Home Ganzheit - thematische Annäherungen

 

 

Inhalt

1. Forschungsergebnisse und Vorschläge zur ganzheitlichen Betrachtung

a) Gestaltwahrnehmung

b) der "ganze Mensch"

c) kulturelle und natürliche Ganzheiten

d) Subjekt-Objekt-Beziehung

 

2. Wünsche nach ganzheitlichem Vorgehen, Handeln, Gestalten

a) Sekten, Orden, Brüder, Rosenkreuzer, Freimaurer

b) Sozialtechnologie

c) Praxeologie

d) Versuch eines "naturgemässen" Lebens und Gestaltens

 

 

 

Vier Zugänge zu „Ganzheit“

 

"Ganzheit" ist ein gigantisches und uferloses, besser: unauslotbares Thema.

Es gibt vier Zugänge dazu:

1. den thematischen

2. den begrifflichen und geistesgeschichtlichen

3. das Erleben

4. Ethik.

 

Die ersten beiden kann man als eher analytisch, die andern als ganzheitlich bezeichnen. Der Mensch verfügt offenbar über zwei grundverschiedene Weisen der Annäherung an die Sachen. Überdies sind Beschwörung und Ritual, aber auch Skepsis und Verzweiflung möglich. Und wo fängt man an, wenn tausend andere bereits angefangen haben und man selber schon weite Wege zurückgelegt hat?

 

"Ganzheit" betrifft unser Leben und Sterben, Leiden und Hoffen, das Denken so gut wie das Fühlen, das Tun wie das Unterlassen. "Ganzheit" betrifft alle Lebensbereiche, was in und um uns ist, worüber wir argumentieren können und wovor wir sprachlos sind. "Ganzheit" müsste auch das Chaotische und Fragmentarische, das Unbeholfene und Missglückte, das Unsinnige und Böse umfassen.

"Ganzheit" ist nicht nur ein philosophisches und religiöses, wissenschaftliches und praktisches, ökonomisches, politisches und künstlerisches Thema, sondern auch ein soziales und existentielles.

 

Auf die Spitze getrieben: "Ganzheit" ist alles und nichts. Hegels Behauptung "Das Wahre ist das Ganze" kann auch umgedreht werden: "Das Ganze ist das Unwahre."

 

Thematische Annäherungen

 

 

Es ist ungeheuer schwierig, sich von der Fülle der Ansätze im Umkreis oder auf dem Hintergrund von "Ganzheit" ein Bild zu machen. Hilfreich wie stets ist Sammeln, Gruppieren, Ordnen. Dabei zeigen sich zwei grosse Gruppen:

 

1. Forschungsergebnisse und Vorschläge zur ganzheitlichen Betrachtung.

2. Wünsche nach ganzheitlichem Vorgehen, Handeln, Gestalten.

 

Was die Betrachtung betrifft, so lassen sich in unserem Jahrhundert vier Bereiche ausgliedern:

a) Gestaltwahrnehmung,

b) der "ganze Mensch",

c) kulturelle und natürliche Ganzheiten sowie

d) Subjekt-Objekt-Beziehung.

 

1. Forschungsergebnisse und Vorschläge zur ganzheitlichen Betrachtung.

 

1a) Gestaltwahrnehmung

 

siehe dazu: Literatur: Zur Unentbehrlichkeit der Gestaltwahrnehmung

 

1890 erschien ein unauffälliger Aufsatz von Christian von Ehrenfels: "Über Gestaltqualitäten". Er leitete eine ausserordentlich einflussreiche Bewegung in der Psychologie ein, die sich in drei "Schulen" ausdifferenzierte. Theo Hermann (1957) unterscheidet:

·        die österreichische Schule mit dem synthetischen Ganzheitsbegriff (Christian von Ehrenfels und seine Nachfolger);

·        die Berliner Schule mit dem "System"-Begriff der Gestalt (z. B. Max Wertheimer 1912, Wolfgang Köhler 1920/24); Kurt Lewin (1936) wandte das System-Modell auf sozialpsychologische Gegebenheiten an;

·        die "genetische Ganzheitspsychologie" der Leipziger Schule mit ihrem holistischen Ganzheitsbegriff (z. B. Felix Krueger ab 1900, Friedrich Sander 1928).

 

Genau definiert wurden weder "Gestalt" noch "Ganzheit". Albert Wellek fasste 1950 zusammen: Ganzheit kann nich eigentlich definiert, sondern nur aufgewiesen oder 'aufgezeigt' werden; dies aber mit unmittelbarer Einsichtigkeit nur im und am Erleben.

 

Die Gestalt- oder Ganzheitsauffassung verbreitete sich in unzählige Lebensbereiche, philosophische und wissenschaftliche Bemühungen. In einem schönen Aufsatz hat Konrad Lorenz 1959 die "Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis" beschrieben. Sie steht am Anfang und am Ende der Arbeit eines Forschers, bildet also eine Klammer für das rationale Denken. Warum? Ohne Einsicht in die Struktur "ganzheitlicher Systeme" kann man nicht zum Verständnis der Funktionen gelangen. Was uns die Erforschung der Strukturen erlaubt, ist die schlichte Wahrnehmung mit ihren Konstanzmechanismen und den Mechanismen der Gestaltwahrnehmung. Nur durch sie können wir uns im Getümmel der Welt überhaupt orientieren.

 

Die Gestaltwahrnehmung ist ähnlich der optischen Formkonstanz. Auch sie beruht "auf dem Herausgliedern einer in den Sinnesdaten obwaltenden Gesetzlichkeit". Dabei ist die klärende Mitwirkung von Lernen und Gedächtnis nötig, welche zur Ausschaltung des Akzidentiellen führt.

Der Mensch hat, nach Lorenz, ein hochentwickeltes "systematisches Taktgefühl", er kann z. B. Tierarten erkennen. Die Vorgänge verlaufen zwar kompliziert, aber mechanisch. Daher kann es zu Fehlern kommen. Manchmal ist die "Tendenz zur Gestalt" oder Prägnanz übermächtig. Ferner ist die Gestaltwahrnehmung unbelehrbar, eine Frage der individuellen Begabung, und sie geht verloren, wenn man sich auf ihre Funktion selber richtet.

 

Positiv daran ist aber, dass man mit ihr "eine unvermutete Gesetzlichkeit" entdecken kann, "wozu die rationale Abstraktionsleistung absolut unfähig ist". Zweitens kann sie "mehr Einzeldaten und mehr Beziehungen zwischen diesen in ihre Berechnung einbeziehen, als irgendeine rationale Leistung".

 

Lorenz hält die Gestaltwahrnehmung für unersetzlich, kommt man doch nur durch sie zur "Entdeckung einer einigermassen komplexen Regelmässigkeit". Nachher muss aber das ganze Arsenal höherer Erkenntnisleistungen das Entdeckte "nachweisen".

 

Gestaltwahrnehmung hat Forscher wie Einstein und Karl von Frisch zu ihren Erkenntnissen gebracht. Goethe war "der grösste aller Gestaltseher", aber er achtete die rationale Erkenntnisleistung gering. Für Lorenz sind beide gleichwertig.

 

1b) Der "ganze Mensch"

 

Daraus ergeben sich wichtige Hinweise auf den "ganzen Menschen": Zwischen Trieb und Vernunft werden auch Manager und Wissenschafter hin- und hergerissen; sie sollen sowohl Intuition wie Ratio pflegen.

Beide Mächte – wie vieles andere – machen erst den „ganzen“ Menschen aus. So banal dies klingt, es wird doch immer wieder vergessen: Was treibt denn einen Forscher ins Labor, eine Gelehrten an den Schreibtisch, einen Künstler zum Werk, einen Politiker zur Karriere? Wohl kaum die Vernunft. Und Umgekehrt: Was ist ein Buchhalter ohne Flair für Zahlen, eine Familie ohne Zuneigung, ein Theaterbesuch ohne Ergriffensein, das Leben ohne Freude?

 

Bereits Platon hat den „ganzen Menschen“ mehrmals dargestellt, man denke etwa an die Schilderung des „Wagenlenkers“, der die auseinanderstrebenden Pferde zügeln möchte, oder an die diversen  Beschreibungen im „Staat“.

Der Mensch kann als "psychophysische Ganzheit" (Fechner 1860) betrachtet werden: Leib, Seele, Verstand und Geist gehören unlöslich zusammen.

Doch was sind diese "Sachen"? Und: Hat der Mensch nur je eine davon? Sind sie einzeln sterblich? Manche sprechen von geistiger Wiedergeburt, Seelenwanderung und unsterblicher Seele, ja von der Auferstehung des Leibes (Oscar Culmann, 1962).

 

Nach den esoterischen Lehren, z. B. der Anthroposophie, verfügt der Mensch über drei Arten von Leib: einen physischen, einen Ätherleib und einen Astralleib, sowie über je drei Arten Seele und Geist; dazu gibt es Chakras als "geheime Organe".

Im "Lexikon des Geheimwissens" wimmelt es nur so von Teilen und Stufen. Jedenfalls wird die heutige akademische Psychologie dem Menschen sicher nicht gerecht, wenn sie ihn bloss als Mechanismus betrachtet, der Materie, Energie und Information verarbeitet. Da fällt nicht nur das Erleben unter den Tisch, sondern auch etwa die christliche Leib- und Seelen-Vorstellung. Sie spielen eine grosse Rolle, wenn der Mensch sich "ganz" fühlen soll.

 

Aber gehört nicht noch mehr dazu, z. B. Besitztümer und Leistungen, Familie und Freundeskreis, Positionen und Rollen, Rechte und Pflichten? Sie sind alle "mein". Was aber und wieviel brauche ich davon und wie verwende ich sie? Wo ist die Grenze des Ausmasses und wo die Grenze des "ganzen" Menschen?

 

Und Vorsicht: Manches ist auch „unser“. So „gehören“ etwa Haushalt und Besitz oft Ehepartnern oder Familien gemeinsam.

 

Was also ist der Mensch? Schon in den 20er Jahren hat Max Scheler mehrmals festgestellt, "dass in keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart".

 

Hand aufs Herz! Was wissen wir, jeder einzelne, von uns selber? Wie beurteilen wir unser Tun und Lassen, unsere „Leistungen“ und unseren Lebensweg?

„Erkenne dich selbst“, stand auf dem Apollotempel in Delphi. Es ist heute noch unsere Aufgabe.

Hinweise geben folgende Sätze:

·        „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie es die anderen treiben. Willst du die anderen verstehen, blick in dein eigenes Herz“ (Schiller).

·        „Wie kann man sich selber kennenlernen? Durch Betrachtung niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weisst gleich, was an dir ist“ (Goethe).

Beide Dichter zusammen formulierten:

·        „Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schliess an ein Ganzes dich an“!

 

Das sind unbequeme Forderungen. Vielleicht ist es überhaupt unbequem, ein „ganzer“ Mensch zu sein.

 

"Ganz" sein kann jedenfalls nicht nur von der Person her und nicht isoliert von anderen Menschen betrachtet werden. "Kein Mensch ist eine Insel", erkannte John Donne um 1600, das "Ich" entsteht "aus dem sozialen Prozess selbst", G. H. Mead in den 20er Jahren.

·        „Das Individuum erfährt sich als solches nicht unmittelbar, sondern nur indirekt. Es erfährt sich vom Standpunkt anderer Individuen, die zur gleichen sozialen Gruppe gehören, oder vom generalisierten Standpunkt der Gruppe insgesamt her, zu der es gehört“ (G. H. Mead).

 

Ja, noch mehr: Es bildet sich der ganze Mensch nur in der Auseinandersetzung mit seinen unzähligen Mit- und Umwelten. Und dies ist ein Vorgang, ein ständiger Auf- und Abbau, kein Zustand, kein Ergebnis, das Bestand hätte.

 

Demgegenüber geben die vielen seit der Jahrhundertwende [1900] entstandenen Psychotherapien eher Hilfestellung für einen Ego-Trip. C .G. Jung schrieb 1920: "Dem Polymorphismus der primitiven Triebnatur steht regulierend das Individuationsprinzip gegenüber; der Vielheit und widerspruchsvollen Zerrissenheit tritt eine kontraktive Einheit entgegen, deren Macht ebenso gross ist wie die der Triebe.“ Acht Jahre später präzisierte er: "Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden ... zum eigenen Selbst werden. Man könnte Individuation darum auch als 'Verselbstung' oder als 'Selbstverwirklichung' übersetzen."

 

Manche der heute noch beliebten Therapierichtungen wurden in den 30er Jahren entwickelt, etwa die "Psychosynthese" (Roberto Assagioli), die "Orgon"-Therapie von Wilhelm Reich (heute Bioenergetik), Morenos "Psychodrama", die Existenz- oder Daseinsanalyse (V. E. von Gebsattel, L. Binswanger) und die Psychosomatik. Letztere führte zusammen mit der Persönlichkeitstheorie von Abraham H. Maslow 1962 zur Bildung der "Humanistischen Psychologie". Aus dieser wiederum ergab sich einerseits die "Transpersonale Psychologie" (1968), anderseits - unterstützt von Stress- und Krebsforschung und aus einem Unbehagen am herkömmlichen Gesundheitswesen - die "holistic medicine" (1976).

 

Das hat andere Ansätze wie "Psychohygiene" oder "Sozial- und Präventivmedizin" in den Hintergrund gedrängt. Ob aller Therapien, Kurse und Workshops vergessen wurden auch ältere Methoden wie Erziehung (Pestalozzi, Herbart), Allgemeinbildung (von Humboldt) und Vorbild resp. die Selbsterziehung, die "Arbeit am rauhen Stein", wie die Freimaurer sagen.

 

Wie erlebe ich mich denn? Ich möchte oft mehr als ich kann. Ich kriege „das Ganze“  - mich oder die Welt – nie in den Griff. Oder: Wollen tät ich schon, aber können tu’ ich nicht (genauer: „Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht“, Röm. 7, 18).

 

Die Gesundheitsapostel und Moralisten beten es täglich herunter:

·        Du sollst möglichst verzichten auf Nikotin, Alkohol, Drogen, Medikamente, Kaffee, Naschereien und Fleisch, Zucker und Salz, auf Hektik, Ellenbögeln, Verkrampfung, häufigen Partnerwechsel und Orgien.

 

Also: Ich wüsste schon, was ich tun müsste oder unterlassen sollte, aber mir fehlt die Kraft. Kein Wunder, dass gerade in der Stressforschung das Problem der Ganzheit in den Vordergrund gerückt ist. Das Zauberwort heisst „Bewältigung“ (engl.: coping“ - siehe auch: Stress). Dazu können Reformkost, Naturheilmittel und -verfahren, Biokosmetik und Entspannungsübungen leider wenig beitragen.

Der „ganze“ Mensch müsste Lebenswillen und Konsequenz, Anpassungsfähigkeit und Gelassenheit, Beharrlichkeit und Toleranz zeigen – und üben.

„Mass und Mitte“ lautete eine alte griechische Devise.

„Ziert Bescheidenheit den Jüngling/ nicht verkenn er seinen Wert“, schrieb Franz Grillparzer 1816.

 

1c) kulturelle und natürliche Ganzheiten

 

Mit Bezug auf Karl Jaspers "Psychologie der Weltanschauungen" (1919) versucht die Vorgeschichtsforscherin Marie E. P. König nachzuweisen, dass schon der Mensch der Eiszeit nach einer "universalen Weltsicht" strebte. Ursymbol war die Kugel (seit ca. 300'000 Jahren). Der Neandertaler entwickelte die Idee der Dreiheit und das Linienkreuz, das die Welt in vier Bereiche oder Richtungen aufteilte. Dass die alten Mythen "ganzheitlich" sind, behauptet der Theologieprofessor Ulrich Mann in seiner Darstellung der "Schöpfungsmythen" (1982). Eine interessante Rekonstruktion der „matriarchalen Religiosität" der Vorzeit aus feministischer Sicht bot 1980 Heide Göttner-Abendroth ("Die Göttin und ihr Heros").

 

Die ersten Hochkulturen (ab 3000 v. Chr.) waren durch staunenswerte technische und künstlerische Leistungen gekennzeichnet, durch ebensolche Verwaltung und Beamtenschaft sowie durch vielfältige Ausformung der Mythen über Entstehung und Ordnung der Welt (Kosmogenien und Kosmologien), Ordnungs- und Erziehungsprinzipien.

Sowohl Ganzheits- und Einheitsvorstellungen, polare Prinzipien und Zweiheiten wie Pluralismus finden sich bei ihnen. Abgrenzungen von Wirtschaft, Politik, Militär, Wissenschaft, Kunst, usw. im heutigen Sinne waren ihnen jedoch fremd.

 

Das zeigt sich auch im klassischen Griechenland, wo nach der "Politik" des Aristoteles der Staat (polis) als vornehmste von allen Gemeinschaften alle andern in sich schliesst, insbesondere das "Haus" (oikos) als Familien-, Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft (von Mann, Weib, Kindern, Sklaven und Tieren sowie Werkzeugen und Wissen oder Können). Das ist der Hintergrund für die Sätze: "Von Natur ursprünglicher ist der Staat als das Haus und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Teil." Die Teile selber sind aber auch Ganze. Die Idee des "ganzen Hauses" bestimmte das Abendland bis in den Barock, als sie durch diejenige des "Marktes" abgelöst wurde.

 

Die heutige Aufteilung in Kulturbereiche (wie auch Entwicklungsstufen) wurde in der Aufklärung vorbereitet und in den "universalgeschichtlichen" Bemühungen des Historismus fortgesetzt. Den Hauptteil seiner "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (1869) widmete Jacob Burckhardt den "drei Potenzen" Staat, Religion und Kultur in ihrem gegenseitigen Verhältnis.

Schon etwas vorher hatte Auguste Comte die wichtigsten Wissenschaften auseinanderdividiert und in eine Hierarchie gestellt. Herbert Spencer (1864) folgte ihm. Seither häufen sich die Teilungsversuche der "Kultur" und der entsprechenden Einzelwissenschaften.

Wilhelm Dilthey sprach bereits von "Kultur-Systemen", die in einem Wirkungszusammenhang stehen. Als Systeme der Kultur fasste er 1883: Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Wirtschaft, Sittlichkeit und Sitte, Sprache, Erziehung; zur "äusseren Organisation der Gesellschaft" gehören: Staat, Verbände (darunter Familien- und Gemeindeverband), Kirchen, Körperschaften und Anstalten.

 

Wie steht es mit der "Ganzheit" der Kultur oder ihrer Teilbereiche? Ist die Kultur "eine" oder gab und gibt es verschiedene Kulturkreise (Arnold Toynbee unterschied beispielsweise 22)? Und wenn sie ein "Ganzes" ist, welcher Art ist dieses: ein "organisches Ganzes" (von der Romantik bis zu Vere Gordon Childe), gar ein "Superorganic" (A. L. Kroeber 1917) oder ein System mit Subsystemen.

 

Die Unklarheiten und Verwirrungen sind unauflösbar. Das beginnt schon bei den Begriffen. Edward B. Tylor schrieb 1871:

·        "Cultur oder Zivilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat."

So in der Übersetzung von 1873. Daraus macht das Fischer-Lexikon "Soziologie" (1967, 162):

·        "Kultur ist jenes komplexe Ganze, das Kenntnisse, Glaubensvorstellungen, Künste, Sitte, Recht, Gewohnheiten und jede andere Art von Fähigkeiten und Dauerbetätigungen  umfasst, die der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erwirbt."

 

Emile Durkheim gebrauchte das Wort "Gesellschaft", wo andere das Wort "Kultur" verwenden würden.

 

Ein besonders ausgeklügeltes System hat der Soziologe Talcott Parsons ausgearbeitet und von 1950-80 laufend umgebaut. In der letzten Version bildet die

"gesellschaftliche Gemeinschaft" (das Normensystem) den Kern für

Wertsysteme,

politisches Gemeinwesen und

Wirtschaft.

Diese vier Subsysteme bilden ein "soziales System" (z. B. eine Gesellschaft), das eine Umwelt aus drei Bestandteilen hat, nämlich: kulturelle Systeme, Persönlichkeitssysteme und Verhaltensorganismen.

Die Gesellschaft mit ihren drei Umwelten bildet das "Handlungssystem", das nun noch zwei "Realitätssysteme" als Umwelt hat, die "physische Umwelt" und die "letzte Realität", d. h. das Sinnproblem für menschliches Handeln.

 

Das ist viel komplizierter als es uns heute z. B. Frederic Vester oder Fritjof Capra weismachen. Die Subsysteme sind nämlich nicht "vernetzt", sondern - da sie durch Abstraktion definiert resp. bloss analytisch voneinander getrennt worden sind - sie durchdringen einander "in Wirklichkeit". Manche Objekte und Erscheinungen oder weitere Systeme (z. B. Verwandtschafts- oder Rechtssysteme) gehören zwei oder drei der erwähnten Subsysteme oder Bestandteile an. Überdies besteht jedes derselben aus anderen Komponenten.

Das ist ein Grund, weshalb mit Kybernetik so wenig auszurichten ist. Regelkreis-Modelle sind zu einfach gegenüber den realen Verhältnissen und Austauschprozessen, Mehrfachzugehörigkeit und Wandel der Komponenten.

 

Das Hauptproblem der seit den 50er Jahren gepflegten Systembetrachtung liegt darin, dass wir für real halten, was bloss abstrakte Konstruktionen in unserem Kopf sind. Organismen wie Menschen, Tiere und Pflanzen, Apparate, Maschinen und Bauten können wir sehen. Aber wer hat schon den Staat oder das Recht, "die" Kirche oder Schule, die Wirtschaft oder ein Unternehmen (z. B. als "produktives soziales System", Hans Ulrich 1968) "gesehen" - oder "erfasst"?

 

Seit Goethes Gestaltschau sind wir immer kopflastiger geworden, sodass wir mit Begriffen und Behauptungen fast beliebig um uns werfen können.

 

Vermutlich sind soziale und kulturelle Systeme (oder Institutionen) sowenig Ganzheiten wie der "ganze Mensch". Was als Ganzheit "fassbar" wäre, z. B. das Territorium, eine Bibliothek voller Gesetze, Verordnungen, Urteile und Entscheide, eine Kathedrale, ein Schulhaus, eine Fabrik oder der menschliche Körper, ist weder der wichtigste noch der wesentlichste Teil oder Aspekt dessen, was wir gerne jeweils als Ganzes sähen.

 

So wie der Mensch nach allen Seiten offen ist - nach Goethes Diktum ein "individuum ineffabile" -, so sind auch die sozialen und kulturellen Systeme offen und unauslotbar - und desgleichen wohl auch der Kosmos, die Natur, die Schöpfung.

 

1d) Subjekt-Objekt-Beziehung

 

Fast zur gleichen Zeit erschienen in den 50er Jahren zwei kleine Schriften: Karl Jaspers "Einführung in die Philosophie" (1953) und Werner Heisenbergs "Das Naturbild der heutigen Physik" (1955). Sie haben das Denken von vielen Menschen geprägt.

 

Jaspers führte die Subjekt-Objekt-Spaltung als "Grundbefund unseres Denkens" ein, dazu eine zweite Spaltung:

·        "Jeder Gegenstand, als bestimmter steht, wenn klar gedacht, immer in bezug auf andere Gegenstände." In diesen Spaltungen kommt das "Umgreifende" zur Erscheinung.

·        "Jedes Gedachtsein bedeutet Herausgefallensein aus dem Umgreifenden. Es ist ein je Besonderes, das gegenübersteht sowohl dem Ich wie den anderen Gegenständen."

·        Philosophierend können wir uns dem Umgreifenden nur indirekt nähern, in der "Mystik" aber vermag der Mensch "die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überschreiten zu einem völligen Einswerden von Subjekt und Objekt, unter Verschwinden aller Gegenständlichkeit und unter Erlöschen des Ich. Da öffnet sich das eigentliche Sein und hinterlässt beim Erwachen ein Bewusstsein tiefster, unausschöpfbarer Bedeutung."

 

Heisenberg geht historisch vor. Als im Barock die neuzeitliche Wissenschaft entstand, sah sich der Forscher noch Gottes Schöpfung gegenüber. Je mehr er sich aber mit Hilfe technischer Geräte in die Einzelheiten der Naturvorgänge vertiefte, desto mehr betrachtete er die Natur als unabhängig von Gott, aber auch vom Menschen. Das Ideal einer "objektiven" Naturerklärung entstand. Immer mehr gelang es aber auch, "die Kräfte der Natur in der Technik unseren Zwecken dienstbar zu machen".

Das veränderte unsere Umwelt wie unsere Forschungswelt so sehr, "dass zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selber gegenübersteht". Nicht mehr wilde Tiere und Naturgewalten bedrohen uns, sondern andere Menschen. Unser Alltag und unsere Landschaften sind voll von "vom Menschen hervorgerufene Strukturen".

 

Seit der Quantentheorie schliesslich

·        "stehen wir von Anfang an in der Mitte der Auseinandersetzung zwischen Natur und Mensch, von der die Naturwissenschaft ja nur ein Teil ist, so dass die landläufigen Einteilungen der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Aussenwelt, Körper und Seele nicht mehr passen wollen und zu Schwierigkeiten führen. Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.“

Das heisst, Gott blieb weiterhin ausgesondert, aber der Mensch tritt wieder in die Naturwissenschaft ein, und zwar so, wie es populär heisst, dass der Beobachter das zu Beobachtende bestimmt resp. durch die Beobachtung verändert.

 

Das ist freilich ungenau. Heisenberg schrieb 1930, in der Atomphysik müssten der Begriff der raum-zeitlichen Koinzidenz und der Begriff "Beobachtung" gründlich revidiert werden. "Insbesondere muss bei der Diskussion irgendwelcher Experimente die Wechselwirkung zwischen Objekt und Beobachter berücksichtigt werden, die mit jeder Beobachtung zwangsläufig verbunden ist“ (in Sambursky, 675f).

 

Morris Berman behauptet in "The Reenchantment of the World" (1981; dt. 1983), Heisenberg "sagt in Wirklichkeit, dass das Bewusstsein Teil des Messens ist und dass deshalb die Realität ... ihrem Wesen nach verschwommen oder unbestimmt ist“ (155). Heisenberg jedoch sagte 1955:

·        "Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt, nicht in den Nebel irgendeiner neuen, unklaren oder noch unverstandenen Wirklichkeitsvorstellung, sondern in die durchsichtige Klarheit einer Mathematik, die nicht mehr das Verhalten des Elementarteilchens, sondern unsere Kenntnis dieses Verhaltens darstellt" (12).

Oder: Die Quantentheorie "führt nicht den Geist oder das Bewusstsein des Physikers als einen Teil des Atomvorgangs ein" (in Sambursky, 686).

 

Was die Natur als "Ganzes" betrifft, hat sich Heisenberg widersprüchlich geäussert. 1955 meinte er, dass sich „in der Naturwissenschaft jede Einzelfrage der grossen Aufgabe unterordnet, die Natur im Ganzen zu verstehen" (14). Die Bearbeitung von Einzelfragen bilde "die Voraussetzung zum Verständnis des grossen Zusammenhanges" (19). Wenig später (in "Physik und Philosophie") meinte er jedoch, "dass wir uns in der Naturwissenschaft nicht für das Universum als Ganzes, das uns selbst einschliesst, interessieren“ (in Sambursky, 684).

 

In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung 1965 brachte der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas die Verknüpfung von "Erkenntnis und Interesse" zur Darstellung. Er meinte, "dass sich die erfahrungswissenschaftlichen Tatsachen als solche durch eine vorgängige Organisation unserer Erfahrung im Funktionskreis instrumentalen Handelns erst konstituieren" (156). Auch in den historischen Wissenschaften "konstituieren sich die Tatsachen erst im Verhältnis zu den Standards ihrer Feststellung". Es gibt also in aller Wissenschaft - wie auch im Alltag - "erkenntnisleitende Interessen", welche der forschenden Tätigkeit zugrunde liegen. "Wenn Erkenntnis je ihr eingeborenes Interesse überlisten könnte, dann in dieser Einsicht, dass die Vermittlung von Subjekt und Objekt ... anfänglich durch Interessen hergestellt ist."

 

Goethe, auf den wir beim Thema Ganzheit ständig stossen, hat das so formuliert:

"Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr."

"Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt."

"Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist."

 

 

2. Wünsche nach ganzheitlichem Vorgehen, Handeln, Gestalten

 

Weit weniger deutlich wird, was ganzheitliches Handeln bedeutet. Ganzheitliches Denken müsste ja zu etwas gut sein, nicht nur zum ganzheitlichen Verstehen der Welt und des Menschen in kosmischer oder narzisstischer Nabelschau, sondern beispielsweise zum ganzheitlichen Planen, Organisieren und Verwalten, Konstruieren und Gestalten.

 

Wiederum ergibt sich kein ganzheitliches Bild. Es sind vier Ansätze festzustellen:

a) Bildung von Sekten und Vereinigungen

b) Sozialtechnologie

c) Praxeologie

d) Versuch eines "naturgemässen" Lebens und Gestaltens.

 

2a) Sekten, Orden, Brüder, Rosenkreuzer, Freimaurer

 

Schon immer hatten sich religiöse Gemeinschaften von der "herrschenden" Kirche losgesagt, weil sie andere Auffassungen vertraten und auch danach leben wollten.

 

Es gibt jüdische, christliche und islamische "Sekten". So führten z. B. die um 950 auf dem Balkan hervorgetretenen Bogumilen dualistisch-gnostische Ideen weiter, ähnlich die Katharer (die "Reinen") und Albigenser in der Provence und in Oberitalien. 1176 verteilte ein reicher Lyoner Kaufmann, Peter Waldes, sein Geld unter die Armen und wurde Wanderprediger. Alle diese Gruppen breiteten sich rasch aus und wurden ab 1200 von "der" Kirche heftig bekämpft. Man schätzt, dass seither eine Million Albigenser umgebracht wurden.

Von den damals gegründeten Bettelorden - Franziskaner, Clarissen und Dominikaner - wurde letzterer zum Orden der Inquisition. Auch gegen Juden und Hexen wurden rasch härtere Massnahmen ergriffen. Die Folter wurde 1252/65 legitimiert.

 

Die geistlichen Ritterorden – Johanniter (um 1100) und Templer (1119), Deutsche Ritter (1190/98) und Trinitarier (1198) sowie spanische und portugiesische Orden - waren trotz anfänglich karitativen Aufgaben eher kriegerisch ausgerichtet. Die Templer kontrollierten das ganze Geld- und Bankwesen in Frankreich und England, wurden aber wegen Häresie bald nach 1300 verhaftet und hingerichtet.

Spätere weltliche Ritterorden übernahmen das Ideal der "summa perfectio", des Strebens nach höchster Vollkommenheit der ritterlichen Tugenden, z. B. der englische Hosenbandorden (1348) und der burgundische Orden vom Goldenen Vlies (1429).

 

Seit 1350 entstanden erneut Reformbewegungen in der Kirche, z. B. die "Gottesfreunde" und die "Bruderschaft vom gemeinsamen Leben" unter mystischem Einfluss, eher ausserhalb der Kirche die Lollarden (John Wiclif) in England, die Hussiten in Böhmen und später (1467) in der Tradition von Wiclif und den Waldensern die "Unität der böhmisch-mährischen Brüder".

Nach der Reformation (1517) bildeten sich immer wieder neue Glaubensgemeinschaften, z. B. Pazifisten unter Menno Simons (1539) und Sozinianer (Unitarier 1579).

 

Von einigem Einfluss auf die Wissenschaftsgeschichte waren die geheimnisumwitterten Rosenkreuzer. Michael W. Fischer hat 1982 darüber berichtet. Die Rosenkreuzer kann man als Verfechter der spirituellen (nicht praktischen) Alchemie fassen. In den beiden Traktaten von J. V. Andreae, "Fama Fraternitatis" (1614) und "Confessio Fraternitatis" (1615), wird eine Generalreformation der Welt durch die Errungenschaften der modernen Wissenschaft angekündigt. Es geht um die Heilung der Welt von ihren Schäden, um Erkenntnis für den Menschen, um eine sozial engagierte Wissenschaft. Andreae wollte auch eine gelehrte Akademie gründen; seine "Christianapolis" (1619) stellt eine mystisch-hermetische Gelehrtenrepublik dar.

 

Diese Utopie hatte Einfluss auf Francis Bacons "New Atlantis" (nach 1626). Bacon selber hatte schon 1605 die Gründung einer "Bruderschaft der Erkenntnis und der Erleuchtung" gefordert.

Ebenfalls von Andreae beeinflusst war der Pädagoge Jan Amos Comenius (Mitglied der böhmisch-mährischen Brüdergemeinde), der "pansophische" Vereinigungen gründen wollte.

 

Comenius hatte um 1641 in England Kontakte zu Freimaurer-Kreisen, welche bald darauf massgeblich die Gründung der "Royal Society", der ersten grossen wissenschaftlichen Organisation vorantrieben. Die 1717 offiziell ans Licht getretene Freimaurerei bildete eine "indirekte Gewalt" im absolutistischen Staate (vgl. auch Reinhart Koselleck: "Kritik und Krise" 1959). Sie waren an der "Encyclopédie" und der Propagierung der Menschenrechte beteiligt. Condorcet (1787) und Theodor von Hippel (1792), ein enger Freund Kants, forderten als erste das Frauenstimmrecht.

Die meisten "Klassiker" (z. B. Lessing, Goethe, Herder, Fichte) und "Romantiker" waren Freimaurer, aber auch Mesmer (Magnetismus), Hahnemann (Homöopathie), Hufeland (Makrobiotik) und die ersten Deuter des Tarot (seit 1770), ja sogar der Anwalt des "dritten Standes", Abbé Sieyes, der Erfinder der Produktiv-Genossenschaften oder "sozialen Werkstätten" Louis Blanc und die Sozialisten Pierre Leroux („De l’humanité“, 1840) und Pierre Joseph  Proudhon ("Eigentum ist Diebstahl" 1841).

 

Die politischen Richtungen Liberalismus und Konservatismus kann man auf Splittergruppen der Freimaurerei zurückführen: ersteren auf die radikal-aufklärerischen Illuminaten (1776-87), letzteren auf die irrational-schwärmerischen Gold- und Rosenkreuzer (1757-86).

 

2b) Sozialtechnologie

 

siehe auch : Sozialtechnologie

 

Auffällig ist das Vordringen von Reformbewegungen aller Art nach der Französischen Revolution. Ein Verbesserungsdrang in ganz verschiedene Richtungen brach sich Bahn, z. B.

·        Vereinfachung der Kleidung bis zur Nacktheit im "Costume a la gréc" (Eduard Fuchs, Bd. 5, 143ff).

·        Peace Societies in Massachusetts (1815) und England (1816)

·        Sozialutopien (Abbé Sièyes, St. Simon, Owen, Fourier, Blanc; Pierre Leroux, Pierre Joseph Proudhon, Etienne Cabet)

·        Frauenbewegung (Olympe de Gouges, 1791; Mary Wollstonecraft, 1792; William Goodwin, 1793; Hannah Mather Crocker 1818; William Thompson, Anna Wheeler 1825)

·        Dekrete zum Umwelt-, Tier- und Landschaftsschutz (Napoleon; England)

·        Umweltbewusstsein ( G. Chr. Lichtenberg, Ernst Moritz Arndt 1802; Karl Friedrich Christian Krause; Alexis de Tocqueville, um 1840; Georg Friedrich Daumer, 1847)

·        Antialkoholismus (ab 1784), Vegetarismus (1809), Naturheilen (Wassertherapie von Priessnitz 1814, Naturheilanstalten 1820)

·        Makrobiotik (Christoph Wilhelm Hufeland, 1796) und Homöopathie ( Samuel Hahnemann , 1796)

·        Erziehungsreform (Pestalozzi, Herbart, Fröbel, Turnvater Jahn)

·        Empirische Sozialforschung ( David Davies, 1795; Frederick Morton, 1797; Royal Commissions, 1825)

·        Philanthropie (Basedow, 1768; Campe 1770/85ff).

 

Von weitreichender Bedeutung waren der Utilitarismus (Jeremy Bentham, Vater und Sohn Mill), die Sozialutopisten und der Positivismus. Condorcet  (1793), Sismondi und Saint-Simon forderten bereits, was wir heute Sozialtechnik nennen.

 

Der Begründer des Positivismus, Auguste Comte, sah 1830 eine "Soziokratie" unter Führung der Soziologie. Diese neue Wissenschaft sollte nicht nur dem Erkenntnisstreben, sondern auch dem rationalen Planen und Handeln dienen: "voir pour savoir, savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir". Es ging ihm um eine vernünftige Staatslenkung, für die Ampère 1843 den Begriff "cybernétique" einführte. Gegenüber der sozialistischen, genossenschaftlichen und andern reformerischen Bewegungen war das freilich eine Lenkung "von oben", von einer "Elite" her.

 

Einer der Begründer der amerikanischen Soziologie, Lester F. Ward, forderte seit 1883, dass der soziale Fortschritt durch angewandte Wissenschaft, gesellschaftliche Planung, Reformen und staatliche Eingriffe bewusst vorangetrieben werde.

Der an Pestalozzi anknüpfende Neukantianer Paul Natorp hat in seiner vielfach aufgelegten "Sozialpädagogik" (1899) den Begriff "soziale Technik" als Bildung und Erziehung des Menschen in der Gemeinschaft eingeführt.

In den philosophischen Wörterbüchern von Rudolf Eisler (1922 und 1930) lautet die Definition: "Die soziale Technik sucht das Gemeinschaftsleben im Sinne sozial-humaner und kultureller Bedürfnisse und Ideen zu regeln.“

 

Seither gab es zahlreiche Bemühungen um eine gute Gestaltung der Gesellschaft, z. B. das "technocratic movement" von Thorstein B. Veblen (seit 1918) und der "Brain Trust" von F. D. Roosevelt (1932), die Efficiency-Bewegung, Psychotechnik und "soziale Betriebsführung" oder der Pragmatismus und die "sozialpädagogische Bewegung" (Herman Nohl).

 

Der Soziologe Karl Mannheim sah 1934 "die letzte Wurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter des Umbaus" in Spannungen, "die aus dem unbewältigten Nebeneinanderwirken des 'laisser-faire'-Prinzips und des neuen Prinzips der Regulierung entstehen".

Er forderte Planung, die er wie folgt definierte:

"Planung bedeutet ein bewusstes Eingreifen an den Fehlerquellen des Gesellschaftsapparates auf Grund der Kenntnis des gesamten Sozialmechanismus und des lebendigen Gefüges, keine Kur an Symptomen, sondern ein Zugriff an den richtigen Umschaltstellen mit dem klaren Wissen um die Fernwirkungen."

 

Im Zweiten Weltkrieg meinte er: "Die Sozialtechniken haben für die Gesellschaft eine vielleicht noch grundlegendere Bedeutung als deren wirtschaftliche Struktur oder die soziale Schichtung innerhalb einer gegebenen Ordnung.“ Er entwarf die Vision einer "Planung für Freiheit" als "Planung einer Gesellschaft um eines freien schöpferischen Lebens willen".

 

Systemdenken und Kybernetik, Operations Research und Zukunftsforschung verursachten bald eine allgemeine Euphorie. Schon 1963 aber kritisierte Jürgen Habermas den Ansatz der Sozialtechnologen. Er beruhe "auf der fragwürdigen These, dass die Menschen im Masse der Verwendung von Sozialtechniken ihre Geschicke rational lenken, ja diese, im Masse der kybernetischen Steuerung noch des Einsatzes dieser Techniken, rational lenken lassen können“. Dem stellte Habermas "kommunikatives Handeln und Diskurs" gegenüber, was dann auch der OECD-Bericht "Technical Change and Economic Policy" (1980; dt. 1981) forderte:

Der Bürger muss an den Entscheidungsvorgängen, die ihn betreffen, beteiligt werden.

 

Betont ganzheitliche Ansätze boten eigentlich nur die aus der Gruppendynamik von Kurt Lewin herausgewachsene "Organisationsentwicklung" (z. B. Tavistock Institute, London; NTL, USA; NPI, NL) und die wissenschaftliche Politikberatung (seit Harold Lasswell: "The Policy Sciences" 1951; Gerhard Weisser 1951/56). Sie haben sich nie richtig durchgesetzt.

Schmählich gescheitert sind auch die "Gesamtkonzeptionen" der 70er Jahre, z. B. für das Bildungssystem der BRD (1971) oder in der Schweiz GVK (1977), GEK (1978) und Totalrevision der Bundesverfassung (1978).

 

Zur selben Zeit erschien der Bericht über das interdisziplinäre Nationalfondsprojekt „Neue Analysen Wachstum-Umwelt“ (NAWU) unter dem Titel „Wege aus der Wohlstandsfalle. Er verpuffte beinahe so wirkungslos wie später der Bericht, den der amerikanische Präsident ausarbeiten liess: „Global 2000“ (1980).

 

2c) Praxeologie

 

Bemüht sich Sozialtechnologie eher um die Lenkung von Staat resp. Politik, Wirtschaft resp. Unternehmen auf Grund "höherer Einsicht" und rationaler Planung, so die Praxeologie um das rechte Handeln des Einzelnen oder von Gruppen. Es gibt aber breite Übergänge. Das fängt schon bei Comte an (Schoeck, 159). Da alle gesellschaftlichen Erscheinungen zusammenhängen, ist eine interdisziplinäre Annäherung vonnöten. "Denn durch die Natur des Gegenstandes sind bei den sozialen Studien ... die verschiedenen allgemeinen Seiten mit Notwendigkeit untereinander solidarisch und vernünftigerweise untrennbar, so dass sie nur durcheinander richtig erklärt werden können." Die wirtschaftliche oder industrielle Analyse der Gesellschaft kann nicht positiv vollzogen werden, "wenn man von ihrer intellektuellen, moralischen und politischen Untersuchung absehen wollte".

 

Einer analogen Interdisziplinarität befleissigten sich damals auch Untersuchungen, die wir heute als "Ökologie" bezeichnen (z. B. Cuvier und Lamarck, A. von Humboldt und Ritter). Carl Ritter forderte schon 1818 eine ganzheitliche Betrachtung. Die Forderung nach Interdisziplinarität tauchte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf. Die Realisierung war stets schwierig.

 

Ein anderer Ansatz kann sich auf Goethes Mahnung berufen:

"Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch tun."

Das führte schon vor der Jahrhundertwende zur sog. "Praxeologie" (L. Bourdeau 1882; A. Espinas 1897). Die späteren Klassiker stammen aus dem Ostblock, z. B.

·        Aleksandr Bogdanow ("Allgemeine Organisationslehre; Tektologie", 1926; russ. 1922)

·        Evgenij G. Slutsky ("Ein Beitrag zur formal-praxeologischen Grundlegung der Ökonomik", 1926)

·        Eugeniusz Geblewicz ("An Analysis of the Concept of Goal", poln. 1932),

·        Tadeusz Kotarbinski (z. B. "Traktat über die gute Arbeit", poln. 1955; engl.: "Praxiology. An Introduction to the sciences of efficient action", 1965)

·        Tadeusz Pszczolowski ("Les principes de l'action efficace", poln. 1961).

 

Zur formalen Praxeologie zählen die Schriften des Ökonomen Ludwig von Mises ("Human Action", 1949) und des Logikers Léon Apostel ("The Formal Structure of Action", 1957).

 

1958 entstand an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau das "Forschungszentrum für allgemeine Probleme der Arbeitsorganisation", das zunächst von Kotarbinski selbst geleitet wurde. Am 14. Internationalen Kongress für Philosophie 1968 wurden erstmals Beiträge zur Praxeologie im Kolloquium "Kybernetik und Philosophie der Technik" vorgetragen. In den 70er Jahren nahmen in der BRD der Pädagoge Josef Derbolav und der Betriebswirtschafter Erwin Grochla diesen Ansatz auf.

 

Mitunter schwer davon zu unterscheiden sind die Aktions-, Tat- und Handlungstheorien. Dabei gab es mannigfache Modethemen wie

·        Philosophie der Aktion (M. Blondel 1893; G. Cesca 1907; anders G. Sorel 1908)

·        Philosophie der Tat (Moses Hess 1843; H. Delff 1872, J. Reinke, 1899, Th. Lessing 1909)

·        Philosophie des Handelns (W. Grebe: „Der tätige Mensch“, 1937; G. H. Mead: „Philosophy of the Act“, 1938)

·        Theorie des Kampfes (L. Gumplowicz 1883, E. Lasker 1907, F. Oppenheimer 1908)

·        "soziales Handeln" (E. Durkheim 1895, F. Gottl-Ottilienfeld 1900, G. Radbruch 1903, Max Weber, 1920, A. Schütz 1932, T. Parsons 1937 und 1951)

·        Theorie der Interaktion (M. A. Vaccaro 1886; W. I. Thomas, G. H. Mead)

·        soziales resp. kollektives "Verhalten" (W. I. Thomas 1951, C. G. Homans 1961; N. Smelser 1962).

 

Handlungstheorie war ein Modewort der 70er Jahre. Von 1978-84 erschienen 6 Bände "Handlungstheorien - interdisziplinär". Davon wiederum zu trennen ist die Handlungsforschung (für engl. "action research"), die auf Margaret Mead (1941) und Kurt Lewin (1946) zurückgeht und eine Einmischung des Beobachters in das soziale Geschehen, das er beobachten möchte, bedeutet. George Herbert Mead schliesslich gilt nicht nur als Begründer eines systematischen Pragmatismus, sondern auch des "symbolischen Interaktionismus".

 

Also: Viele Theorien über Praxis, aber wenig Praxis selber.

 

Echte ganzheitliche Ansätze boten seit den 50er Jahren eigentlich nur die Entscheidungstheorie und die Forderung nach Allgemeinbildung oder Education permanente. Davon zeugt noch die Suche nach dem „Generalisten“.

 

Dass die Anforderungen des "synoptischen Vorgehens", welche die Entscheidungstheorie verlangt, jedoch die Fähigkeiten des Menschen übersteigen, hat der Politologe Charles E. Lindblom schon 1963 einleuchtend dargestellt. Auch Jay W. Forrester, der Erfinder des Systems Dynamics und Vater der "Grenzen des Wachstums", kam zu ähnlichen Ergebnissen: Betrachtet man komplexe Systeme, so zeigen sie ein "counterintuitive behavior" (1969/71).

Es bleibt also nur Stückwerktechnik - von Karl R. Popper 1944 "piecemeal engineering" genannt - oder Weiterwursteln (Charles E. Lindblom: "The Science of Muddling-through", 1959) übrig.

 

Böte demgegenüber das Beobachten und Hinhorchen auf die Natur eine bessere Chance?

 

2d) Versuch eines "naturgemässen" Lebens und Gestaltens

siehe:  Ganz bestimmt? Biologische und prähistorische Annäherungen an das ganzheitliche Denken

 

(Zusammengestellt im Winter 1988/89)

 



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