebenso Parallelismus, Äquivalenz, Konvergenz, Korrespondenz (Entsprechung), Kongruenz, Homologie und Analogie, Symbiose und Parasitismus, Symmetrie und Gleichzeitigkeit (Synchronizität), usw.

 

5. Polarität und Komplementarität: ein Sonderfall des konträren Gegensatzes (1 b). Das eine ist das spezifische absolute Gegenteil des andern, kann aber nur in der Bezogenheit auf das andere es selbst sein, ist auf dieses angewiesen.

Beide können also nur sein in der gegenseitigen spezifischen Beziehung und Gegensätzlichkeit zueinander. Das ist die Gegensätzlichkeit von zwei einander Bedingenden, die unsymmetrisch sind und in Kampf (Antagonismus) oder Wechselwirkung stehen (Korrelation z. B. Schuld-Sühne, Gatte-Gattin, noesis-noema).

Pole sind damit zwei entgegengesetzte, aber zusammengehörige Teile oder Momente eines Ganzen. Sie können einander ergänzen (Komplementarität) oder neutralisieren. Hegel fasste die Polarität als 'Unterschied, in welchem die Unterschiedenen untrennbar verbunden sind'.

 

Bekannte Polaritäten sind die Begriffspaare Licht-Dunkel, Männlich-Weiblich, Appollinisch-Dionysisch, Ich-Du, Individuum-Gemeinschaft, Leib-Seele.

Bewusstsein und Unbewusstes werden etwa als Pole eines (seelischen) Feldkontinuums gefasst (Pongratz).

Die Freudsche Trieblehre beispielsweise beruht ganz auf dem Antagonismus oder der Mischung zweier Grundtriebe: Libido und Aggression (Destrudo). 'Die zwei Grundtriebe bilden vereinte Kräfte oder handeln gegeneinander, und gerade durch diese Kombination entstehen die Phänomene des Lebens' (Anna Freud).

 

Die Klemme

 

Bei jeder Postulierung von Gegensätzen geraten wir immer in eine Klemme (Aporie, Dilemma), weil wir in der Alternative stehen, zwischen zwei Möglichkeiten wählen müssen. Alternative ist die peinliche Notwendigkeit, sich angesichts zweier Möglichkeiten je und je für die eine oder andere zu entscheiden, und sei dies nur die Wahl zwischen dem Stehenlassen der Gegensätze oder Polaritäten oder dem Versuch ihrer Einigung.

 

Polarisierung

 

Die Tendenz geht heute dahin, schlechthin alles als Polarität oder Komplementarität aufzufassen, sei es in Philosophie oder Wissenschaft (Psychologie, Physik, Politik, z. B. Herrschaft-Knechtschaft).

'Polarisierung' ist momentan ein Modewort, denn die Unterscheidung der verschiedenen Arten von Gegensätzen und der Polarität ist - ausser für den logischen Bereich - von geringer Bedeutung. Im metaphysischen, ethischen und praktischen Bereich geht es ganz einfach immer um ein dynamisches und dialektisches Kräfte- oder Zusammenspiel zwischen Gegensatzpaaren oder Polaritäten. Mögen die Pole oder Gegensatzpaare auch absolut und dabei ewig massungleich sein, sie sind doch aufeinander angewiesen, nur durch einander sinnvoll. So ist das Entscheidende ihre Vereinigung oder Versöhnung durch den Menschen.

 

Betrachten wir den Anlass für die Aufhebung des kontradiktorischen Gegensatzes in eine Polarität oder Komplementarität noch etwas genauer: Wir müssen feststellen, dass auch das Bggriffspaar A - Nicht-A in einer Beziehung steht, indem ja Nicht-A gerade und nur in Bezug auf A als Nicht -A bestimmt wird.

 

Ich und das Andere

 

Eine letzte doppelte Zweiheit ist überdies, dass immer Ich (als Person) denke, Vorstellungen habe und Aussagen mache über etwas was Nicht-Ich ist, also über Objekte oder Entitäten, wobei auch schon meine Vorstellungen und Aussagen Nicht-Ich sind. Denkender, Denken und Gedachtes, respektive Aussage und Ausgesagtes müssen immer irgendwie auseinandergehalten werden, auch wenn der Denkende in seinem Denken sich selbst als Gedachtes fasst.

Ebenso ist es mit der Handlung. Genauso wie ich denke, handle ich auch; doch das Ergebnis meiner Handlung ist etwas anderes als ich bin, zum Beispiel eine Verstimmung meines Partners, ein handwerklicher oder künstlerischer Gegenstand.

Zwar sauber voneinander unterschieden, bildet dies alles eine Korrelation oder Komplementarität, ob wir nun vom Ich oder vom 'Objekt' ausgehen.

 

Selbst das Absolute kann nur als in sich Geschlossenes, Unvergleichbares oder Unbedingtes postuliert werden, ist jedoch zumindest seinem Namen nach bezogen auf das, wovon es sich abgelöst hat. Ja, wir können formulieren: Das Absolute leuchtet im Relativen auf und leitet es; so sind beide voneinander abhängig: Das Relative gewinnt am Absoluten Form, das Absolute am Relativen Inhalt.

 

3. Der Versuch der Vermittlung

 

Das Problem der Einheit ist ebenso alt wie das der Zwei- oder Mehrheit, es ist ja unlösbar mit ihm verknüpft. Atman-Brahman und das Taigitu, respektive Tao seien wiederum erwähnt.

 

Bei den Gnostikern und Neuplatonikern entsteht aus dem (unendlichen) Einen (hyperusion, ensoph, Ungrund, Abgrund; Fülle/Pleroma; Licht) durch Ausstrahlen, Ausfliessen (Emanation, Explikation, Ausweltung/ Diakosmesis) das Viele und Endliche, um wieder in das Eine zurückgeführt zu werden.

Die christliche Dreieinigkeit lehnt sich auch an den Dreischritt des Neuplatonikers Proklos an: Gott ist moné (ewig und fest), processus (Abfall/ apostasis, Hindurch), und anastrophé (Rückkehr, Wiederaufstieg); andere Bezeichnungen sind próodos (Aussichherausgehen) und epistrophé (Wiedereinkehr in sich selbst).

 

Gott und Mensch

 

In der Mystik wird sich der Mensch der Einheit seines Wesens mit Gott bewusst.

Schon bei Plotin schaute die 'Vernunft' die Einheit des Unterschiedenen. 'Der schauende wird eine mit dem Geschauten, jenseits der Zweiheit des Denkenden und Gedachten' (zit. nach Karl Jaspers).

Der Zen-Buddhismus hat dafür den Begriff 'Satori' (Erleuchtung). Wir wissen auch, dass Hegel sagte: 'Die Identität zwischen Denken  und Sein ist das Absolute', d. h. Gott gelangt im Menschen zum Bewusstsein seiner selbst, und der Mensch wird zum Gott durch die  Erkenntnis.

Gott offenbart sich, lebt und denkt im und durch den Menschen. 'Mysterium magnum', 'Hieros gamos', 'mysterium coniunctionis", 'unio mystica' oder 'the bliss of union' in Ekstase und Vision führen zum 'Deus factus sum'.

 

"Coincidentia oppositorum"

 

Der christliche Gott ist der gütige und schreckliche, gnädige und zürnende Gott (Hiob).

Ähnlich wie bei Heraklit, wo Gott das Ganze aus den Gegensätzen ist, das nicht mehr sagbar ist, ist die 'coincidentia oppositorum' zu verstehen. Dieser 'Zusammenfall der Entgegengesetzten' wurde von Cusanus (und später Bruno) für die Auflösung des Gegensätzlichen im Unendlichen d. i. in Gott (als complicatio) aufgestellt. Das ist keine dialektische Synthese, sondern bedeutet die Bedeutungslosigkeit der Gegensätze in Hinblick auf das Göttliche.

Jacob Böhme versuchte demgegenüber eine die Zweiheit übergreifende dynamische Einheit herzustellen. Leibniz postulierte die 'Einheit in der Mannigfaltigkeit' durch Harmonie, und Schelling folgte mit seiner Identitätsphilosophie und der 'intellektuellen Anschauung' nach.

 

Moderne Physik: Wechselwirkung, Zweiheiten

 

Heute haben wir in der exaktesten Disziplin, der Physik, die Unbestimmtheits- oder Unschärfenrelation (Heisenberg,1927), die besagt, dass jeder beobachtete Vorgang in der relativistischen Physik durch die Beobachtung schon verändert wird (weil wir 'Licht' dazu brauchen).

Dass Beobachter und Objekt in Wechselwirkung stehen, heisst nun aber nicht, dass sie eine mystische Einheit (Vereinigung mit der Realität als Intuition und Vision) wären; selbstverständlich ist der Beobachter nicht das Objekt und umgekehrt. Das Entscheidende liegt darin, dass sie voneinander abhängig sind. Resultat davon ist der Verzicht auf absolute Kausalität und die Postulierung allein von Wahrscheinlichkeiten; die neue Mechanik ist statistisch.

Ähnlich verhält es sich mit Raum und Zeit. Sicherlich wesensverschieden (wenn auch nach Kant subjektive Erfahrungsformen der sinnlichen Wirklichkeit, also Anschauungsformen ein und desselben, nämlich des 'inneren Sinnes'), werden sie in der relativistischen Physik als Vier- oder Mehrdimensionalität vereint.

 

Weiter kennt die Physik die bisher nicht in eine einheitliche Feldtheorie zu vereinigenden Bereiche von Gravitationswirkungen (Massenanziehung) und elektrischen Wechselwirkungen. Der Astrophysiker George Gamow schrieb in den "Physical Review Letters": "Die Existenz einer zeitunabhängigen [unveränderlichen] Gravitationswelt und einer zeitabhängigen elektrischen Welt kann vielleicht erklären, warum es Albert Einstein nicht gelingen konnte, eine einheitliche Feldtheorie zu entwickeln."

 

Beschreibung der Wirklichkeit: Komplementarität

 

Die komplementäre Betrachtung von Welle und Korpuskel, von Ort und Impuls eines Elementarteilchens (weiter: von Materie und Energie, ja von diesen beiden zu 'Information') ist bekannt.

"Wir können Naturvorgänge entweder raum-zeitlich beschreiben oder kausal-mechanisch begründen, aber nie beides gleichzeitig. Auf vielen Gebieten menschlicher Erkenntnis begegnen wir scheinbaren Widersprüchen, die nur unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität vermeidbar sein dürften. Dies aus der Quantenphysik entnommene Prinzip durchzieht die ganze Natur" (Niels Bohr).

"Ich denke, dass selbst auf einem begrenzten Gebiet die Beschreibung eines ganzen Systems in einem Bilde unmöglich ist. Es bestehen komplementäre Bilder, die sich nicht gleichzeitig anwenden lassen, aber die sich trotzdem nicht widersprechen, und die erst zusammen die ganze Wahrheit erschöpfen" (Max Born).

"Die gedankliche Beschreibung der Wirklichkeit kann nicht durch einen einzigen Begriff, sondern nur durch gegensätzliche und einander ergänzende Betrachtungsweisen erfolgen" (L. v. Bertalanffy: "Das biologische Weltbild",1949, 165).

"Obwohl die theoretischen Grundlagen für die praktischen Anwendungen der Kernphysik gut bekannt sind, ist man heute von einem umfassenden Verständnis des Aufbaus der Atomkerne noch weit entfernt: Man kann aber Modelle angeben, die einen Teilbereich der bekannten Phänomene recht gut wiedergeben und deren Tragweite durch Experimente ... studiert werden kann. Dabei zeigt es sich, dass stets die Kombination sich eigentlich gegenseitig ausschliessender Modellvorstellungen die beste Beschreibung der Experimente liefert ... So gegensätzlich die beiden Bilder sind, sie müssen doch miteinander zusammenhängen, denn letzten Endes sind sie ja nur verschiedene Projektionen der umfassenden Kerntheorie, die noch nicht existiert" (W. Hering in "Umschau in Wissenschaft und Technik", 1.7.1966, 417, 419).

 

Konvergenz und Einheit als Richtungspunkte

 

Was zeigen diese zusammengestückelten Beispiele?

Es ist dem Menschen verwehrt, auf irgendeinem geistigen Gebiet weiter vorzudringen als bis zu einer letzten Zweiheit, Doppeltheit alles Letzheitlichen.

Dennoch soll der Mensch nach Einheit streben - mit sich selber und dem Gegenstand (und Gott) -, wenn auch eine Erfüllung dieses Strebens unmöglich ist. Konvergenz und Einheit sind ebenso wie Wahrheit und Freiheit als absolute nur nichtbeweisbare Postulate der Vernunft, unentbehrliche, notwendige Ideen oder Vorstellung, nicht Ziele, sondern Richtungspunkte.

 

Es ereignete sich in der ganzen Geschichte der Philosophie - die ausgesprochen oder unausgesprochen Ganzheit, Einheit der Mannigfaltigkeit, das 'Eins ist Alles' will -, dass einmal das Sein oder der Geist, Gott oder der Mensch oder das Leben in den Mittelpunkt gestellt wurde, wobei alles andere entweder als täuschender Schein (Meinen, Maya), Nichtsein, Welt, Nichtkosmisches, Chaos, Leere oder schlankweg Unberücksichtigtes ausserhalb stehen musste.

Die Absolutsetzung des Einen (Poles) ist aber zerstörerisch. Man kann die Dinge nicht auf einen Punkt hintertreiben, sonst schlägt der Gedanke in sein Gegenteil um (Enantiodromie). Die einzige Lösung ist, ein dialektisches Verhältnis, eine wechselseitige Verbindung und Bewegung von zwei letzten Prinzipien gelten zu lassen, auch wenn sich diese bei einer genauen Betrachtung als innerhalb nur des einen liegend erweisen können.

 

Fühlbare Einheit - denkbare Vielheit

 

Die Welt, wie sie ist, ist eins, eine in sich unzerlegte, in sich selbst schwebende Einheit (vgl. Heideggers 'Ereignis'). Diese ist aber nie und nicht erkennbar, erreichbar oder gar umfassbar, sondern nur schaubar, glaub- und fühlbar im Zusammenhalt der Wirklichkeit, der Welt.

Der menschliche Verstand - selbst Bestandteil dieser Einheit - wirkt nun zur Zerlegung ihrer in elementare Konstruktionselemente: Das Denken spaltet die Welt auf. Will der Mensch diese Bausteine oder Prinzipien wieder zusammenfügen, so gelingt dies nicht. Rein theoretische Einheit ist nicht mehr erreichbar, auch weltanschaulich nicht, denn die Welt stimmt nicht auf rationale Weise ist nicht von Grund auf vernünftig.

"Die Welt ist im innersten Wesen poetisch, und was sie bedeutet, ist einfach sie selbst. Ihre Bedeutsamkeit besteht in dem ungeheuren Geheimnis ihres Daseins und in unserm Gewehrsein dieses Daseins" (A. Huxley: Literatur und Wissenschaft 1963).

 

Ein dynamisches Gleichgewicht energischer Ruhe

 

So bleibt das Kreuz jedes Philosophierens: Die zerstörte Ganzheit ist nicht wiederherstellbar, und ein ausformulierter Dualismus oder Pluralismus zerfällt, muss zerfallen.

Die wie auch immer geartete Ganzheit müsste endlich sein, ein 'geschlossenes System', damit wird aber die Unendlichkeit nicht in den Griff gebracht - auch nicht durch den Kunstgriff des 'offenen Systems'.

 

Fazit: Wir können nicht weiterkommen als bis zur Feststellung: Die Welt ist ohne Begrenzung, eine Unendlichkeit (Nicht-Ganzes) von (relativen) Ganzheiten, mithin widerspruchsvoll, etwa im Sinne Heraklits: "Eine notwendige Verknüpfung ist Ganzes und Nicht-Ganzes."

 

Wir können heute wohl keine Mystik mehr wiederbeleben, keine unio mystica oder complexio oppositorum mehr vollziehen, die uns die harte Gegenwart ertragen liesse. Wir können nur die Gegensätze harmonisieren, im täglichen Ringen in ein dynamisches Gleichgewicht energischer Ruhe - aber nicht Apathie (Pyrrhon, Stoa) oder Ataraxie (Demokrit, Epikur) - bringen, was besagt, dass der Kampf, besser das Alternieren der beiden Mächte nie aufhört.

 

 

Oktober 1969; aus einem Manuskript (“Stichworte zum Zweiheitsproblem”), dessen letzte fünf Seiten hier weggelassen wurden

 

 

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